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MELDUNG/004: Pakistan - Tausende in Belutschistan vermisst, Einwohner sprechen von "Säuberungen" (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 24. Juni 2011

Pakistan: Tausende in Belutschistan vermisst - Einwohner sprechen von "Säuberungen"

Von Zofeen Ebrahim


Karatschi, 24. Juni (IPS) - "Wir hassen Pakistan und wollen frei sein." Rukhsana Langhos Stimme bebt vor Wut. Der Bruder der 25-jährigen Frau aus der südwestpakistanischen Provinz Belutschistan wurde vor etwa anderthalb Jahren in Karatschi verschleppt - allem Anschein nach von Agenten des Geheimdienstes.

"Seine Frau und die Tochter waren Zeugen, als er mit verbundenen Augen in ein Auto gestoßen wurde", berichtet Langho, die in Quetta 700 Kilometer nördlich der Hafenstadt Karatschi lebt. Von Mir Ghaffar Langho fehlt seit Mitte Dezember 2009 jede Spur.

Langho, der zum Zeitpunkt seines Verschwindens 35 Jahre alt war, ist kein Einzelfall. Während der vergangenen zehn Jahre wurden in der Provinz, die an den Iran und Afghanistan grenzt, insgesamt 14.000 Männer verschleppt.

Die meisten dürften ermordet worden sein. Allein in den letzten zehn Monaten wurden 160 Leichen mit deutlichen Folterspuren entdeckt. Bei den Opfern handelte es sich um Studenten, Lehrer, Menschenrechtsaktivisten, Künstler und einfache Arbeiter. In ihren Schädel klafften Löcher, die Augen fehlten und Gliedmaßen waren gebrochen. Manche Körper waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.


Am helllichten Tag entführt

Diese Männer seien in jüngster Zeit Opfer der "ethnischen Säuberungen" der pakistanischen Regierung geworden, sagt der Journalist Malik Siraj Akbar, dessen Online-Zeitung 'The Baloch Hal' im vergangenen November von den Behörden blockiert wurde. Das Vorgehen sei immer dasselbe: 20- bis 40-Jährige würden am helllichten Tag von bewaffneten Geheimdienstmitarbeitern in Uniform und in Zivil auf öffentlichen Plätzen aufgegriffen und abgeführt.

"In letzter Zeit sind an den Leichen Zettel befestigt, auf denen etwa steht 'Das war ein indischer Spion'", erklärt Akbar. Das pakistanische Militär weist bisher alle Anschuldigungen zurück. Verantwortlich seien Mitglieder militanter Gruppen, die sich als Angehörige des pakistanischen Grenzkorps (FC) ausgäben, heißt es. Der Regierungschef von Belutschistan, Aslam Raisani, bezichtigte im letzten November in einem Interview mit der britischen BBC dagegen den pakistanischen Geheimdienst der Verbrechen. Dessen Agenten steckten "definitiv" dahinter, sagte er.

Das an Bodenschätzen reiche Belutschistan ist die größte der vier Provinzen Pakistans und nimmt mehr als 40 Prozent des Staatsgebiets ein. Belutschistan war ein unabhängiger Staat, bis sich 1947 Pakistan die östliche und der Iran die westliche Hälfte einverleibten. Die Einwohner des pakistanischen Teils führen inzwischen einen bewaffneten Kampf um die Unabhängigkeit. Die Aktionen verlaufen allerdings weitgehend unkoordiniert. Unter die Rebellen haben sich auch kriminelle Elemente gemischt, so dass die Gesamtlage chaotisch ist.

Die ersten Fälle von Verschwindenlassen ereigneten sich 2001. Damals war der pakistanische Staatschef Pervez Musharraf an der Macht. Laut Akbar wurden die Vorfälle allerdings erst drei bis vier Jahre bekannt, als Mütter, Schwestern und Ehefrauen der Opfer in der Öffentlichkeit protestierten.

Rukhsana Langho kommt jeden Tag zum Presseclub in Quetta, um an einer Demonstration teilzunehmen. Organisiert wird der Protest seit fast einem Jahr von der unabhängigen Menschenrechtsgruppe 'Stimme der in Belutschistan Vermissten'. Der Sohn des Vize-Vorsitzenden Qadeer Baloch war im Februar 2009 verschleppt worden. Zeugen hätten beobachtet, dass Jaleel Reki von Uniformierten des Grenzkorps und Männern in Zivil mitgenommen wurde, berichtet der Vater.

"Mein Sohn war politisch interessiert und kämpfte für die Rechte des Volks von Belutschistan", sagt Qadeer, der nach eigenen Angaben wegen seiner Kampagne Drohungen erhielt. "Ich habe hier noch nie so viel Hass gegen Pakistan erlebt wie im Moment. Wenn nicht bald etwas geschieht, wird es kein Zurück mehr geben." In den Schulen wagt laut Qadeer niemand mehr, die Nationalhymne zu singen oder die pakistanische Flagge zu hissen.


Kaum Hilfe von Polizei und Justiz

Vergeblich haben die Familien der Vermissten versucht, Hilfe von der Polizei zu bekommen. Selbst der Oberste Gerichtshof, der das Militär und den Geheimdienst für verantwortlich hält, hat das Schicksal der meisten Verschwundenen nicht klären können.

Die unabhängige Menschenrechtskommission in Pakistan (HRCP) reichte Anfang 2007 eine Petition beim Obersten Gericht ein. Danach seien etwa 300 Vermisste wieder nach Hause zurückgekehrt, sagt die Vorsitzende Zohra Yusuf. Die Verschleppungen, Folterungen und Tötungen gingen aber weiter. Wie Yusuf kritisiert, hat die Regierung zwar eine Kommission zur Klärung des Verbleibs der Vermissten eingesetzt. "Sie arbeitet aber nicht sehr effizient, und die Leute haben kein Vertrauen."


"Selbst Tiere werden nicht so misshandelt"

Während Rukhsana Langho und Qadeer Baloch weiter hoffen, wurden andere mit den übel zugerichteten Leichen ihrer Verwandten konfrontiert. "Mein Bruder Abid wurde vor drei Wochen tot aufgefunden", sagt der 18-jährige Nauroz Baloch. Ihm war aus kurzer Entfernung in ein Auge und ins Herz geschossen worden.

Auf den Leichnam des 40-jährigen Safir Baloch, der verbrannt und verscharrt worden war, stießen Bauarbeiter, als sie auf einem Grundstück Erde aushoben. "Selbst Tiere werden nicht so behandelt", beklagte die Schwester des Toten. Leider interessiere sich in Pakistan kaum jemand für die Gräueltaten in Belutschistan. (Ende/IPS/ck/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2011