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DILJA/001: Razzien gegen linke Buchläden in Berlin zielen auf Denkfreiheiten (SB)


Linke Buch- und Infoläden in Berlin polizeilich heimgesucht

Buchhändler als Erfüllungsgehilfen der politischen Strafjustiz?


Können Bücher und Texte Waffen sein? So mancher Autor, Verleger oder Publizist würde diese Frage glatt bejahen, so unter "Waffe" eine kritische Darstellung und Bewertung herrschender Verhältnisse zwecks ihrer Inangriffnahme und Überwindung verstanden wird. Mit dem Begriffsverständnis im engeren, sprich straf- bzw. waffenrechtlichen Sinn hat dieses publizistische und unter dem vollen Schutz des Grundgesetzes stehende Selbstverständnis selbstverständlich nicht das geringste zu tun, auch wenn das Vorgehen der Ermittlungsbehörden hier und da den Eindruck erweckt, als würden die dort tätigen Beamten diese begriffliche Gleichsetzung vollzogen haben. So wurde am vergangenen Dienstag in Berlin ein Großaufgebot der Polizei in Gang gesetzt, um in den späten Vormittagsstunden gleich vier linke Buch- und Infoläden zu durchsuchen.

Der Berliner Staatsschutz und somit die "politische" Polizei rückte in der Kastanienallee sowie im Mehringhof an, um die dortigen "Schwarze-Risse"-Buchläden heimzusuchen, gleichfalls wurden der Buchladen oh21 sowie der Infoladen M99 durchsucht. Da dies bereits die insgesamt sechste Razzia allein in diesem Jahr war, steht zu vermuten, daß es sich nicht um Spontanermittlungen infolge etwaiger Hinweise auf was-auch-immer gehandelt hat, sondern daß mit diesem systematischen Vorgehen die durch diese Läden verkörperte "linke Szene" in Berlin eingeschüchtert und unter Druck gesetzt werden soll. Zuletzt waren die vier Buchläden am 17. September durchsucht worden mit der Begründung, es würden dort Exemplare der Szene-Zeitschrift "Interim" vermutet werden, in der laut Berliner Zeitung "zu militanten Aktionen gegen die Feiern zum Einheitstag am 3. Oktober in Bremen aufgerufen" worden sei [2]. Der inkriminierte Aufruf kursierte allerdings seit Ende August im Netz, wurde jedoch erst im September zum Anlaß genommen, um in einer konzertierten Aktion gegen die betroffenen Buchläden in Berlin vorzugehen, die zu diesem Zeitpunkt bereits etliche solche Razzien hatten hinter sich bringen müssen.

Die jüngste Durchsuchungswelle war juristisch mit § 130a StGB in Verbindung mit § 40 WaffenG begründet worden, und abermals war die Zeitschrift "Interim" zum Anlaß genommen worden. Das Novum in dem Vorgehen des Berliner Staatsschutzes besteht nicht unmittelbar in dem Versuch, gegen die Zeitschrift bzw. ihre presserechtlich Verantwortlichen wegen der in ihr publizierten Inhalte, so diese tatsächlich unter die genannten oder andere Paragraphen zu subsumieren wären, vorzugehen, sondern auf Buchläden und Buchhändler zuzugreifen ungeachtet der bisherigen Rechtsprechung deutscher Gerichte, derzufolge von Buchhändlern und -handlungen beim besten Willen nicht verlangt werden könne, den gesamten Inhalt ihres dargebotenen Sortiments auf möglicherweise strafbare Passagen hin zu überprüfen. In einer von den betroffenen Buchhandlungen gemeinsam verfaßten Erklärung [1] wurde deshalb auch die Einschätzung von Rechtsanwalt Sven Lindemann, der den Buchladen "Scharze Risse" vertritt, aufgegriffen, derzufolge die Berliner Staatsanwaltschaft versuchen würde, eine Revidierung dieser Rechtsprechung durchzusetzen.

Dies hätte, sollte ihr dies tatsächlich gelingen, verheerende Folgen für die politische Kultur, die sich immer auch am Freiraum ihrer Alternativ- und Gegenkulturen messen lassen muß, in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch ganz generell für die Freiheit von Presse, Medien, Kunst und Wissenschaft. "Es handelt sich um eine politisch motivierte Kampagne der Staatsanwaltschaft. Die Buchläden sollen unter Druck gesetzt werden, damit sie als vorgeschaltete Zensurbehörde des Staates agieren", lautete die Stellungnahme von Frieder Rörtgen, dem Geschäftsführer des "Schwarze Risse"-Buchladens [1]. Wenn Buchläden, genauer gesagt ihre Geschäftsführer, bei jedem Buch, jeder Zeitschrift, jedem Flugblatt, Plakat oder sonstigen Publikation befürchten müssen, von Durchsuchungen und Ermittlungen der Polizei behelligt und unter Umständen sogar strafrechtlich belangt zu werden, kann die "Schere im Kopf" kaum ausbleiben. Präventiv und um die eigene, nicht zuletzt auch wirtschaftliche Existenz zu sichern, droht damit eine politische Zensur in Deutschland etabliert zu werden, die es laut Grundgesetz selbstverständlich nicht geben dürfte, heißt es doch in Art. 5 Abs. 1 GG:

Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

Eine Zensur, auf der "Zensur" draufsteht, findet tatsächlich nicht statt. Was stattfindet, ist der Umweg über strafrechtlich begründete Vorwürfe, die in ihrer Wirkung der klassischen Zensur nicht nur gleichkommen, sondern diese noch zu übertreffen drohen, da eine Vorfeld- und Präventivkriminalisierung damit in die Wege geleitet wird, die namentlich die linke Gegenöffentlichkeit in ihrem Bestand gefährden könnte. Nach Angaben der Anwälte der betroffenen Buchläden soll die Staatsanwaltschaft auf Anfrage bereits bestätigt haben [2], daß sie ein Strafverfahren anstrebt, durch dessen Ergebnisse die bisherige Rechtsprechung revidiert werden soll. Dies würde eine dammbruchartige Lawine von Zensur und Selbstzensur losbrechen, da nicht nur jede Buchhandlung sich genötigt sehen könnte, "auf Nummer sicher" zu gehen und nur noch Produkte anzubieten, die politisch vollkommen unbedenklich, also bar jeglichen kritischen Inhalts sind, sondern auch die Medienschaffenden selbst.

Eine erste Reaktion betroffener Buchhändler auf die bereits sechste Durchsuchungswelle gegen linke Buchläden in Berlin erfolgte in einer am 27. Oktober vom Verlag Assoziation A veröffentlichten Erklärung [1], in der nicht nur "aufs schärfste gegen die jüngsten Repressionsmaßnahmen gegen linke Buchhandlungen in Berlin" protestiert und Solidarität mit den Betroffenen bekundet wurde, sondern in der auch politisch argumentiert und eine Lanze für "linke Gegenöffentlichkeit" gebrochen wurde, war diese doch ...

... immer Voraussetzung und unentbehrlicher Bestandteil sozialer Protestbewegungen. Die Geschichte der Versuche, sie durch Durchsuchungen, Razzien und Strafverfahren einzuschüchtern, zu drangsalieren und letztlich zu kriminalisieren, ist ebenso lang wie unrühmlich. Vorverlagerung des Staatsschutzes nannte man dies früher.

Im "Buchmarkt", dem "Ideenmagazin für den Buchhandel", wurde wenige Tage später ebenso kritisch über die Berliner Durchsuchungsaktionen berichtet [3], stellen doch diese Razzien einen Angriff auf die berufliche Tätigkeit der Buchhändler dar, die sich nun völlig unabhängig von ihren eigenen politischen Überzeugungen veranlaßt, um nicht zu sagen genötigt sehen müssen, als Erfüllungsgehilfen der Staatsanwaltschaft zu agieren. Auf die Publizierenden selbst, Autoren aller Arten und Sparten und Verfasser welcher Texte auch immer wird dieser Vorstoß, so er denn bis zu dem offensichtlich beabsichtigten Dammbruch durchgeführt werden kann, seine Wirkungen ebenfalls nicht verfehlen können, da auch sie bedenken müssen, daß Verleger oder Buchhändler ihre Werke ablehnen könnten, weil sie befürchten (müssen), daß dieser oder jener Satz von den Staatsschutzbehörden als strafrechtlich relevant bewertet werden könnte.

Spätestens an dieser Stelle scheint es geboten, einen Blick in die Gesetzestexte zu werfen. Die jüngsten Durchsuchungen wurden im wesentlichen begründet mit § 130a StGB, der die "Anleitung zu Straftaten" unter Strafe stellt. Demnach kann mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft werden, wer eine Schrift verbreitet oder öffentlich zugänglich macht, die geeignet ist, als Anleitung zu einer in einer anderen Norm (§ 126 Abs. 1 StGB) genannten Katalogstraftat zu dienen. Der Inhalt dessen muß darauf ausgerichtet sein, die Bereitschaft anderer, eine solche Straftat zu begehen, zu fördern oder zu wecken. In einem einschlägigen Kommentar, dem Computer- und Mediendelikte Kommentar (CuMK), führte Alexander Schultz in einem am 1. Januar 2004 veröffentlichten Beitrag zum objektiven Tatbestand bei § 130a StGB aus [4]:

Der objektive Tatbestand setzt voraus, dass der Täter eine Anleitung verbreitet (etc.), die geeignet ist, der Begehung einer Katalogtat des § 126 Abs. 1 StGB zu dienen. Allerdings muss die Anleitung konkret auf Vorbereitungs- oder Durchführungshandlungen zu den Katalogtatbeständen eingehen, da der Tatbestand ansonsten ausufern würde. Die bloße Möglichkeit, dass eine Schrift als Informationsquelle für eine Katalogtat des § 126 Abs. 1 StGB dienen könnte, würde die Meinungsfreiheit unangemessen stark beschneiden. So wäre es z.B. nicht mehr möglich, wissenschaftliche Arbeiten aus bestimmten Fachgebieten zu veröffentlichen.

Mit besagten "Katalogstraftaten" nach § 126 Abs. 1 sind Straftaten, die den öffentlichen Frieden gefährden, wie schwerer Landfriedensbruch, Mord, Totschlag, Völkermord, schwere Körperverletzung, Straftaten gegen die persönliche Freiheit, Raub und räuberische Erpressung und bestimmte gemeingefährliche Verbrechen wie Brandstiftung, das Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion u.ä. gemeint. Nach Ansicht dieses Kommentators, der dazu eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs anführte [5], müßte im Einzelfall festgestellt werden, ob durch die Veröffentlichung die Bereitschaft anderer zur Begehung einer solchen Straftat hervorgerufen oder bestärkt werde. Zu den subjektiven Tatbestandsmerkmalen erklärt der Kommentator bei dem hier in Frage kommenden zweiten Absatz, der eine Strafbarkeit auch dann begründet, wenn eine Schrift veröffentlicht wird, die "geeignet" ist, als Anleitung zu einer der besagten Straftaten zu dienen, daß der Täter "die Förderung oder Weckung der Bereitschaft anderer gewollt haben" [4] müsse.

Wer dies auf Buchhändler anzuwenden sucht, muß mit unterstellten Absichten argumentieren, um auch nur irgendwie die Anwendung dieses Paragraphen zu ermöglichen. Dies wirft ein bezeichnendes Schlaglicht auf die nun schon zum sechsten Mal innerhalb nur eines Jahres durchgeführten Durchsuchungsaktionen gegen Berliner Buchläden, die zwar nicht immer und in jedem Fall mit diesem Paragraphen und der Zeitschrift Interim begründet wurden, so doch in allen Fällen dieselbe Handschrift und Stoßrichtung aufweisen. Bei § 130a StGB steht die bisherige Rechtsprechung auch höchster Gerichte wie des BGH einer solchen Ausdehnung der Straf- und Verfolgungspraxis zwar (noch) ebenso entgegen wie die Kommentierungen, doch darf dies nicht mit einem tatsächlichen juristischen Schutz verwechselt werden.

Da Rechtslagen und -anwendungen den seitens der Exekutive für unverzichtbar erklärten Anforderungen nachfolgen bzw. die Gesetzgebungsorgane nicht primär den verfassungsrechtlichen Normen folgen, sondern diese auf gesetzlichem Wege auszuhöhlen bzw. zu umschiffen bereit sind, steht die Abwehr dieses Angriffs auf die Freiheit des Wortes und damit des Denkens und Handelns in einem sehr grundsätzlichen Verständnis noch aus und ist keineswegs eine Frage, die sich auf die derzeit unmittelbar betroffene Berliner linke Szene reduzieren ließe. Als der § 130a StGB im November 1974 von der damaligen sozialliberalen Regierungskoalition entworfen wurde, hatte anstelle der "Anleitung" zu einer Straftat zunächst sogar nur die "Befürwortung" von gewalttätigen Verbrechen und Vergehen als eigene Straftat im Entwurf gestanden.

Der damalige Frankfurter Rechtsprofessor und spätere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Winfried Hassemer hatte den damaligen rot-gelben Entwurf scharf kritisiert und erklärt, die Bundesregierung gehe mit diesem "völlig abstrakten Gefährdungsdelikt" über die im Strafrecht bereits vorhandene "Verdünnung rechtsstaatlicher Erfordernisse" [6] noch hinaus. Auf Betreiben der FDP wurde die "Befürwortung" dann im Entwurf durch eine "Anleitung" zu Straftaten ersetzt, was zwar nicht die politische Stoßrichtung dieser Norm änderte, wohl aber geeignet war, ihre prominentesten Kritiker ruhig- bzw. zufriedenzustellen.

Gegen die Einführung eines Paragraphen, der die "Befürwortung" bestimmter Straftaten unter Strafe stellte, hatte seinerzeit auch der SPD-Vordenker und Parteivorstand Peter von Oertzen gewettert. Darunter fiele dann womöglich auch, so von Oertzen, die Befreiung von einer Gewaltherrschaft zu "befürworten". Laut Spiegel [6] hat der renommierte SPD-Politiker, der 2005 nach 59jähriger Zugehörigkeit aus der Partei austrat, in jener Zeit, als der Putsch in Chile gegen die sozialistische Regierung Allende noch frisch war, auf dem Mannheimer SPD-Parteitag folgendermaßen argumentiert: "Ich möchte gerne ganz genau wissen, ob ich auch in Zukunft mit gutem Gewissen sagen kann: Dem Pinochet gehört eine Bombe unter den Hintern gelegt und angezündet." Das sei, so von Oertzen weiter, eine "Befürwortung von Gewalt, und das soll es auch sein". Können heute oder morgen Buchhändler, Verleger, Autoren und weitere Medienschaffende verfolgt und belangt werden, sollten sie diese Meinungsäußerung eines renommierten SPD-Politikers im Zuge einer Auseinandersetzung mit der chilenischen Geschichte veröffentlichen?


Anmerkungen:

[1] Protest gegen Durchsuchungen linker Buchhandlungen in Berlin, Verlag Assoziation A, 27. Oktober 2010,
im Schattenblick -> INFOPOOL -> RECHT -> FAKTEN: MELDUNG/086,
http://schattenblick.org/infopool/recht/fakten/rfme0086.html

[2] Die Zeitschrift als Waffe. Mehr Durchsuchungen in Berlin. Der Freitag, 19.09.2010,
http://www.freitag.de/community/blogs/anne-roth/die-zeitschrift-als-waffe-mehr-durchsuchungen-in-berlin

[3] Berlin: Erneute Durchsuchungen bei linken Buchläden, BuchMarkt - Das Ideenmagazin für den Buchhandel. 29.10.2010,
http://www.buchmarkt.de/content/44563-affaeren.htm

[4] § 130a StGB - Anleitung zu Straftaten, von Alexander Schultz, 1.1.2004,
mediendelikte.de / Schultz, § 130a StGB, Rdnr. - Suchbegriff: BT-130a,
http://www.mediendelikte.de/bt130a.htm

[5] BGHSt 28, 312; Lackner/ Kühl, § 130a, Rdnr. 5.

[6] Justiz - Provopoli. Der Spiegel 49/1975, 01.12.1975,
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41392712.html

1. November 2010