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DILJA/006: Grundgesetz vergessen? Präventivhaft von Berliner Koalition auf vier Tage ausgeweitet (SB)


Damals Schutzhaft, heute "Unterbindungsgewahrsam" - ohne Verdacht und ohne Straftat in Haft


Ohne großes Aufsehen hat sich die neue Berliner Koalition, bestehend aus SPD und CDU, Ende vergangener Woche in ihrer Verhandlungsrunde zur Regierungsbildung auf eine Verschärfung repressiver Maßnahmen geeinigt. Wie die Berliner Morgenpost am Mittwoch berichtete [1], wird in der deutschen Hauptstadt der sogenannte "Unterbindungsgewahrsam", durch den Menschen inhaftiert werden können, ohne daß sie einer Straftat überführt oder auch nur verdächtigt werden, von bislang zwei auf vier Tage verlängert. Die vom rot-roten Senat eingeführte polizeiliche Kennzeichnungspflicht, die es Polizeibeamten auferlegt, an der Uniform ein Schild mit ihrem Namen oder wahlweise einer Nummer zu tragen, soll nach Wunsch der CDU wie auch der Polizeigewerkschaften wieder abgeschafft werden, weil sie die Beamten in Gefahr brächte. Bislang ist der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) allerdings nicht bereit, dem künftigen Regierungspartner nachzugeben und die Kennzeichnungspflicht, mit der "schwarze Schafe" im Polizeidienst leichter zu überführen sind und die Möglichkeit der Beamten, aus der Anonymität ihres Berufsstandes heraus Straftaten zu begehen, verringert werden sollte, preiszugeben [2].

Die Berliner Vizepolizeipräsidentin Margarete Koppers, die die Behörde derzeit kommissarisch leitet, ging öffentlich auf Distanz zu den Bestrebungen, die von ihr für wichtig gehaltene Kennzeichnungspflicht aufzugeben. In der Presse wurde zudem kolportiert, sie habe in einem Interview mit der taz auch die Verlängerung des Unterbindungsgewahrsams "scharf kritisiert" [1]. Später stellte sie richtig, daß sie zwei der geplanten Maßnahmen nicht kritisiert, sondern lediglich deutlich gemacht habe, daß keine Notwendigkeit für sie bestünde. Die derzeitige Polizeichefin machte deutlich, daß ihrer Meinung nach die bisherige Regelung im Berliner Landesrecht, derzufolge ein solcher Gewahrsam, der unter strengen Voraussetzungen und mit richterlicher Genehmigung zur Verhinderung von Straftaten verhängt werden könne, eine Zeitdauer von maximal zwei Tagen vorsah, völlig ausreichend sei. "Dieser Zeitraum wurde bisher so gut wie nie ausgeschöpft, daher sehe ich keine Notwendigkeit für eine Ausweitung", so Koppers [1].

Ihre fachliche Auffassung ist jedoch nicht gefragt, haben sich doch die künftigen Berliner Koalitionäre auf die Verlängerung dieser Zeitdauer von zwei auf vier Tage am vergangenen Freitag bereits geeinigt. Damit wird in Berlin ein Trend fortgesetzt, der, da der Unterbindungsgewahrsam in den Polizeigesetzen der Länder geregelt wird und insofern zwischen den einzelnen Bundesländern und Stadtstaaten gewisse Unterschiede aufweist, den Polizeibehörden die mehr oder minder weitgehende Befugnis erteilt, Menschen zu inhaftieren, die weder eine Straftat begangen haben noch auch nur dessen verdächtigt werden. Zu einer ersten massenhaften Anwendung solcher Regelungen kam es bereits vor zehn Jahren, im März des Jahres 2001, als beim ersten Castor-Transport dieses Jahrtausends hunderte Menschen "in Gewahrsam" genommen worden waren. Dazu hieß es im Schattenblick seinerzeit [3]:

Der erste Castortransport dieses Jahrtausends markiert einen Meilenstein in der Geschichte der bundesdeutschen Polizei, die sich ihrem Selbstverständnis zufolge fundamental von ihrem historischen Vorgänger unterscheidet. So gilt die polizeiliche "Schutzhaft" nach wie vor als Merkmal eines totalitären Systems, wie es die Bundesrepublik Deutschland definitionsgemäß gar nicht sein kann. "Politische Schutzhaft" ist laut dtv "die Verwahrung von Personen, die die Staatssicherheit gefährden"; sie wird in "totalitären Staaten" zur 'Bekämpfung von Gegnern' angewandt und ist in der Bundesrepublik Deutschland verboten. Art. 104 des Grundgesetzes soll zudem sicherstellen, daß ein Mensch über den Tag seiner Festnahme hinaus nur aufgrund eines richterlichen Haftbefehls eingesperrt werden darf, dieser wiederum habe den Zwecken der Strafverfolgung oder -vollstreckung zu dienen.

Das alles ist jedoch - salopp gesagt - Schnee von gestern, denn längst hat die Schutzhaft Nazi-Deutschlands, wenn auch in abgespeckter Form und unter anderem Namen, wieder Einlaß gefunden in Theorie und Praxis deutscher Polizeibehörden. (...)

450 Menschen wurden "in Gewahrsam genommen", und diese Formulierung deutet bereits an, daß es sich bei ihnen nicht um "vorläufig Festgenommene" gehandelt hat, die einer Straftat verdächtigt wurden, sondern um Menschen, die, um es in einer heute nicht mehr gültigen Formulierung zu sagen, in Schutzhaft genommen wurden. Die Abkehr vom strafrechtlichen Grundsatz der frühen Bundesrepublik, angesichts der Nazi-Schutzhaft eine Präventivhaft unmöglich zu machen, hat sich längst vollzogen, nur daß das 'vorbeugende' Einsperren von Menschen, denen die Polizei unterstellt, andernfalls eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit zu begehen, nun "Unterbindungsgewahrsam" oder, wie in Niedersachsen, "Verhinderungsgewahrsam" heißt.

Damit sind die Lehren, die die bundesrepublikanischen Verfassungsväter und -mütter aus den Schrecken des NS-Polizeistaats behaupten gezogen zu haben, auch in diesem Punkt ad absurdum geführt. In den Polizeigesetzen aller Bundesländer ist eine solche Ingewahrsamnahme mittlerweile verankert, sie differiert lediglich in ihrer gesetzlich bestimmten Höchstdauer zwischen zwei Tagen und sogar zwei Wochen wie in Baden-Württemberg und Bayern. In Niedersachsen beträgt der "Verhinderungsgewahrsam" maximal vier Tage; vier Tage also können hier Menschen festgehalten werden, denen nicht das Geringste anzulasten oder nachzuweisen ist außer der polizeilichen Vermutung, sie würden in diesem Zeitraum sonst eine Straftat begehen wollen.

Zuallererst gegen Hooligans eingesetzt, hat diese massive Ausweitung bisheriger Polizeibefugnisse nun auch gegen Demonstranten ihre massenhafte Anwendung gefunden. Sie ist ihrer Zweckbestimmung nach beliebig weiter ausdehn- und anwendbar auf alle denkbaren Konfliktsituationen, in denen die Sicherheitsbehörden gemäß ihres Auftrags, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, es für geboten erachten mögen, beliebig viele Menschen, die sie der bloßen Absicht bezichtigen, etwas Strafbares tun zu wollen, hinter Gitter zu bringen.

Dies ist umso beunruhigender, weil es schon zuvor den sogenannten "Schutzgewahrsam" in den Polizeigesetzen der Länder gegeben hat. Diesen Bestimmungen zufolge kann eine Person auch dann in Verwahrung genommen werden, wenn dies von der Polizei als erforderlich angesehen wird, um sie an einer "unmittelbar bevorstehenden Begehung oder Fortführung mit Strafe bedrohter Handlungen" zu hindern. Daß es sich demgegenüber beim Unterbindungs- bzw. Verhinderungsgewahrsam um ein Druck- und Zwangsmittel gegen politisch unliebsame Oppositionelle handelt, läßt sich aus den jüngsten Ereignissen im Wendland unschwer ablesen.

Dieser Bewertung gibt es auch heute nicht viel hinzuzufügen. Wenn die Berliner Polizeivizepräsidentin feststellt, daß der bisherige, auf maximal zwei Tage befristete Unterbindungsgewahrsam vollkommen ausreiche und noch nie voll ausgeschöpft worden sei, impliziert dies die Frage nach der Zweckbestimmung der neuen Regelung, den Gewahrsam sogar auf vier Tage auszudehnen. Es ist der administrative Vorgriff auf eine Repressionslogik, die sich mit ihren vollen Wuchten, sprich ihren Ermächtigungen in einem so hochsensiblen Bereich wie dem des direkten (Gewalt-) verhältnisses zwischen den Organen der staatlichen Exekutive und den Bürgern, selbst über den bisherigen Status quo hinaus den Zuschlag gibt, um ihr Tätigkeitsfeld immer mehr in den Bereich polizeilicher Prophylaxe zu verlagern.

Daß dies rechtsstaatlich nicht nur höchst bedenklich ist, wie Bürgerrechtsorganisationen einwenden könnten, sondern auch dem sogenannten Geist des Grundgesetzes diametral widerspricht, wäre der Erwähnung kaum wert, würde die Verfassung die ihr nachgesagte Bindekraft für Polizei und Justiz tatsächlich haben. Dies allerdings einzufordern, hieße zu ignorieren, daß die Repressionslogik ihren eigenen Gesetzen folgt und daß auf diesem Felde schwerwiegende Schlachten, so etwa die, den Bürger als potentielle Bedrohung zu definieren, gegen den im Grunde jede staatliche "Schutz"-Maßnahme gerechtfertigt sei, bereits geschlagen wurden und daß auf diesem Wege, still und klammheimlich, das einstige Gebot, Verfassung und Grundrechte als Hürden staatlicher Gewaltausübung zum Schutze seiner Bürger vor etwaigen Übergriffen zu begreifen, ausgehöhlt und historisch "entsorgt" wurde.

Anmerkungen

[1] Polizeipräsidentin lehnt CDU-Plan zur Kennzeichnung ab. Von Michael Behrendt und Hans H. Nibbrig. Berliner Morgenpost, 26.10.2011,
http://www.morgenpost.de/printarchiv/berlin/article1805867/Polizeipraesidentin-lehnt-CDU-Plan-zur-Kennzeichnung-ab.html

[2] Berliner Koalition will Unterbindungsgewahrsam verlängern. Von Peter Mühlbauer, Telepolis, 24.10.2011,
http://www.heise.de/tp/blogs/8/150689

[3] Zitat aus Schattenblick -> INFOPOOL -> RECHT -> MEINUNGEN (30.03.2001),
DILJA/074: Schutzhaft heute - Präventivgewahrsam für Castor-Gegner


28. Oktober 2011