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DILJA/007: ELENA in Warteschleife? Totalerfassung der Produktivbevölkerung vorerst gestoppt (SB)


Vorwand Bürokratieabbau - Rösler feiert taktischen Rückzug als Erfolg


In Zeiten einer zunehmenden Mangelproduktion, deren Auswirkungen nicht einmal mehr die Mittelschichten der in den USA sowie der Europäischen Union zu verortenden Zone relativen Wohlstands unberührt lassen, gerät die "Arbeitskraft" des Menschen und damit die einzige Ware, die all diejenigen zu veräußern haben, deren Besitz-, Vermögens- und damit Verfügungsverhältnisse es ihnen nicht ermöglichen, andere für sich arbeiten zu lassen, immer mehr ins Fadenkreuz administrativer Begehrlichkeiten. Die Liste der Nutzanwendungen, die Behörden, Verbände und Unternehmen aus einer datenmäßigen Erfassung der gesamten werktätigen Bevölkerung und damit der eigentlichen Nährsubstanz gesellschaftlicher Produktivprozesse zu ziehen imstande und interessiert wären, ist unbegrenzt. Der "gläserne Mensch", um diesen Begriff aus Zeiten des datenschutzrechtlichen Engagements der 1980er Jahre, in denen Bürgerbewegungen gegen Volkszählung und Datenautobahnen zu Felde zogen, noch einmal zu strapazieren, wäre keine Schreckensvision, sondern repressive Realität, würde es tatsächlich gelingen, einen Datenpool zu schaffen, in dem bundesweit und zentral die persönlichen, sozialen und arbeitsrelevanten Daten der rund 40 Millionen Menschen umfassenden, in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen aller Art wertschöpfenden Bevölkerung verfügbar gehalten werden.

Als einen ersten Versuch, ein solches Datenmonstrum zu schaffen, kann das Projekt ELENA, wie das Verfahren des elektronischen Entgeltnachweises genannt wird, bewertet werden. Auf diesem Wege hätte, wäre seine Einführung gelungen, in bezug auf jeden abhängig Beschäftigten - so auch Richter, Beamte und Soldaten - eine bundesweit einheitliche und zentrale Datenerfassung von immens hoher Detaildichte betrieben werden können, waren doch sämtliche Arbeitgeber durch das Gesetz über das Verfahren des elektronischen Entgeltnachweises vom 28. März 2009 ab dem 1. Januar 2010 verpflichtet, auf elektronischem Wege einen 57 Seiten starken Datenkatalog über ihre Beschäftigen an die entsprechende Speicherstelle zu entsenden. Vorgeblicher Sinn und Zweck dieser Maßnahme sollte sein, die bei der Beantragung bestimmter Sozialleistungen (Arbeitslosengeld, Wohn- und Elterngeld) obligatorische und bisher in Papierform ausgestellte Arbeitgeber-Bescheinigung überflüssig zu machen.

Gegen das ELENA-Verfahren waren Datenschützer Sturm gelaufen, kaum daß die Idee das Planungsstadium erreicht hatte und publik gemacht worden war, ohne daß seitens der an der Durchsetzung dieses Verfahrens beteiligten Bundesregierungen deren Argumente erkennbar zur Kenntnis genommen worden wären. Namhafte Juristen wie beispielsweise der am 8. September 2010 verstorbene Staatsrechtler Prof. Heinrich Wilms kamen in ihren Prüfungen zu einem rechtlich und somit auch politisch vernichtenden Urteil, ohne daß ihr Kernvorwurf, durch ELENA würde die (werktätige) Bevölkerung in einer datenschutz- wie verfassungsrechtlich vollkommen inakzeptablen Weise erfaßt, um nicht zu sagen ausspioniert werden, seitens der Bundesregierung aufgegriffen und zum Gegenstand einer öffentlich-kontroversen Diskussion gemacht worden wäre. In einem Gutachten, das kurz nach Wilms' Tod am 16. September 2010 im Nomos Verlag unter dem Titel "ELENA (Elektronischer Entgeltnachweis) und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung" veröffentlicht worden war, hatte dieser das Projekt ELENA als "unrettbar verfassungswidrig" bezeichnet [1].

Die Bemühungen der Datenschutzbeauftragten der Bundesländer, ab 2003 die Einführung des ELENA-Verfahrens zu verhindern, blieben erfolglos. Das Bundeskabinett beschloß dessen Einführung ungeachtet aller gegenteiligen Argumente am 25. Juni 2008, und spätestens seit der ab dem 1. Januar 2010 bestehenden Verpflichtung der Arbeitgeber, die verlangten Daten für jeden Arbeitnehmer auf elektronischem Wege zu übermitteln, schien dieser Kampf gegen staatliche Kontrolle und Überwachung in bislang unerreichter (Daten-) Dimension endgültig verloren gewesen zu sein. Doch weit gefehlt. Am 18. Juli 2011 teilten die Bundesministerien für Wirtschaft und Technologie sowie für Arbeit und Soziales in einer gemeinsamen Presseerklärung [2] mit, sie hätten sich darauf verständigt, das Verfahren ELENA "schnellstmöglich" einzustellen. Was war geschehen? Hatten die vielfältigen und schwerlich zu widerlegenden oder auch nur zu entkräftende Argumente, ELENA würde die Rechte der rund 40 Millionen Betroffenen verletzen, doch noch zu einer wenn auch späten Einsicht und Berücksichtigung geführt?

Nein. Zur Begründung führten die Ministerien eher technische Probleme an, genauer gesagt "die fehlende Verbreitung der qualifizierten elektronischen Signatur" [2] und gaben an, daß Untersuchungen gezeigt hätten, daß sich der mit dieser Signatur verbundene und für das ELENA- Verfahren unverzichtbare Sicherheitsstandard "trotz aller Bemühungen in absehbarer Zeit nicht flächendeckend verbreiten" [2] würde. Die Bundesregierung versprach, "unverzüglich" die bereits gespeicherten Daten zu löschen sowie die Arbeitgeber von ihrer Mitteilungspflicht zu entbinden. Offensichtlich haben die Proteste seitens der Arbeitgeber, seien es nun welche der öffentlichen Hand, Großbetriebe oder auch Mittelstandsunternehmen, erreicht, was den politisch wie datenschutzrechtlich argumentierenden Kritikern in all den Jahren ihres Engagements zuvor nicht gelungen war.

Die vorgebrachte Begründung der beteiligten Bundesministerien und mehr noch die Ankündigung, "Lösungen aufzuzeigen, die die bisher getätigten Investitionen der Wirtschaft aufgreifen" [2], nährten den Verdacht, daß es sich bei dieser Entscheidung der Bundesregierung lediglich um einen taktischen Rückzug gehandelt hat, um dann, eines gar nicht so fernen Tages vielleicht, dasselbe Projekt in leicht modifizierter Form wieder in Angriff nehmen zu können. Hinzu kam, daß einige Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht eingegangen waren, was dazu hätte führen können, daß Karlsruhe ELENA stoppen und dazu ein Urteil fällen können, das eine spätere Wiedereinführung wesentlich hätte erschweren können durch grundsätzliche Erklärungen, etwa derart, daß die Totalerfassung der Daten von sämtlichen abhängig Beschäftigten unter keinen wie auch immer gearteten Umständen mit der Verfassung zu vereinbaren sei.

Am 4. November 2011 nun passierte das Gesetz zur Aufhebung der Vorschriften zu ELENA den Bundesrat, womit die letzte Hürde, das Verfahren noch vor Jahresende wieder einzustellen, genommen werden konnte, nachdem der Bundestag die Einstellung bereits im September beschlossen hatte. Wie einer Pressemitteilung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie zu entnehmen war, bezeichnete der zuständige Minister Philipp Rösler die Einstellung, so als wäre sie nicht zuvor von der Bundesregierung allen Protesten und Widerständen zum Trotz durchgedrückt worden, als eine "gute Nachricht" [3]:

Die Einstellung ist eine gute Nachricht, vor allem für die durch ELENA besonders belasteten kleinen Unternehmen. Die Wirtschaft wird von der zuletzt bestehenden Doppelbelastung durch Papierbescheinigungen und elektronische Meldungen befreit.

Bezeichnenderweise tauchen in dem von Rösler angeführten Begründungsszenario allein die Unternehmen auf und keineswegs die rund 40 Millionen Bundesbürger, deren Rechte durch diese Datenerhebung bereits massenhaft verletzt wurden. Rösler ließ bei dieser Gelegenheit weiter durchblicken, daß dieses Projekt keineswegs endgültig vom Tisch sei, sondern daß nun, wie anzunehmen ist, fieberhaft nach Modifikationen gesucht werde, die es tatsächlich durchsetzbar machen würden [3]:

Es bietet sich nun die Chance, aus den bei ELENA gesammelten Erfahrungen zu lernen und ein praktikables und unbürokratisches Verfahren für die elektronische Übermittlung von Entgeltdaten zu entwickeln. Eine vollständige oder teilweise Massenspeicherung von Daten wie im ELENA-Verfahren muss vermieden werden.

Es soll nun also ein "unbürokratisches" Verfahren entwickelt werden. Bürokratieabbau allerdings ist das Scheinargument, mit dem bereits versucht wurde, ELENA schmackhaft zu machen. So hatte es beispielsweise im Haushalt des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie für das Jahr 2010 [4] geheißen, daß für die Einführung von ELENA von 2009 bis 2013 11 Mio. Euro jährlich vorgesehen sind und daß die "schnelle Online-Abfrage der auf einem Zentralrechner der Rentenversicherung gespeicherten Einkommensnachweise helfen [soll], rund 86 Mio. Euro Bürokratiekosten pro Jahr zu sparen." [4] So ergibt sich folgende, vollends absurd anmutende Darstellungslage: ELENA wurde eingeführt zu dem Zweck, Bürokratiekosten einzusparen. Die Einführung von ELENA wurde rückgängig gemacht, um die Unternehmen von Bürokratiekosten zu entlasten, wohingegen künftig ein neues, "unbürokratisches" Verfahren entwickelt werden soll.

Ein solches Wirrwarr entknoten zu wollen, erübrigt sich schon allein deshalb, weil gerade die fehlende Substanz und Überzeugungskraft dieser 'mal so, 'mal so ins Feld geführten Begrifflichkeiten untrügliche Hinweise darauf sind, daß es bei diesem Projekt und der damit einhergehenden Bereitstellung eines datentechnischen Frontalangriffs auf 40 Millionen Menschen, wie es ihn in dieser Form noch nie gegeben hat, um alles andere, nur nicht um "Bürokratieabbau" geht. Die Frage der Datenschützer, warum, wenn es doch in Zeiten digitaler Informationsverarbeitung darum gegangen wäre, antiquiert anmutende Papierbescheinigungen auf elektronische Wege zu verlagern, dies nicht anlaßbezogen hätte geschehen können - also immer nur dann, wenn eine bestimmte Sozialleistung tatsächlich beantragt wird -, und nicht flächendeckend und die gesamte Arbeitsbevölkerung erfassend, läßt sich natürlich nicht plausibel beantworten, und so steht zu erwarten, daß der nächste Versuch, einer administrativen Zurichtung vergleichbaren Ausmaßes den Boden zu bereiten, nicht lange auf sich warten lassen wird.

Anmerkungen

[1] Siehe dazu im Schattenblick -> INFOPOOL -> BUCH -> SACHBUCH: REZENSION/567:
Heinrich Wilms - ELENA und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (SB)

[2] ELENA-Verfahren wird eingestellt. Gemeinsame Pressemitteilung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 18. Juli 2011.
Siehe im Schattenblick -> INFOPOOL -> POLITIK -> WIRTSCHAFT: MELDUNG/205

[3] Einstellung des ELENA-Verfahrens noch vor Jahresende. Pressemitteilung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie vom 4. November 2011.
Siehe im Schattenblick -> INFOPOOL -> POLITIK -> WIRTSCHAFT: MELDUNG/230

[4] "Haushalt qualitativ sanieren und zukunftsorientiert investieren". Pressemitteilung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie zum BMWi-Haushalt 2010 vom 16. Dezember 2009.
Siehe im Schattenblick -> INFOPOOL -> POLITIK -> WIRTSCHAFT: HAUSHALT/363


8. November 2011