SCHACH-SPHINX/02604: Kasparows Tag des Jüngsten Gerichts (SB)

Zum Zeitpunkt des Knalls wirkt eine Katastrophe ungleich größer, als sie sich später in Wirklichkeit erweist. Nach der Niederlage von Garry Kasparow in New York gegen das Chipmonster Deeper Blue glaubten viele Pessismisten und andere Quacksalber des Untergangs, die Uhr der Evolution würde nun für die Menschheit rückwärts laufen. Das Geschöpf hatte seinen Schöpfer besiegt, der Gott unterlag und war verbannt. Mittlerweile haben sich die Wogen jedoch geglättet. Von Betrug ist plötzlich sogar die Rede. IBM habe, so Kasparow, seinen Computer getürkt! Nun, wie dem auch immer sei, weder hat das Schach nach dem Tag Null aufgehört zu existieren, noch zeichnete sich eine Kursänderug ab. Es blieb alles beim alten. Der Gott im Menschen hatte sich schließlich doch behauptet, und sei es, daß er einfach den Stecker herauszog. Deeper Blue ist seitdem auf keinem offiziellen Wettkampf mehr aufgetreten. Anders als ein menschlicher Champion brauchte er sich der Revanche nicht zu stellen, und Herausforderer gab es nach dem New Yorker Desaster in Fülle. Selbst das Damenschach rebellierte, um die Ehre der Menschheit zu retten. Kasparow hatte, soweit die Expertenmeinung heute, einfach viel zu befangen gespielt. Er war das Opfer seines eigenen von ihm allerorten heraufbeschworenen Tag des Jüngsten Gerichts geworden. Selbst die zweite Turnierpartie, die Deeper Blue gewann und von der gesagt wurde, sie stelle hohes Schach in einer vollkommenen Präzision dar, war ein schlichter Treppenwitz. Kasparow, moralisch ausgehöhlt und unter der Last seines eigenen Anspruchs zusammengebrochen, gab die schwarze Stellung im heutigen Rätsel der Sphinx auf. Völlig unverständlich und nur als Folge seiner blinden Ehrfurcht dem Computer gegenüber begreiflich, denn er hätte sich bei einiger klarer Vernunft durchaus noch retten können, Wanderer.

Deeper Blue - Kasparow
New York 1997

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
1.Da3xa7? hätte dem bulgarischen Großmeister Weselin Topalow sofort das Genick gebrochen dank der guillotinenhaften Erwiderung 1...De5- e3!!, nach der nicht nur 2...De3xf2+ nebst Matt auf h2, sondern auch das Abzugsschach 2...Sd4-f3+ mit Damengewinn drohen würde. Bei Annahme des Damenopfers aber folgt Matt durch 2.f2xe3 Sd4-f3+ 3.Kg1-h1 Td2-h2# Welch teuflische Ränke!

Erstveröffentlichung am 14. April 1999

30. Januar 2010