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SCHACH-SPHINX/05368: Gebändigte Natur (SB)


Die Furcht, ins Unfertige hineinzutaumeln und sich damit dem Risiko der haltlosen Erscheinung aller Dinge zu stellen, läßt einen Menschen erzittern. An die geborgte Sicherheit gewöhnt und darauf domestiziert durch Schule, Bildung, gesellschaftlichen Konsens weicht der Mensch nur unter Qual und Gewissenspein von jenen Wegen ab, die eine gebändigte Natur in Form der Zivilisation als begehbar verspricht. Der österreiche Biedermeierdichter Adalbert Stifter (1805-1868) fand dafür treffende Worte, denn "wohin der Mensch kommt, wenn er das Licht der Vernunft trübt, die Dinge nicht mehr versteht, von dem inneren Gesetze, das ihn unabwendbar zu dem Rechten führt, läßt, sich unbedingt der Innigkeit seiner Freuden und Schmerzen hingibt". Dies erlebte er sein Leben lang als brennendes Unbehagen, fürchtete es so sehr, daß er in Wort und Feder Gestalten reiner Unbeflecktheit schuf, Geschöpfe, aus Gedanken und Träumen gemacht, nicht wirklich und eben darum auch nicht widersprüchlich, glatt, paßgerecht und steril. Auch in den Schriften vieler Schachtheoretiker schwingt etwas von dieser Furcht mit, weswegen sie auf dem Schachbrett das Ballett von Richtig und Falsch inszenierten. Von diesen Kategorien gefesselt, scheuten sie den Konflikt mit dem verdrängten Widerspruch nicht des Schachspiels, sondern ihres eigenen Denkens. In der Schachpraxis kennt man den Unterschied zwischen Sicherheitsmenschen und Verteidigungskünstlern. Wer der Sicherheit den Vorzug gibt und damit nur in einem engen Rahmen agiert, der wartet und hofft auf Rettung, indem er sich verschanzt. Anders der Verteidigungskünstler, der eines vor allem anderen begriffen hat: Ohne Angriff taugt keine Verteidigung und nur an der äußersten Grenze zwischen Risiko und Tatkraft ist der sichere Griff möglich. Galionsfigur der letzteren Denkart ist der FIDE-Weltmeister Anatoli Karpow. Im heutigen Rätsel der Sphinx kam er mit den schwarzen Steinen dank seiner Angriffs-Verteidigungs-Linie zu einem siegbringenden Materialgewinn, Wanderer.



SCHACH-SPHINX/05368: Gebändigte Natur (SB)

Lautier - Karpow
Linares 1994

Auflösung letztes Sphinx-Rätsel:
Hätte José Capablanca beispielsweise 1...Ke6-d5? gezogen, so wäre er feinmeisterlich von Salo Flohr besiegt worden: 2.Kd3-d2 Kd5-e5 3.Kd2- e1 Ke5-d5 4.Ke1-f2 Kd5-e4 5.Kf2-e2 - hält die Opposition - 5...Ke4-d5 6.Ke2-f3 Kd5-e5 7.h2-h3 Ke5-d5 8.Kf3-f4 Kd5-e6 9.h3-h4 Ke6-e7 10.Kf4xf5 Ke7-f7 11.g3-g4 h5xg4 12.Kf5xg4 Kf7-g6 13.h4-h5+ Kg6-h6 14.Kg4-f5 Kh6xh5 15.Kf5xf6 Kh5-g4 16.e3-e4 und Weiß gewinnt. Wer die Opposition hält, gewinnt also, und daher zog Capablanca 1...Ke6-e5! 2.Kd3-e2 - 2.Kd3-d2 h5-h4! 3.g3xh4 f5-f4! 4.h4-h5 f4xe3+ und Remis - 2...Ke5-e4! 3.h2-h3 - 3.Ke2-f2 h5-h4! - 3...Ke4-d5! 4.Ke2-f3 Kd5-e5 5.h3-h4 Ke5-d5 6.Kf3-f4 Kd5-e6 und Flohr und Capablanca einigten sich wegen der Folge 7.e3-e4 f5xe4 8.Kf4xe4 f6-f5+ 9.Ke4-f4 Ke6-f6 auf die Punkteteilung.


Erstveröffentlichung am 22. Februar 2002

28. Januar 2015





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