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SCHACH-SPHINX/05612: Dämonen finsterster Trostlosigkeit (SB)


In einer Gazette war jüngst ein merkwürdiger Artikel zu lesen: "Sind Schachspieler überhaupt fähig, sich selbst zu verwirklichen, wenn sie ihr Leben und alle schlummernden Talente doch nur auf einem kleinkarierten Brett ausgestalten können? Ist der tiefere Sinn dieser Askese die letzte Hingabe an den Verzicht oder muß ein Mensch vorzeitig die Hölle erfahren, um so geläutert zu seinem eigenen Selbst aus der Verirrung nebulöser Daseinsgründe zurückzufinden? Dem Schach ist philosophierend kaum hinreichend begegnet worden, weniger noch machten sich Kritiker jedoch je Gedanken darüber, ob sich die Enge des Brettes nicht zu einem Gefängnis für die Seele verdichtet. Welche Dämonen der finstersten Trostlosigkeit durchwachen seine Träume, wenn der Meister träumt, er sei sein eigener König? Ein Künstler wird an solchem Widerspruch krank. So bekannte sich der englische Erzähler Oscar Wilde unumwunden zu einem dionysischen Lebenswandel, bar aller Ketten von Konvention: 'Das Ziel des Lebens ist Selbstentfaltung, das eigene Wesen vollkommen zu verwirklichen - das ist es, wozu jeder von uns hier ist. Die Leute fürchten sich heutzutage vor sich selbst ... Der Schrecken vor der Gesellschaft, der Basis aller Moral ist, und der Schreken vor Gott, der das Geheimnis aller Religion ist - dieses sind die beiden Dinge, die uns beherrschen. Und doch glaube ich, wenn ein Mensch sein Leben völlig und vollkommen auslebte, jedem Gefühl Gestalt verlieh, jeden Gedanken ausdrückte, jeden Traum verwirklichte - dann würde die Welt solch einen frischen Freudenimpuls gewinnen, daß sie all die mittelalterlichen Krankheiten vergäße und zu dem hellenistischen Ideal zurückkehrte - vielleicht sogar zu einem Feinerem, Reicherem als dem hellenistischen Ideal." Die Worte sollen für sich selbst sprechen. Zweifel sind indessen angeraten. Man betrachte sich dazu nur einmal die folgende Stellung zwischen dem englischen Großmeister John Nunn und dem Zauberkünstler aus Riga, Michail Tal, und verleugne dann noch eine schachliche Selbstentfaltung. Tal, mit den schwarzen Steinen, hatte zuletzt 1...Dc7xe5 gezogen und wollte sich auch noch das Pferdchen einverleiben. Nunn ließ ihn im heutigen Rätsel der Sphinx schalten und walten, wie er wollte. Er hatte es nämlich auf dem schwarzen König abgesehen. Alles klar, Wanderer?



SCHACH-SPHINX/05612: Dämonen finsterster Trostlosigkeit (SB)

Nunn - Tal
Brüssel 1988

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Der Bissen war giftig und blieb Meister Oral auch im Halse stecken, denn sein Kontrahent Gleizerow entfachte nach 1...La6xf1 mit 2.Dd1-f3! Lg7-f6 2.Df3xc6 Da5-d8 3.Sc3-d5 Ke8-f8 4.Kg1xf1 einen solch nervtötenden Trommelwirbel, daß dem Nachziehenden Sehen und Hören und die Lust aufs Weiterspielen verging. Nicht zu Unrecht indes, so ersparte er sich die tragische Mattfolge 4...Sd7-b8 5.Le3-h6+ Lf6-g7 6.Dc6-c8 Dd8xc8 7.Tc1xc8#


Erstveröffentlichung am 18. Oktober 2002

29. September 2015


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