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SCHACH-SPHINX/05617: Blöße in der Neugier (SB)


Der Mensch ist gewohnheitsmäßig mißtrauisch, aber zugleich auch bis über beide Ohren neugierig und damit anfällig für Fallen. Diese Ambivalenz ist tückisch, aber auch die Voraussetzung dafür, daß sich so viele Beine in den Fangschlingen der Unvorsicht verheddern. Nicht von ungefähr leitet sich die italienische Wortwurzel des Schachbegriffes Gambit von 'Beinstellen' her. Unter Schachspielern ist eine Falle verpönnt und wird nur anerkannt, wenn die unterlegenere Seite in ihrer Not zu einer Raffinesse greift. Gleichwohl haftet einer Falle immer der Makel an, daß der Gelockte nicht darauf hereinfallen muß. In diesem Fall kann eine mißachtete Falle sogar die ganze Stellung im Nu verderben. Der Fallensteller muß sich nämlich eine Blöße geben. Er muß gewissermaßen sich selbst eine Wunde zufügen und darauf hoffen, daß der andere seine Neugier nicht zu zügeln weiß. Schnappt die Falle einmal zu, gibt es kein Entrinnen, wo nicht, nun, dann geht der Fallensteller eben an seiner eigenen Gemeinheit zugrunde. Am schönsten sind jedoch die Augenblicke auf dem Brett, wo eine Falle mit einer anderen gekontert wird. Nun wird die Hinterlist unübersichtlich. Wo kann man noch den Fuß aufsetzen? Das ganze Brett strotzt vor Fiesheit, und beide Spieler haben den Faden der Nüchternheit längst verloren. Im Unterschied zur Kombination fehlt hier nämlich das Motiv der Notwendigkeit. War es schlau, war es dumm, sich auf die natürlichste Neigung des Menschen verlassen zu haben? War die Lockspeise verführerisch genug? Der Verstandesmensch wird darüber lächeln, glaubt er doch, durch die Lupe seiner Gedankenschärfe gegen jede Versuchung gefeit zu sein. Der Kopf dagegen kennt viele Schlichen in das Herz des Schachspielers. Also hat er gelernt, seinen Fallen den Anstrich der Seriosität zu geben. Ein vernünftiger Zug kann dumm, der Fangzug dagegen clever sein. Schließlich ist die angeborene Naivität der Schattenwurf zu jedem Gedanken. Wer kann von sich ehrlicherweise behaupten, im Gegenüber stets den logischen Charakter zu sehen. Goethe war schlau genug zu wissen: "Man wird nie betrogen, man betrügt sich selbst." Also hat jede Falle ihre Begründung durch den anderen. Wer schlau ist, läßt sein Gegenüber die Falle selbst aufbauen. Die schwedische Meisterin Pia Cramling fiel auf sich selbst herein, als sie ihren russischen Kontrahenten Yuri Balaschow im heutigen Rätsel der Sphinx mit 1.Sc3-e4 zu überrumpeln glaubte. Die schwarze Dame stand plötzlich ungeschützt, zugleich wurde der Läufer auf f6 anvisiert. Ein guter Trick also, oder nicht, Wanderer?



SCHACH-SPHINX/05617: Blöße in der Neugier (SB)

Cramling - Balaschow
Hastings 1986

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Man mag es auf die Zeitnot schieben oder auf den Beginn der Lustlosigkeit, jedenfalls hielt sich Meister Hort nach 1.Dg3-g6? - unbedingt nötig war 1.Dg3-h3 - sozusagen selbst die Pistole an den Kopf. Sein Kontrahent Gligoric brauchte nur noch abzudrücken: 1...Tb8xb3+! 2.Lc2xb3 Dd4-d3+ und Weiß kann dem Matt nicht entkommen, zum Beispiel 3.Tc1-c2 Dd3-d1+ oder 3.Ta2-c2 Dd3xb3+ sowie 3.Lb3-c2 Dd3- b5+ usw.


Erstveröffentlichung am 23. Oktober 2002

04. Oktober 2015


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