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SCHACH-SPHINX/06706: Beseelt von antagonistischer Rivalität (SB)


Wo sich zwei an sich grundverschiedene Charaktere am Brett gegenüber sitzen, gestaltet sich der Kampf oft auf dramatische Weise. Dann sind es nicht die Züge allein, die auf dem Prüfstand stehen. Vielmehr spitzt sich die Partie schließlich zu einer Art alles entscheidenden Frage mit philosophischem Unterton zu. Hier treten dann ganz konkrete Spielauffassungen gegeneinander an. Die Partien von Richard Réti und Alexander Aljechin waren von solch antagonistischer Rivalität beseelt. Der tschechische Großmeister war ein ungemein vitaler Rechner. Sein Stil war ein wenig gekünstelt und ritt hart an der Linie vertretbarer Schachstrategie entlang. Réti liebte kurzum das Eigenwillige. Er war geradezu vernarrt darin, Konzeptionen zu entwickeln, die gelinde gesagt gewöhnungsbedürftig waren, und ihnen gegen alle Widrigkeit hinweg treu zu bleiben. Dies ließ ihn in den Augen seiner Zeitgenossen verschroben wirken. Seine Gedanken waren dennoch erfüllt von einer messerscharf formulierten Idee. Réti glaubte, daß die Zentrumsbauern in der frühen Eröffnungsphase weitgehend zurückgehalten werden mußten, da sie sonst allzu leicht zur Angriffsmarke abgestempelt würden. Damit leitete er einen bis heute nicht erschöpften Streit der Strategien ein. Leider überstrapazierte Réti sein Spiel häufig, so daß er zuletzt selbst ein Opfer der sich wie im Galopp verwirrenden Stellungsbilder wurde. Im heutigen Rätsel der Sphinx traf er auf Alexander Aljechin, der einer anderen Philosophie folgte. Nicht blinde Ergebenheit gegenüber dem Zählwerk, sondern vielmehr der Sprung und Sturz in die unauslotbaren Abgründe der Phantasie, das letzte Hervorkitzeln an Machbarkeit war sein Antriebswille. Mit seinem letzten Zug 1...Te8-e3! hatte Aljechin den Rand jenes Abgrunds betreten. Anders als Réti war Aljechin jedoch schwindelfrei und konnte nach der fehlerhaften Antwort 2.Sd4-f3? c6xb5! 3.Dc4xb5 Sd5-c3 4.Db5xb7 Dc7xb7 5.Sc5xb7 Sc3xe2+ 6.Kg1-h2 Sf6-e4!! im glänzenden Husarenstil gewinnen. Statt 2.Sd4-f3? konnte Réti freilich einen Zug machen, der dem schwarzen Angriff weitgehend den Wind aus den Segeln genommen hätte, aber an der Schwelle zum dunklen Nichts schreckte seine Rechenbegabung dann doch zurück, Wanderer.



SCHACH-SPHINX/06706: Beseelt von antagonistischer Rivalität (SB)

Réti - Aljechin
Baden-Baden 1925

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Auf 1...Dc5-c1+ zog José Capablanca 2.Kf1-f2? und nach 2...Dc1-d2+! war das Remis unvermeidlich: 3.Kf2-g1 Dd2-d1+ 4.Kg1-f2 Dd1-d2+ und Dauerschach, denn 4.Kg1-h2?? Dd1-h5+ hätte gar noch verloren. Doch mit 2.Kf1-e2! Dc1xb2+ 3.Ke2-f3 Db2-b3+ 4.Kf3-f2! hätte Capablanca leicht und bequem gewinnen können, da der weiße König bei weiteren Schachgeboten einfach nach h2 zurückgewandert wäre.


Erstveröffentlichung am 6. Oktober 2005

5. Oktober 2018


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