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SCHACH-SPHINX/06771: Im Lichte eigener Unzulänglichkeit (SB)


Lernprozesse können nur im Lichte der Erkenntnis vollzogen werden, daß die eigenen Fähigkeiten Lücken aufweisen. Wer nur sein Rüstzeug verstärken will, wird an grundsätzlichen Fragen nicht interessiert sein. Er ist dann wie einer, der durch die Sonnenseite des Lebens wandelt und Konfrontationen scheut. Wer möchte schon abgrundtief in seine Unzulänglichkeit hinabschauen, dorthin, wo die Schatten und furchterregenden Geister der Hinfälligkeit wohnen. Jeder Lernende erreicht einmal den Punkt, wo seine Erfolge ihn nicht mehr zufriedenstellen können. Dann ist die Kunst für ihn keine Bühne mehr, wo er seine Eitelkeiten ausleben kann, dann beginnt er, Fragen zu entwickeln. Das Leben der meisten und zumal hervorragenden Großmeister war immer von einer Schnittstelle gekennzeichnet, an der sie innehielten und all das Wissen, das sie bis dahin angehäuft hatten, in Zweifel zogen. Es war dies keine Lust am Pessimismus, sondern trug durchweg pragmatische Züge. Empfindliche Niederlagen können solch einen Moment auslösen. Bei Aaron Nimzowitsch war dies beispielsweise der Fall gewesen. Als er die Lücken an seinem Spiel entdeckte, nüchtern und sachlich, zog er sich vom Turnierbetrieb für Jahre zurück und entwarf im stillen für sich neue, umwälzende Ideen. Auch bei Michail Botwinnik war die Situation ähnlich. Nachdem er die Launenhaftigkeit des kombinatorischen Denkens entlarvt hatte, schuf er zur Abhilfe strategische Konzepte, die es ihm ermöglichten, eine Partie konkreter zu gestalten, ohne auf Fehler seiner Kontrahenten oder auf göttliche Einfälle angewiesen zu sein. Diese Korrektur an seinem Stil verhalf ihm dann schrittweise zur Erlangung des Weltmeistertitels. Im heutigen Rätsel der Sphinx aus seinen frühen Schaffenstagen hatte er seinem Kontrahenten Alatortsew mit einer bahnbrechenden Idee konfrontiert, die bis dahin bestenfalls schemenhaft durchdacht worden war. Infolge der Öffnung der g-Linie auch unter Bauernverlust erhöhte er das Durchschlagungspotential seiner Figuren. Und als Schwarz dann zuletzt mit 1...Le6-f5? einen konkreten Fehler beging, schlug Botwinnik kurz und präzise zu, Wanderer.



SCHACH-SPHINX/06771: Im Lichte eigener Unzulänglichkeit (SB)

Botwinnik - Alatortsew
Leningrad 1934

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Die schwarze Stellung wurde mit 1.Tb3xb7! Dc7xb7 2.Lg3xd6+ erschüttert und fiel in sich zusammen, denn nach 2...Td7xd6 3.Dd5xb7 ginge die Dame und nach 2...Kf8-e8 3.Dd5-g8+ Lg7-f8 4.Dg8xf8# der König verloren.


Erstveröffentlichung am 10. Dezember 2005

9. Dezember 2018


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