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REZENSION/010: Karsten Müller/Luis Engel - Spielertypen (SB)


Karsten Müller/Luis Engel


Spielertypen

Ihre Stärken und Schwächen



Die Geschicklichkeit zweier Menschen im Manövrieren von Steinen auf einem karierten Brett in einen Widerstreit zu setzen und auf diesem Wege die Widersprüchlichkeit menschlicher Denkvorgänge aus der formlosen Welt der Gedanken in eine konkrete sichtbare Struktur und Materialität zu überführen, macht im Kern die fesselnde Faszination am Schachspiel aus. Ist die Zahl der Zugmöglichkeiten rein formal auch unendlich, jedenfalls größer, als es Sterne im Universum gibt, so wird doch der Ausgang jeder Partie aufgrund der Gangart der Figuren und vor allem der Verbindlichkeit des Regelwerks immer und ausschließlich auf drei mögliche Ergebnisse verkürzt: Sieg, Niederlage oder Remis.

Entwicklungsgeschichtlich gesehen hat das Schach die Blindwütigkeit des Zufalls, am Ziel vorbei ein beliebiges Ding zu treffen, aus der Welt geschafft und - was noch wichtiger ist - den Wert einer Entscheidung überprüfbar gemacht. Wie verborgen auch immer: Jeder in der Anlage schadhafte Plan, dessen Saat taub auf Einöden fällt, wie auch jeder einzelne falsche Zug, und mag er noch so sehr die Maske der Rechtmäßigkeit tragen, wird entweder noch auf dem Brett oder spätestens im Nachgang der Analyse als solcher unweigerlich enttarnt. Auch Kombinationen, die augenscheinlich zum Siege führen, aber nur durchdringen, weil die verteidigende Seite die Widerlegung nicht findet, entgehen dem Richterspruch nicht. Eben weil logische Systeme, die auf Prämissen oder einem Kanon von Regeln basieren, stets endliche Lösungen generieren. Jeder, der enthusiastisch Schach spielt, strebt diese Alchemie in die Perfektion an.

Doch wie findet man den Stein der Weisen, wenn selbst die Meister des Fachs ganz unterschiedlichen Konzepten folgen? Als in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts erstmals im eigentlichen Sinne internationale Turniere organisiert und ausgerichtet wurden, das Schach gewissermaßen aus den Cafés und Hinterzimmern in die Metropolen strömte, wo die Fahnenträger der einzelnen Schachnationen die ganze Kraft ihres Könnens in die Waagschale warfen, um in der Rivalität der Köpfe den höchsten Thron zu besteigen, kam es zum zwar leicht verständlichen, aber nichtsdestominder verfänglichen Trugschluß, die große Spannweite der Stile, in die sich die Akteure übten, in zwei Kategorien zu fassen. So wurde die dauerhafte Unterscheidung in Taktiker und Strategen in die Welt gesetzt. Zweifelsohne war dieser Schritt historisch begründet. So war das Gambitspiel, das auf Risiko, Opfer und frühe Königsangriffe setzte, ein Markenzeichen italienischer Renaissancespieler, während in Großbritannien und zum Teil auch in Frankreich eher ein gediegenes Positionsspiel vorherrschte, ein Common sense, der den Sprung ins Abenteuer als übereilt verwarf und sich statt dessen hinter der eigenen Stellung verschanzte.

Diese allgemeine Betrachtung und Zuordnung prägte denn auch das gesamte 20. Jahrhundert, gleichwohl Taktik und Strategie nur zwei Blickwinkel auf ein und dasselbe Problem darstellen. Die Übergänge waren mitunter sehr fließend, was jemand spielte, blieb keineswegs immer auf dem Mutterboden der eigenen Eröffnungsvorlieben verwurzelt. Jedenfalls folgte aus dieser Kategorisierung kein tieferes Verständnis über das Wesen des Schachspiels. 2005 unternahm der Großmeister Lars Bo Hansen in seinem Buch "Foundations of Chess Strategy" den Versuch, den aus der Wissenschaftstheorie stammenden Oberbegriff der "human resources", der Personalabteilungen von Konzernen und Firmen die Einstellung von geeigneten Fachkräften erleichtern sollte, auf die Gilde der Schachmeister vorzugsweise mit Blick auf ihren prägenden Spielstil zu übertragen.

Daraus resultierte ein Modell von vier Spielertypen, das Karsten Müller und Luis Engel in ihrem jüngst erschienenen Buch "Spielertypen - Ihre Stärken und Schwächen" aufgriffen, teils neu einordneten und mit passendem Partiematerial samt erläuternder Analyse nach allen Seiten ergänzten. Die einzelnen Kapitel sind mit einem reichhaltigen Angebot an Aufgaben versehen, lehrreich für jeden Taktikfreund und eine dankbare Hilfe für den Leser, der seinen eigenen Spielertyp ermitteln möchte. Der Lösungsteil findet sich in einem separierten Kapitel und überzeugt durch Gründlichkeit und Umfang. In dem Buch "werden Unterscheidungen und Schubladendenken mit gutem Grund überbetont" (S.10), weil nur so klarere Bilder zu erhalten sind. Gleichwohl die Autoren eine gewisse Skepsis hinsichtlich dieser Art tyrannischer Typologie durchaus einräumen, da die Verschiedenheit der Zugänge zum Schachspiel nicht notwendig prototypisch verläuft, der individuelle Stil sich im Laufe der Erfahrungen durchaus ändern und in diverse Richtungen weiterentwickeln kann, ist es für Turnierspieler dennoch nützlich und aufschlußreich, "Einblicke in die Denkweise anderer Spielertypen zu bekommen" (S.8), wie Vincent Keymer im Vorwort erklärt.

Ob ein Amateur oder Meister seinen anvisierten Erfolg auf dem Brett als kombinationsfreudiger Aktiv- bzw. Hyperaktiv-Spieler bestreitet, als Pragmatiker um einen konkreten Ansatz herum auf die exakte Berechnung von Zugfolgen setzt, oder als Theoretiker Stellungen anstrebt, deren strategische Feinheiten er im Vorwege bis aufs Skelett erforscht hat, um so Überraschungseffekten vorzubeugen, bzw. als Reflektor darauf schwört, die Eröffnungsphase beinah platonisch zu gestalten, um dann im Mittelspiel wirkungsvoll das gegnerische Konterspiel entweder zu vereiteln oder weitgehend zu unterminieren, ist in der Regel eine Frage des Geschmacks oder spezifischen Talents, mit dem ein Spieler gesegnet ist. Müller und Engel ist es auf bewundernswerte Weise gelungen, die Charakterisierung der einzelnen Spielertypen, ihrer Stärken ebenso wie ihrer Schwächen in einem instruktiven Gesamtbild einzufangen. Ausgesuchte Partiebeispiele und die Analyse kritischer Spielmomente sorgen für eine weitere Akzentuierung. Freimütig bekennen die Autoren, mit ihrer Recherche "nur an der Oberfläche (zu) kratzen" (S.230), denn der modellhafte Komplex, den es hier zu untersuchen gilt, ist mit einer solchen Fülle von Fragen und Faktoren verknüpft, daß sich ein gebieterisches Schlußwort notwendig verbietet. Einmal zusammengefaßt zu den einzelnen Spielertypen:

Wir erfahren, daß Pragmatiker scharfe, taktische Stellungen bevorzugen und einen regelrechten Adlerblick für das Ausspähen versteckter Kombinationen besitzen, hingegen Schwierigkeiten haben, langfristige Pläne zu erkennen, wenn diese hinter einem fernen Horizont verborgen liegen. Ausgezeichnet sind Pragmatiker jedoch darin, den Gegner vor unangenehme praktische Probleme zu stellen, deren Bewältigung bestenfalls mit einem Ritt auf schmalem Grat gelingt. Wenn Pragmatiker selbst als Nachziehende früh um die Initiative kämpfen, setzen sie in der Regel einen virtuosen Hebel an; das direkte Spiel mit strategischen Drohungen und taktischen Einfällen geht ihnen über alles und stellt ein grundlegendes Motiv ihrer Spielpraxis dar. Auch scheuen Praktiker nicht davor zurück, zum Beispiel einen Bauern wegzunehmen, auch wenn dies bedeutet, daß sie dem Gegner vorübergehend eine leichte Initiative überlassen. Dabei vertrauen sie voll und ganz auf ihre Variantenberechnung, um die gefährlichen Klippen zu umschiffen und das gewonnene Material schließlich zu verwerten. Ein brillanter Vertreter der Pragmatikerzunft war Bobby Fischer. Auch Garry Kasparow und Visnawathan Anand haben es auf diesem Feld weit gebracht und wie der US-Amerikaner den Weltmeisterthron erobert.

Hingegen bewerten Aktivspieler Initiative und Angriffschancen weit höher als das Material. Wenn sie opfern und das Spiel verwickeln, geschieht dies eher intuitiv und unabhängig davon, ob das Materialopfer objektiv gesehen korrekt ist. Statische Schwächen und kompromittierende Bauernstrukturen nehmen sie billigend in Kauf, wenn sie dafür im Gegenzug eine dynamische Kompensation erhalten, die es ihnen erlaubt, ihren Figuren eine maximale Wirkung zu verleihen. Unruhe aufs Brett zu bringen, ist ihr oberstes Gebot, und so bereichern sie die Eröffnungstheorie speziell in Varianten, die zu einem wilden Tanz einladen, immer wieder mit Neuerungen. Bei aller Taktikfreude sind ihre Schwächen nicht minder offensichtlich. Zumal in strategischen Endspielen überstürzen sie aufgrund ihrer Neigung, stets etwas Aktives unternehmen zu wollen, mitunter die Verteidigung oder improvisieren eine Art von Pseudoaktivität, wo es besser wäre, die Stellung zu konsolidieren, um innerhalb der Remisbreite zu bleiben. Der allzu kurze Geduldsfaden rächt sich dann.

Hyperaktiv-Spieler sind sehr speziell und auf hohem Niveau eher selten anzutreffen. Sie fegen wie Derwische über das Brett und erstaunen die Fachwelt mit Kombinationen, die schillernd und spektakulär, aber nicht notwendig zwingend sind. Der Zauberer aus Riga, Michail Tal, hielt als einziger aus dieser Reihe bunter Paradiesvögel zumindest für eine kurze Zeit den Thron inne. Von ihm stammt der Ausspruch: "Es gibt korrekte Opfer und meine." (S.232) Tatsächlich war Tal ein außergewöhnlicher Spieler, dessen Opferzüge zuweilen brillant herausgespielt waren, nicht immer korrekt, aber am Brett schwer bis unmöglich zu widerlegen. Seine Gabe ließ in späteren Jahren nach, auch aus gesundheitlichen Gründen. Auf jeden Fall war sein Stil sehr kräftezehrend und auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten.

Von einem ganz anderen Geist beseelt sind die Theoretiker, die mit einem Koffer solider Eröffnungssysteme, in denen sie sich gut auskennen, zu den Turnieren kommen. Wichtig ist ihnen, in vertrauten Strukturen zu operieren. Ihr Eröffnungsrepertoire ist gering, oft wählen sie jahrelang die gleichen Varianten, deren Manöver und Pläne ihnen ins Blut übergegangen sind. Eine gewisse Dogmatik ist ihnen freilich nicht abzusprechen, sie vertrauen auf allgemeine Strategeme und Prinzipien, die sie systematisch zu einem Theoriegebäude errichtet haben, auch wenn dies in der Praxis nie ganz überzeugen kann, weil die Ausnahmen die Zahl der Regelfälle weit übersteigen. Theoretiker wollen ihr Haus mit aufs Brett nehmen, darin ähneln sie den Schnecken im Garten. Während Aktivspieler ihrem Wesen nach Bilderstürmer sein müssen, verehren Theoretiker ihre Eröffnungen wie Götzenbilder. Sie auf eigenem Terrain zu überraschen, ist nicht leicht, im Neuland hingegen, sofern man sie aus ihren Stellungen herausgetrieben hat, fällt ihnen die mangelnde Flexibilität ihres Spiels mitunter auf die Füße. Gleichwohl zeichnet Theoretiker eine hohe Remisquote aus.

Reflektoren sind schwer zu fassen. Ihr feines Gespür für die Koordination der Figuren läßt sich kaum nachahmen, sie besitzen ein "absolutes Gehör" für die verborgenen Botschaften in einer Stellung. Im Unterschied zum Theoretiker und seinem liebgewonnenen Tapetenstil sind Reflektoren in der Lage, auch für sie untypische Figurenformationen bis auf den kleinsten Buchstaben zu lesen. Mag ein strategischer Vorteil noch so winzig sein, im Ansammeln und Verdichten sind Reflektoren nicht weniger geschickt als ein Ameisenstaat. Ihre gefährlichste Waffe ist jedoch die aktive Prophylaxe: gegnerische Figuren maximal einzuschränken und sich abzeichnende Manöver, die dem Opponenten ein Gegenspiel erlauben würden, weit im Vorfeld zu entkräften. Aus der Eröffnung einen greifbaren Vorteil zu erzielen, hat für sie keine Dringlichkeit, ihnen genügt eine ausgeglichene Stellung, in der sie dank ausgereifter Dominanz- und Restriktionsstrategien allmählich, fast unmerklich die Oberhand gewinnen.

Im besonderen verstehen sich Reflektoren auf den richtigen Zeitpunkt für einen Figurenabtausch, um den Weg freizumachen für die Transformation eines bestimmten Vorteils in einen höherwertigen. Im taktischen Bereich bevorzugen Reflektoren langfristige positionelle Opfer, zumeist die eines Turms gegen eine Leichtfigur. Sie folgen dabei ihrer feinen Witterung und wissen intuitiv, daß sie mit dem Hergeben der Qualität auf lange Sicht einen Strauß ungleich stärkerer Optionen eintauschen, im Ansteuern auf eine Stellung, in welcher der Gegner mit dem materiellen Mehrbesitz nichts anfangen kann, weil die Koordination seiner Kräfte gestört bleibt. Ein solches tiefgründiges Gespür zu entwickeln, erfordert natürlich ein fast schon überirdisches Spielverständnis, weswegen Reflektoren reinsten Wassers rar gesät sind an Caissas Hof. Der amtierende Weltmeister Magnus Carlsen gehört zu diesem Schlag. In der Schachgeschichte haben mit José Raúl Capablanca, Wassily Smylow, Tigran Petrosjan und Anatoli Karpow, als dessen Reinkarnation Carlsen gilt, starke Reflektoren den Thron teilweise über eine lange Regentschaft gehalten.

Müller und Engel zufolge wird das Thema der Spielertypen in der Schachwelt deutlich unterschätzt. Damit haben sie sicherlich recht, doch welche Quintessenz folgt auf dem Fuße? Ein Mosaik macht noch kein Bild, ein Pinselstrich kein Gemälde, zumal die Universalität des Denkens und keine isolierte Spielauffassung als höchstes erstrebenswertes Ziel angesehen wird. Fertigkeiten, die sich taktische Raufbolde wie Hikaru Nakamura und Schakhriyar Mamedyarow angeeignet haben, verdienen Respekt, aber den Lorbeerkranz erringen sie damit nicht. Sie sind Schachkrieger, keine Feldherren. Und überhaupt: Ist es wirklich ratsam, wiederkehrende Spielereigenschaften zu einem statistischen Profil, denn um nichts anderes handelt es sich bei einer Typologie, zu verdichten, um das Geheimnis des Schachspiels aufzudecken?

Das Autorengespann räumt unumwunden ein, daß das Modell der vier Spielertypen letztlich auf der vereinfachenden Einteilung in Taktiker und Strategen aufsetzt, im Grunde also eine Differenzierung vornimmt. Aktivspieler und Pragmatiker stehen demnach auf der Seite der Taktiker, Reflektoren und Theoretiker hingegen auf Seiten der Strategen. Eine Zeitenwende ist das noch nicht und zur Erklärung eines Entwicklungsschritts taugt es ebenso wenig. An dieser Stelle, wo Zweifel an der Aussagekraft des Buches quer durch den Raum schießen, beginnt sein eigentliches Metier und der tiefere Zweck seiner Veröffentlichung. Indem die Autoren nachweisen, daß einige Aktivspieler sich im Laufe der Jahre zu Pragmatikern wandelten, kühne Opferzüge vermieden und der verläßlichen Berechnung von Kombinationen den Vorrang gaben, während andersherum sich Theoretiker bisher kaum zu Reflektoren emporhangelten, wird ein bestimmter Zusammenhang, noch vage im Entstehen, angedeutet.

Ein Blick ins Buch verrät, daß mit Garry Kasparow ein Aktivspieler respektive Pragmatiker die Weltrangliste 2005 angeführt hatte, gefolgt von den Aktivspielern Anand und Wesselin Topalow, aber in der Top-10 kein einziger Reflektor vertreten war. 15 Jahre später ein ganz anderes Bild: Der Norweger Carlsen hält den Thron als weithin einziger Spielertyp des Reflektors, im Gefolge vier Pragmatiker, ehe sich mit Alexander Grischuk und Levon Aronjan zwei Aktivspieler zu Wort melden. Lars Bo Hansen hatte in seinem Buch 2005 die Vorhersage gewagt, daß mit der Zeit immer mehr Aktivspieler die Spitze stürmen würden. Dies trat nicht ein, vielmehr stieg die Zahl der Pragmatiker deutlich, die der Aktivspieler sank dagegen. Müller und Engel ziehen daraus kein Resümee, dafür wären weitergehende Untersuchungen nötig, aber doch gewisse Schlüsse in Hinsicht auf den gesellschaftlich-technologischen Wandel und wachsenden Einfluß der Computer und Schachprogramme auf das Königliche Spiel. Um ihren Denkansatz zu unterfüttern, verweisen sie auf das Buch "Modern Chess Formula" des renommierten Trainers und Großmeisters Wladimir Tukmakow, darin sich dieser mit den modernen Phänomenen in der Schachwelt auseinandersetzte. Einige seiner Thesen, als Zitate in einem eigenen Kapitel wiedergegeben, werden von Müller und Engel sorgfältig aus dem Blickwinkel des Modells der vier Spielertypen interpretiert und eingeordnet.

Die heutige Dominanz von Pragmatikern gegenüber Aktivspielern könnte demzufolge weniger auf einen Gesinnungswandel als vielmehr darauf hinweisen, daß Pragmatiker wiederkehrende Probleme innerhalb des taktisch-strategischen Spektrums vorab zu Hause mit Hilfe des Computers durch brute-force-Berechnungen lösen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse in ihr Repertoire aufnehmen. Mag sein, daß bestimmte Schachspieler darüber selbst zu Alpha Beta Engines geworden sind. Auf jeden Fall hätten sie damit im sportlichen Wettkampf einen unbestreitbaren Vorteil gegenüber der Waghalsigkeit von Aktivspielern als auch der Phlegmatik von Theoretikern, die ohnehin nur eine kleine Gruppe im Typenregister stellen. Wer mit Computern aufgewachsen ist, hat keine Scheu vor Programmen gehabt. Beispielsweise ist vom Weltranglisten-Zweiten Fabiano Caruana bekannt, daß er während seiner Karriere zwar wiederholt Trainer ausgewechselt, aber niemals auf seinen Analyse-Computer verzichtet hat. Dies könnte auch erklären, daß unter den Top-10 heutzutage keine Spieler älterer Jahrgänge mehr zu finden sind und warum bahnbrechende Theoriewerke wie Aaron Nimzowitschs "Mein System" oder die Ära der Hypermodernen Schachschule einer inzwischen verlorenen Vergangenheit angehören.

Oft ist darüber gerätselt und gestritten worden, ob das Schachspiel Kunst oder Kurzweil, ein prometheischer Funke umgeben von ahnungsloser Dunkelheit oder doch nur ein Augenzwinkern und lachendes Vergnügen in einem kindlichen Gesicht ist. Manche halten das Schach für den edelsten Ausdruck des Kampfes um welchen Preis auch immer. Sieht man von diesen subalternen Fragen und den mehr oder weniger plausiblen Ursprungsmythen einmal ab, ist das Schachspiel, wie übrigens das Kennzeichen aller Spiele, nichts anderes als die Übereinkunft auf ein Regelwerk; was aber auf dem Brett geschieht, ist menschlich wandelbar und korreliert mit den gesellschaftlichen Veränderungen und technischen Innovationen. Die Bedingungen erschaffen das Bewußtsein, die Hand formt sich nach dem Werk.

Und hier schließt sich der Kreis der im Buch aufgeworfenen Themen und Fragestellungen. Müller und Engel nutzen den Umweg über die vier Spielertypen, deren Überzeichnung allzu deutlich ins Auge fällt, insbesondere dazu, einen bestimmten Sachverhalt herauszukristallisieren. Gerne wird behauptet, daß der Gebrauch der Computer das schachliche Denken vorangetrieben und auf eine neue Stufe gestellt habe. Dafür gibt es weder einen Beleg noch Beweis. Computer sind pure Rechenmaschinen, Uhrwerke der Präzision nach Vorgabe der sie in Gang setzenden Algorithmen. Die Synthese von Geist und Maschine hat gleichwohl den Degenstoß der Taktiker zu verfeinern geholfen und dazu geführt, aus Aktivspielern, die in ihren Opferattacken zuweilen hasardeurisch wirkten, kombinationsgereifte Pragmatiker zu machen. Bei den Theoretikern gelang dieser Quantensprung nicht, offenbar, weil sie zu sehr an ihrem Schneckenhaus hängen.

Interessanterweise ist die Figur des Reflektors nicht eindeutig einzuordnen. Die Autoren weisen darauf hin, daß ein Spieler wie Carlsen durchaus universal aufgestellt und in der Lage ist, die Qualitäten eines Aktivspielers oder Theoretikers in sein Spiel einzubauen, aber zugleich über Fähigkeiten verfügt, die nicht nachgeahmt werden können. Als Kind der Moderne hat Carlsen sich ganz sicher der Computeranalyse bedient und darüber sein Schachverständnis reifen lassen, aber möglicherweise war er nicht bereit, zum Preis der Hörigkeit seine Selbständigkeit aufzugeben. Als Reflektor scheint er das Mißverständnis in der Unterscheidung zwischen Taktiker und Strategen für sich behoben zu haben. Für Überlegungen dieser Art den Rahmen geschaffen zu haben, auch wenn sie eher unterschwellig und zwischen den Zeilen vermittelt werden, gebührt den Autoren Dank.

"Spielertypen" ist eine Reise durch die Zeitgeschichte moderner Veröffentlichungen zu Fragen von fundamentaler Bedeutung für die Zukunft des Schachspiels und berührt über den rein sportlichen Aspekt hinaus Randgebiete des Geistes, die bisher kaum erschlossen sind. Das Buch ist ein Beitrag aus eigener Feder dazu, lesenswert allemal, weil es Fragen zu präzisieren hilft und letztgültigen Antworten eine Absage erteilt.

15. Dezember 2020


Karsten Müller/Luis Engel
Spielertypen
Ihre Stärken und Schwächen
Joachim Beyer Verlag 2020
244 Seiten, 27,80 Euro
ISBN: 978-3-95920-129-3


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