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BERICHT/044: Zivilgesellschaft von der Polis bis zur globalisierten Welt (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 118/Dezember 2007
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Echolot des Gemeinwesens
Zivilgesellschaft von der Polis bis zur globalisierten Welt

Von Jürgen Schmidt


Zivilgesellschaft bezeichnet nicht nur einen zwischen Staat, Markt und Privatsphäre situierten Raum. Er bezieht auch Normen und Handlungsweisen ein. Dabei kommt dem bürgerschaftlichen Engagement des Individuums eine zentrale Rolle zu. Diese Perspektive erlaubt es, Traditionen, Brüche und Kontinuitäten des Zivilgesellschaftskonzepts zu verorten und seine Ambivalenzen sichtbar zu machen. Zivilgesellschaft erscheint so modern und traditionsgebunden zugleich.


Der in den aktuellen Debatten der politischen Öffentlichkeit häufig verwendete Begriff der Zivilgesellschaft weist inzwischen eine beachtliche Tradition auf. Was vor mehr als 20 Jahren im englischen Sprachraum unter dem Begriff "civil society" entwickelt wurde, etablierte sich vor rund 15 Jahren in der deutschen Sprache als Zivilgesellschaft. Freilich sind diese fast drei Jahrzehnte nichts im Vergleich zu den rund 2.500 Jahren, in denen sich das heutige diffuse Verständnis von Zivilgesellschaft von der Antike über das Mittelalter, die Neuzeit bis zur Gegenwart entwickelte.

Der Begriff der Zivilgesellschaft wird oft als schwammig bezeichnet und als Allzweckwaffe im wissenschaftlichen, politischen und journalistischen Tagesgeschäft eingesetzt. Manchen Wissenschaftlern bietet er sich an, komplexe Gesellschaftsabläufe zu bündeln und zu analysieren, für andere ist er ein schwarzes Loch, das alles in sich absorbiert. Manchem Politiker dient er als ideologisches Rüstzeug, um die Bürger zu mehr Eigenverantwortung zu bewegen, anderen als segenbringendes Heilmittel, um der zersplitterten Gesellschaft eine neue Kohäsionskraft zu verleihen. Im journalistischen Sprachgebrauch gilt der Begriff als Synonym für das System westlicher Demokratien schlechthin oder dient in eingeengter Wahrnehmung lediglich als ein Ausdruck für die Nichtregierungsorganisationen dieser Welt.

Definiert man Zivilgesellschaft nicht nur als einen Raum zwischen Staat, Markt und Privatsphäre, sondern bezieht Normen und Handlungsweisen mit ein, kommt dem "bürgerschaftlichen Engagement" des Einzelnen eine wichtige Rolle zu. Diese Perspektive erlaubt es, Traditionen, Brüche und Kontinuitäten des Zivilgesellschaftskonzepts zu verorten und seine Ambivalenzen sichtbar zu machen.

Bürgerschaftliches Engagement meint, dass die Mitglieder eines Gemeinwesens zusammentreffen, um für das Gemeinwesen einen Beitrag zu leisten. In der Antike findet sich dieses Ideal in der griechischen Stadtgemeinde, der Polis, in der die mit den entsprechenden Tugenden und materiellen Gütern ausgestatteten Bürger über ihre Stadt befinden. Nur in der Partizipation am Gemeinwesen finden die Bürger ihre Erfüllung. In einem Brief an Archytas mahnte Platon (427-347 v. Chr.): "Aber ungehörig ist es wohl, wenn das Vaterland selbst uns zur Teilnahme an dem Gemeinwesen auffordert, dieser Aufforderung keine Folge zu leisten." Demnach handelte es sich beim bürgerschaftlichen Engagement keineswegs nur um Rechte der Bürger, sondern auch um Pflichten, die sie dem Gemeinwesen gegenüber erbringen mussten; wurde ihnen nicht nachgekommen, verlor man nicht nur seine Mitwirkungsrechte, sondern brachte das gesamte Gemeinwesen in Gefahr.

Das bürgerschaftliche Engagement vollzog sich allerdings im Rahmen des bestehenden Staates, der Polis, nicht - wie im heutigen Verständnis von bürgerschaftlichem Engagement - jenseits staatlicher Strukturen. Dieser bürgerlichrepublikanische Strang, wonach "die Bürger über sich selbst bestimmen" und "sich frei und politisch selbst organisieren sollen", ist dem Zivilgesellschaftsbegriff trotz aller Bedeutungswandlungen "nie verlorengegangen", lautet das Fazit des Historikers Reinhart Koselleck.

Nimmt man diese Argumentation auf, so findet sich die Aufforderung zu zivilgesellschaftlichem Engagement auch in Texten, die in Zivilgesellschaftsdebatten selten wahrgenommen werden. Selbst in den spätmittelalterlichen Überlegungen über eine Reform des Papsttums sowie bei der Reform der Kirche spielt die Einbeziehung und Partizipation der Gemeinden und der Gemeindemitglieder eine wichtige Rolle. Nikolaus von Kues etwa wollte 1433 in seiner Schrift "De concordantia catholica" die Konzilien gegenüber dem Papst stärken. Eine Möglichkeit sah er darin, die Vertreter des Konzils durch geheime Wahlen bestimmen zu lassen. Eines seiner Argumente für das Wahlverfahren lautete, dass die Menschen, "wenn sie nicht in die Einsetzung ihres Oberhaupts miteinbezogen werden", auch nicht für dessen Fehler verantwortlich gemacht werden können. Kues ging es dabei noch nicht um eine umfassende Selbstorganisation; vielmehr strebte er eine möglichst große "Übereinstimmung" zwischen Gemeindemitgliedern, Gemeinde, Konzil und Papst an. Dennoch öffnete diese Idee in der Theorie größere Mitwirkungsräume im Rahmen der Kirche und war eine Aufforderung an die Gemeindemitglieder, sich in ihrer Gemeinde einzubringen.

Noch expliziter machte dies hundert Jahre später Martin Luther, als er die Gemeindemitglieder aufforderte, "unter uns diejenigen selbst [zu] berufen und einsetzen, die man geschickt dazu findet" zu lehren und zu predigen. Allerdings wollten beide Autoren von der konkreten Umsetzung ihrer bürgerschaftlichen Vorstellungen nichts wissen: Nikolaus von Kues wurde wieder ein treuer Gefolgsmann des Papstes, als er in der Karriereleiter nach oben stieg, und Martin Luther verfluchte die Bauern des Bauernkriegs von 1525, als diese seine Texte als Aufforderung zur Revolte verstanden.

In der Vorstellung über die deutsche Stadtgemeinde und ihre Bürger um die Wende zum 19. Jahrhundert tauchten bürgerschaftliche Vorstellungen wieder auf. In der "Nassauer Denkschrift" von 1807, die als Markstein in der Vorbereitung der preußischen Reformen gilt, plädierte Karl Freiherr vom Stein dafür, in der Verwaltung der Bezirke nicht auf ortsfremde Beamte zu setzen, sondern auf die Partizipation der mit den regionalen Gegebenheiten vertrauten Bürger und Eigentümer: "Ersparung an Verwaltungskosten ist aber der weniger bedeutende Gewinn, der erhalten wird durch die vorgeschlagene Teilnahme der Eigentümer an der Provinzial-Verwaltung, sondern weit wichtiger ist die Belebung des Gemeingeistes und Bürgersinns." Eine konkrete Umsetzung erfuhr dieser Ansatz etwa in der Preußischen Städteordnung von 1808, in der es unter anderem hieß: "Jeder, der Bürger werden will, ist verbunden, dem Magistrat den Bürgereid zu leisten, und muß sich darin verpflichten, diese Ordnung aufrecht zu erhalten und das Beste der Stadt nach seinen Kräften zu befördern."

Freilich bestanden im Vergleich zur antiken Tradition zwei entscheidende Unterschiede. Zum einen wurde in der griechischen Antike der Staat durch dieses bürgerschaftliche Engagement erst konstituiert, während im 19. Jahrhundert zwar über den Ort der Gemeinde im Staat debattiert wurde, die Gemeinde aber nicht gleichbedeutend mit dem Staat war. Auch waren im Ideal der griechischen Polis die Bürger frei von der Verpflichtung einer Arbeit nachzugehen, während im 19. Jahrhundert die durch Arbeit erworbenen Eigentumsrechte erst den Weg in den Bürgerstatus und damit zur Teilhabe am politischen Geschehen der Stadt eröffneten.

An der Wende zum 21. Jahrhundert - weiterentwickelt aus den Erfahrungen der osteuropäischen Zivilgesellschaft und der angelsächsischen Debatte - wurde der Appell an die tugendhaft-republikanischen Bürger wieder aktualisiert. Ein durch die Globalisierung herausgeforderter Sozialstaat sah sich gezwungen, die Bürger an ihren Anteil am Gemeinwesen zu erinnern. So unterschiedliche Politiker wie Gerhard Schröder und George W. Bush bedienten sich einer ähnlichen Rhetorik. Der deutsche Bundeskanzler sah im Jahr 2000 die Aufgabe der Politik darin, "dass wir der Gesellschaft Raum schaffen, ihre Belange selbst zu regeln - und zugleich den Beitrag jedes einzelnen zur Gestaltung seines eigenen und des gesellschaftlichen Lebens einfordern". Der amerikanische Präsident rief in seiner Inaugural-Rede von 2001 seinen Landsleuten zu: "Ich fordere Sie auf, nach einem Gemeinwohl jenseits ihrer Bequemlichkeit zu streben, notwendige Reformen gegen leichtfertige Attacken zu verteidigen, Ihrer Nation zu dienen, angefangen bei Ihrem Nachbarn. Ich fordere Sie auf, Bürger zu sein; Bürger, nicht Zuschauer; Bürger, nicht Untertan." Bush machte sich die amerikanische "Meistererzählung" von Freiheit, Aufstieg des Einzelnen und Eigeninitiative zunutze; Zivilgesellschaft mit ihrem bürgerschaftliches Engagement wird so zu einer "Selbstbeschreibungssymbolik" der Nation, wie es der Soziologe Jeffrey Alexander ausdrückt. Schröder wiederum instrumentalisierte den Begriff, um den Rückzug des Staates aus einem Teil seiner bisherigen sozialen Aufgaben vorzubereiten.

Neben das bürgerschaftliche Engagement in der Gemeinde oder für die Gemeinde (bzw. für die Gesellschaft) tritt für den Zivilgesellschaftsbegriff eine weitere wichtige Dimension bürgerschaftlichen Engagements: Als im 18. und frühen 19. Jahrhundert die synonym verwendeten Begriffe von bürgerlicher Gesellschaft und Staat geschieden wurden (im deutschen Sprachraum war hier Georg Wilhelm Friedrich Hegel am einflussreichsten), suchte man nach Vermittlungsinstanzen zwischen diesen Bereichen. "Intermediäre Sphären" gerieten in den Blick, zunächst bei Montesquieu in Form des Adels als vermittelnde Instanz im Rahmen der Monarchie. Der Adel sollte einerseits ein Abgleiten der Monarchie in Despotie verhindern und andererseits die Macht des Regenten beschränken, aber auch nach unten durchsetzen. Im 19. Jahrhundert geschah die Vermittlung zwischen Staat und Gesellschaft durch die Vereine und Assoziationen. Dort konnten die Bürger ihre Interessen artikulieren, verdichten und schließlich an die Öffentlichkeit bringen. Alexis de Tocqueville berichtete begeistert über diese Fähigkeit zur Selbstorganisation der Amerikaner im Vergleich zu den von oben herab verwalteten Europäern. Daher kritisierte in der Revolution von 1848 auch der Autor des Artikels "Assoziation" in dem von Robert Blum herausgegebenen "Volksthümlichen Handbuch der Staatswissenschaften und Politik", ein Volk dürfe "sich nicht schmeicheln, in den freien Gebrauch aller seiner Kräfte getreten, aus dem Laufstuhl der Bevormundung entlassen zu sein", solange es "noch nicht durch entschiedenen Willen die Anerkennung des Rechts der Assoziation" erworben habe. Dem bürgerschaftlichen Engagement in Vereinen wurde eine eigene Qualität zugeschrieben. Vereine bannten die Gefahr der Atomisierung der Gesellschaft, in ihnen wurden interessenübergreifende Gemeinschaften gebildet und auf diese Weise "soziales Kapital" angehäuft, von dem nicht nur das Individuum, sondern auch die Gesellschaft und das Gemeinwesen profitierten.

Zunehmend gerieten aber auch die Schattenseiten dieses bürgerschaftlichen Engagements in den Blick. Starkes bürgerschaftliches Engagement, eine hohe Vereinsdichte und vielfältige ehrenamtliche Aktivitäten garantierten noch längst keine stabilen demokratischen Strukturen. Zivilgesellschaftliche Gruppen konnten unterwandert werden oder wurden genutzt, um Eigeninteressen durchzusetzen, die Demokratie zu delegitimieren oder Verhalten zu befördern, das zivilgesellschaftlichem Handeln entgegenstand. Auf dem Soziologenkongress 1910 urteilte Max Weber, dass das Vereinswesen, etwa in Gesangsvereinen, den Staatsbürger zum passiven, auf seine Freizeit beschränkten Bürger macht: "Es ist kein Wunder, daß die Monarchen eine so große Vorliebe für derartige Veranstaltungen haben. 'Wo man singt, da laß dich ruhig nieder.' Große, starke Leidenschaften und starkes Handeln fehlen da."

Bürgerschaftliches Engagement meint zwar, die Bürger und Bürgerinnen für das Gemeinwesen zu gewinnen. Dieser Prozess kann aber auch mit starken Ausgrenzungsmechanismen einhergehen. Schon die Bürger der griechischen Polis nahmen billigend die Existenz der Sklaven in Kauf; die Partizipationsrate der Bürgergesellschaft in den deutschen Bürgerstädten des frühen 19. Jahrhunderts erreichte kaum die Zehn-Prozent-Marke, war der Bürgerstatus doch an die Forderung nach der "Selbständigkeit" der Bürger geknüpft - Arbeiter, Gesellen, Dienstboten blieben ausgegrenzt.

Zudem funktionierte Zivilgesellschaft lange Zeit als ein reines Männerprojekt; Frauen war der Weg in die öffentliche Sphäre im 19. Jahrhundert oft verwehrt. Die Privatsphäre, in der bürgerschaftliches Engagement eingeübt werden konnte, wurde häufig nicht als Betätigungsfeld wahrgenommen. Hinzu kommt: Wer sich bürgerschaftlich engagiert, braucht Zeit, Geld und muss über bestimmte Fertigkeiten verfügen, die nicht allen gegeben sind. Die jüngste Diskussion über die Existenz einer Unterschicht in Deutschland zeigt, dass zivilgesellschaftliche Partizipation manchmal an ihre Grenzen stößt und die Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen nicht immer verhindern kann. Der Historiker Paul Nolte etwa stellte in diesem Zusammenhang die Frage, ob sich Zivilgesellschaft "alleine mit einer bürgerlich und politisch engagierten Mittelklasse herstellen" lässt.

Bürgerschaftliches Engagement als wichtiges Merkmal der Zivilgesellschaft lässt sich zusammenfassend als Sonde beschreiben, die die vielfältigen Facetten des Zivilgesellschaftsbegriffs sichtbar machen kann. Seine normativen Implikationen werden erkennbar; die ambivalenten Züge zivilgesellschaftlicher Akteure lassen sich analysieren; Überschneidungsflächen zwischen dem öffentlichen Engagement und der Privatsphäre zeichnen sich ab. Gleichzeitig bietet der Rückgriff auf die bürgerschaftliche Seite der Zivilgesellschaft die Möglichkeit, die lange Traditionslinie des Begriffs herauszuarbeiten und ihn nicht nur als ein Produkt der letzten 30 Jahre zu sehen.


Jürgen Schmidt studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Germanistik in Heidelberg, Innsbruck und Berlin (FU), wo er promoviert wurde. Von 2003 bis 2007 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter der WZB-Forschungsgruppe "Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa", seit April 2007 ist er bei der Forschungsprofessur "Historische Sozialwissenschaften". Zurzeit arbeitet er an einer Studie zur Entstehung der deutschen Arbeiterbewegung in ihrem gesellschaftlichen Umfeld und ihren transnationalen Beziehungen.
jschmidt@wzb.eu


Weiterführende Literatur:

Frank Adloff Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis, Frankfurt a.M./New York: Campus 2005, 170 S.

Bürgerschaftliches Engagement" (Themenheft), Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", Nr. 12/2006, 20. März 2006

Manfred Riedel, "Gesellschaft, bürgerliche", in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart: Klett-Cotta 1975 (Neudruck 1979), S. 719-800

Jürgen Schmidt, Zivilgesellschaft. Bürgerschaftliches Engagement von der Antike bis zur Gegenwart. Texte und Kommentare, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007, 352 S.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 118, Dezember 2007, Seite 7-10
Herausgeber:
Der Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2008