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BERICHT/052: Migrationsstudien - Augsburger Wissenschaftspreis verliehen (idw)


Universität Augsburg - 20.05.2009

Migrationsstudien:
Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien an Erziehungswissenschaftler und Kulturgeografin


Mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien 2009 wird der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Dr. Marc Oliver Thielen ausgezeichnet, der Förderpreis geht an die Eichstätter Kulturgeografin Olga Krahn. Thielen verweist in seiner Studie auf den Zusammenhang von Fluchtmigration und Sexualität. Krahn betrachtet in ihrer Diplomarbeit den Wandel urbaner Integrationsfunktion mit Fokus auf Spätaussiedler. Der mit 5.000 Euro dotierte Hauptpreis und der Förderpreis (1.500 Euro) werden vom "Forum Interkulturelles Leben und Lernen e.V." gemeinsam mit der Stadt und Universität Augsburg verliehen. Die Preisverleihung findet am 25. Mai 2009 um 19.00 Uhr im Augsburger Rathaus statt.

"Wo anders leben? - Migration, Männlichkeit und Sexualität in biografischen Erzählungen iranischer Männer in Deutschland"

Marc Oliver Thielen hat an der Johann Wolfgang Goethe Universität zu Frankfurt am Main promoviert. Seine Dissertation trägt den Titel "Wo anders leben? - Migration, Männlichkeit und Sexualität in biografischen Erzählungen iranischer Männer in Deutschland". Sie wurde aus dreizehn Bewerbungen ausgewählt und mit dem auf 5.000 Euro dotierten Hauptpreis ausgezeichnet. "Mit der Thematik hat der Hauptpreisträger ein vermeintliches Randthema aufgegriffen und gleichzeitig eine offensichtliche Forschungslücke sowohl in der Geschlechterforschung (gender studies) als auch im Bereich der interkulturellen Studien geschlossen. In dem sich aktuell formierenden Feld der kritischen Männerforschung lenkt er den Blick auf die Effekte sexueller Orientierung von Flüchtlingen und ihre Wirkung im Asylverfahren ohne eine vereinfachend kulturalisierende und ethnisierende Perspektive einzunehmen", erklärt Jury-Vorsitzender Prof. Dr. Dr. Eckhard Nagel.

Die empirische Basis der Arbeit bilden dreizehn autobiographische narrative Interviews mit Männern, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung aus dem Iran flüchten mussten. Der bisher wenig diskutierte Zusammenhang von Fluchtmigration und Sexualität wird in einer dichten Beschreibung von Lebenswelten und Lebensweisen von Flüchtlingen dargestellt, die im Gegensatz zum Fokus bisheriger Studien nicht aus bildungsfernen und sozial randständigen Milieus kommen, sondern fast ausnahmslos mittelständischen, ökonomisch gut situierten Familien entstammen. Seit Ende der 1980er Jahre wird gleichgeschlechtliche Orientierung in der deutschen Asylrechtspraxis als Fluchtmotiv grundsätzlich anerkannt. In respektvollem und unprätentiösen Ton beschreibt Thielen, wie das Asylverfahren ein "Coming Out" - die Offenbahrung des gleichgeschlechtliches Begehren - erzwingt. Um das Asylanliegen zu legitimieren, entfaltet sich eine erneute repressive Situation. Die Befunde verweisen damit interessanter Weise auf eine Verschiebung der Diskriminierung vom Herkunfts- zum Aufnahmeland und stellen zugleich gängige Stereotypen zur Männerrolle in islamischen Gesellschaften in Frage.

Darüber hinaus gewinnt die Arbeit durch eine kritische Reflektion bestimmter Begrifflichkeiten. Hierzu gehören Definitionen wie "Sodomie" und "Homosexualität", für die respektvollere Begriffe wie z. B. "gleichgeschlechtliches Begehren" gesetzt werden. Überdies spricht der Verfasser an keiner Stelle von "defizitären Sprachkenntnissen" seiner Interviewpartner, sondern von "Sprachdifferenz", was eine Voraussetzung nicht nur für eine vorurteilsfreie Forschung sondern auch für einen interkulturellen Zugang ist. Zur Reformierung der Wissenschaftssprache gehört auch, dass keine binäre Aufteilung zwischen "tolerantem Westen" und "repressivem Orient" entsteht und Migration als Befreiung, als Sicherung der Lebensentwürfe diskutiert wird.

Der Hauptpreisträger Dr. Marc Oliver Thielen

Thielen wurde 1976 in Saarbrücken geboren und besuchte dort auch das Gymnasium. Er studierte zunächst an der Katholischen Fachhochschule für Soziale Arbeit und erwarb dort das Diplom zum Sozialarbeiter/Sozialpädagogen. Diesem Abschluss hängte er umgehend ein Studium der Erziehungswissenschaften in der Heil- und Sonderpädagogik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main an, welches er drei Jahre später als Diplompädagoge beendete. Seither ist er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sonderpädagogik der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main in der Fachrichtung Lernhilfe tätig, wo er am Fachbereich Erziehungswissenschaften mit dem Prädikat "summa cum laude" promovierte.

Zwischenzeitlich war Dr. Thielen als pädagogischer Mitarbeiter bei der Ambulanten Jugend- und Familienhilfe Rodgau in der intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung als sozialpädagogischer Familienhelfer tätig und hat die wissenschaftlichen Begleitung der SchuB-Fördermaßnahme (Lernen und Arbeiten in Schule und Betrieb) in Hessen koordiniert.

Die Förderpreisträgerin Olga Krahn

Den Förderpreis bekam Olga Krahn für ihre Arbeit "Lokale Identitäten und Gemeinschaft. Beteiligung von Spätaussiedlern an "Soziale Stadt"-Programmen - dargestellt am Piusviertel in Ingolstadt" zugesprochen. Sie wurde 1981 in Moskau geboren und kam im Alter von zwölf Jahren nach Deutschland. In Rudolstadt, Thüringen und in Nürnberg besuchte sie die Schule und studierte anschließend Geographie mit den Nebenfächern BWL und Lateinamerikanistik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Es folgten Tätigkeiten im Bereich Stadtentwicklung und Marktforschung. Seit April 2009 arbeitet Frau Krahn in der projektbezogene Assistenz bei der CIMA GmbH im Bereich Einzelhandels- und Marktuntersuchungen.

Lokale Identitäten und Gemeinschaft. Beteiligung von Spätaussiedlern an 'Soziale-Stadt'-Programmen - Dargestellt am Piusviertel in Ingolstadt

Bei der Diplomarbeit handelt es sich um einen sozialgeographischen Beitrag, der die Frage nach Beteiligungspotenzialen von Spätaussiedlern im Rahmen des Bund-Länder-Programms "Soziale Stadt" klärt. Dieses 1999 ins Leben gerufene Programm beruht auf einem integrativen Ansatz, um den Folgen des gegenwärtigen Strukturwandels in Wirtschaft und Gesellschaft zu begegnen, der im Zuge der Globalisierung den urbanen Raum verändert. Der Schwerpunkt des Programms liegt auf der aktiven Beteiligung der Bewohner eines Stadtviertels, die als Experten für ihren Stadtteil gelten.

Als methodischen Ansatz wählte Frau Krahn die Form der Einzelfallstudie und führte qualitative Bewohner- und Experteninterviews durch. In ihrer empirischen Studie widerlegt sie gängige, von außen getroffene Einschätzungen des Wohngebiets als "problematisch" oder unattraktiv. Im Gegenteil gibt es aus der Sicht der Bewohner eine positive Einstellung gegenüber dem untersuchten Stadtviertel, die sich durch Ortsbindung und Nachbarschaft auszeichnet. Eingehend auf die Wahrnehmung und Netzwerke der Bewohner, legt Frau Krahn die eigenen Vorstellungen der Spätaussiedler von Partizipation dar, welche Deutschland als neue Heimat in den Mittelpunkt stellen und sich bewusst von der alten Heimat verabschieden.

Die hohe gesellschaftspolitische Relevanz der Arbeit zeigt sich in den Momenten, wo eine mangelnde Bezugnahme von Seiten der Stadt auf die Menschen vorliegt, die Bewohner sich bevormundet fühlen und die Zusammenarbeit verweigern. Spätaussiedler sind keine homogene Gruppe. Deutschland als neue Heimat bedeutet für Viele auch, die interkulturelle Lebensweise der verschiedenen Menschen als Positivum zu werten.

Der Preis

Der von Helmut und Marianne Hartmann gestiftete Augsburger Wissenschaftspreise für Interkulturelle Studien wird seit 1998 vom Forum Interkulturelles Leben und Lernen (FILL) e.V. gemeinsam mit der Universität und der Stadt Augsburg verliehen. An deutschen Universitäten forschende junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollen für das übergreifenden Thema "Interkulturelle Wirklichkeit in Deutschland: Fragen und Antworten auf dem Weg zur offenen Gesellschaft" interessiert werden und herausragende wissenschaftliche Nachwuchsarbeiten zu diesem Thema werden von einer 10-köpfigen Jury entsprechend honoriert.

Die 10-köpfige Jury

Prof. Dr. Dr. Eckhard Nagel, der Vorsitzende der Jury, ist Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften und der Forschungsstelle für Sozialrecht und Gesundheitsökonomie der Universität Bayreuth. Er leitet darüber hinaus das Transplantationszentrum des Klinikums Augsburg. Seit 2001 ist Nagel Mitglied des Nationalen bzw. jetzt Deutschen Ethikrats und des Präsidiumsvorstandes des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Von 2003 bis 2005 war er Präsident des Kirchentages Hannover. 2010 wird der diese Funktion beim Ökumenischen Kirchentag in München einnehmen. In verschiedenen Zusammenhängen berät er die Landesregierungen und die Bundesregierung.

Zu der 10-köpfigen Jury, die unter dem Vorsitz Nagels über die Preisträger 2008 entschieden hat, zählen weiterhin der Bürgermeister und Kulturreferent der Stadt Augsburg Peter Grab, Weihbischof Dr. Dr. Anton Losinger sowie Regionalbischof Michael Grabow. Die weiteren Mitglieder die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Leonie Herwartz-Emden (Universität Augsburg), der 2. Vorsitzende von FILL e. V., Prof. Rainer Liebich, der Entwicklungssoziologe Prof. Dr. Dieter Neubert (Universität Bayreuth), die Historikerin Prof. Dr. Susanne Popp und der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Christoph Weller (beide Universität Augsburg) sowie der Philosoph Prof. Dr. Walther Christoph Zimmerli (Präsident der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus).


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Anhang I:

Bisherige Trägerinnen und Träger des "Augsburger Wissenschaftspreises für Interkulturelle Studien"

1998: Alfredo Märker, "Zuwanderung in der Bundesrepublik: Universalistische und partikularistische Gerechtigkeitsaspekte", Diplomarbeit, Otto-Friedrich-Universität Bamberg.
1999: Dr. Encarnacíon Gutiérrez Rodríguez, "Jongleurinnen und Seiltänzerinnen - Dekonstruktive Analyse von Biographien im Spannungsfeld von Ethnisierung und Vergeschlechtlichung: Selbstverständnisse, Handlungsstrategien und Verortungsperspektiven weiblicher intellektueller im Kontext der Arbeitsmigration", Dissertation, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M.
2000: Dr. Yasemin Karakasoglu-Aydin, "Religiöse Orientierungen und Erziehungsvorstellungen. Eine empirische Untersuchung an türkischen Lehramts- und Pädagogik-Studentinnen im Ruhrgebiet", Dissertation, Universität-GH Essen.
2001: Prof. Dr. Christine Langenfeld, "Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland - eine Untersuchung am Beispiel des allgemeinbildenden Schulwesens", Habilitation, Georg-August-Universität Göttingen.
2002: Dr. Gaby Straßburger, "Heiratsverhalten und Partnerwahl im Einwanderungskontext: Eheschließungen der zweiten Migrantengeneration türkischer Herkunft", Dissertation, Universität Osnabrück.
2003: Dr. Azra Pourgholam-Ernst, "Das Gesundheitserleben von Frauen aus verschiedenen Kulturen. Frauen und Gesundheit: Eine empirische Untersuchung zum Gesundheitserleben ausländischer Frauen in Deutschland aus salutogenetischer Sicht", Dissertation, Universität Dortmund.
2004: P. Dr. Jörg Alt SJ, "Leben in der Schattenwelt. Problemkomplex illegale Migration. Neue Erkenntnisse zur Lebenssituation Illegaler' aus München und anderen Orten Deutschlands", Dissertation, Humboldt-Universität zu Berlin.
2005: Dr. Ute Koch, "Die Herstellung und Reproduktion sozialer Grenzen: Roma in einer westdeutschen Großstadt", Dissertation, Universität Osnabrück.
2006: PD Dr. Ulrike Bechmann, "Abraham - Beschwörungsformel oder Präzisierungsquelle? Bibeltheologische und religionswissenschaftliche Untersuchungen zum Abraham-Paradigma im interreligiösen Dialog", Habilitation, Universität Bayreuth.
2007: Dr. Louis Henri Seukwa, "Kompetenz als Habitus der Überlebenskunst - Zum Verhältnis von Kompetenz und Migration im Spiegel von Flüchtlingsbiographien", Dissertation, Universität Hamburg / Förderpreis: Anne Weibert, "Mediale Integration ethnischer Minderheiten - Vergleich von Lokalberichterstattung über Türken in Deutschland und Hispanics in den USA", Diplomarbeit, Universität Dortmund.
2008: Dr. Liliana Ruth Feierstein, "Von Schwelle zu Schwelle: Randgänge(r). Eine Lektüre der Gestualität gegenüber den 'Anderen' aus dem Blickwinkel des jüdischen Denkens", Dissertation, Heinrich Heine Universität Düsseldorf / Förderpreis: Stefan Wellgraf, "Migration und Medien. Wie Fernsehen, Radio und Print auf die Anderen blicken", Diplomarbeit, Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder.


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Anhang II:

Ausschreibung des "Augsburger Wissenschaftspreises für Interkulturelle Studien 2010"

Das Forum Interkulturelles Leben und Lernen (FILL) e. V. ist ein Zusammenschluss von Repräsentanten der Bereiche Kultur, Politik, Verwaltung und Wirtschaft mit ausländischen Vereinen und mit Vertretern der sozialen, interkulturellen und konfessionellen Praxis in Augsburg. FILL verfolgt das Ziel, die multikulturelle Wirklichkeit aufzugreifen und für ein besseres Miteinander der aus verschiedenen Kulturen stammenden Menschen in Stadt und Region zu arbeiten. Der Verein arbeitet mit städtischen und staatlichen Behörden sowie mit allen Organisationen zusammen, die sich um die kulturelle, wirtschaftliche und soziale Gleichstellung und Eingliederung fremder Menschen bemühen. FILL will in diesem Zusammenhang koordinieren, vernetzen und dazu anregen, kulturelle Gemeinsamkeiten und auch kulturelle Differenzen positiv aufzugreifen, um das Verständnis für die Vielfalt der bei uns lebenden Menschen und ihrer Kulturen zu fördern und damit Vorurteile, Missverständnisse und Ängste abzubauen. In der Absicht, auch die Wissenschaft stärker in diese Bemühungen einzubinden und Anreize für thematisch einschlägige Forschungsvorhaben zu geben, schreibt FILL in Zusammenarbeit mit der Universität und der Stadt Augsburg alljährlich einen Hauptpreis (Dissertationen, Habilitationen) und einen Förderpreis (Magister-, Staatsexamens-, Diplom- und Masterarbeiten) für wissenschaftliche Studien aller Fachrichtungen aus, die einen substantiellen Beitrag zu leisten vermögen zum Generalthema "Interkulturelle Wirklichkeit in Deutschland: Fragen und Antworten auf dem Weg zur offenen Gesellschaft".

Eingereicht werden können wissenschaftliche Arbeiten, die nicht früher als zwei Jahre vor dem jeweils aktuellen Bewerbungsschluss an einer deutschen Universität abgeschlossen und vorgelegt wurden.

Bewerbungen sind mit zwei Exemplaren der Studie, einer ca. zehnseitigen Zusammenfassung der Studie, mindestens einem Gutachten eines Professors/einer Professorin und einem Lebenslauf über die jeweilige Universitätsleitung an das Präsidium der Universität Augsburg, Universitätsstr. 2, 86159 Augsburg, zu richten.

Über die Vergabe des Preises, der im Frühjahr 2010 verliehen wird, entscheidet eine Jury, die sich aus Wissenschaftler(inne)n der Universität Augsburg und anderer bayerischer Universitäten sowie aus Repräsentant(inn)en von FILL und der Stadt Augsburg zusammensetzt.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution58


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Augsburg, Klaus P. Prem, 20.05.2009
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2009