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ETHNOLOGIE/016: Vietnam - Ohne Netzwerk kein Geschäft (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - 4.2013
Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft

Ohne Netzwerk kein Geschäft

von Birgit Fenzel



Für Touristen tragen sie viel bei zum Flair asiatischer Länder - die Markt- und Straßenhändler, deren mit bunten Konsumgütern oder frischem Obst und Gemüse bestückte Stände und Umschlagplätze tausendfach fotografiert werden. Dass die Märkte in Vietnam nicht nur Orte des Warenaustauschs sind, sondern ein komplexes Geflecht sozialer Beziehungen und politischer Strukturen darstellen, in dem auch Machtkämpfe ausgetragen werden, beobachten Kirsten Endres und ihre Forschungsgruppe vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle.


Wohlhabende Bürger in einer starken Nation" - nach diesem Motto machte sich vor mehr als 25 Jahren auch das kommunistische Vietnam in den Fußstapfen des großen Nachbarn China auf den Weg in die sozialistische Marktwirtschaft. Seit dem Beginn der Reformen im Jahr 1986 ist viel geschehen in dem Einparteienstaat. Zu der marktwirtschaftlich ausgerichteten Umstrukturierung gehört auch, dass der früher als unproduktiv oder selbstsüchtig verpönte private Handel nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht ist. "Bloß gilt das nicht für alle", sagt Kirsten Endres vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle. Seit 2010 untersucht sie mit ihrer Forschungsgruppe "Händler, Märkte und der Staat in Vietnam" die Auswirkungen des sozioökonomischen Transformationsprozesses auf vietnamesischen Märkten und hat dabei festgestellt, dass so mancher Schritt vom Sozialismus in die Marktwirtschaft in den Spagat führt.


Die Moderne hält Einzug in Hanoi

"Es gibt weniger Diebstähle als früher", erzählt die Obstverkäuferin, die in Hanoi am Straßenrand kleine Spieße mit Ananasstücken an Passanten verkauft. Allerdings muss sie sich jetzt vor Polizeirazzien fürchten, denn in den vergangenen Jahren verschärfte das Volkskomitee von Hanoi seine gesetzlichen Maßnahmen gegen den Straßenhandel. Offiziell begründete die Stadtspitze diese Entscheidungen mit der Wiederherstellung der städtischen Ordnung sowie der Verbesserung der Nahrungsmittelhygiene und -sicherheit. Für die Ethnologin Kirsten Endres sind diese Gründe jedoch vorgeschoben. "Die Straßenverkäuferinnen passen mit ihren hölzernen Schultertragestangen oder Handkarren nicht in die Vorstellungen von einer modernen Weltstadt", sagt sie. Wer in bestimmten Straßen der Metropole beim Straßenhandel erwischt wird, dem werden Waren und Utensilien beschlagnahmt. Diese Vorgehensweise will für Endres nicht so recht zur Parole "Wohlstand für alle" passen, wie sie die Partei ausgerufen hatte; durch die Verdrängungspolitik wird ausgerechnet jenen am unteren Ende der urbanen Ökonomie die Existenzgrundlage entzogen. "Dies gilt auch für viele der Händler, die in den alten Markthallen in den Stadtvierteln ihre Waren anbieten", so Endres. Es sind Prozesse wie diese, die Märkte nicht nur für Ökonomen zu einem interessanten Forschungsfeld machen, sondern auch für Ethnologen wie Kirsten Endres und ihre Mitarbeiterinnen. "Märkte sind eben nicht nur Orte kommerziellen Warenaustauschs, sondern auch politisierte und soziale Räume, in denen Konflikte und Machtkämpfe ausgetragen werden." Ihre Gruppe untersucht das komplexe Geflecht sozialer Beziehungen, informeller Netzwerke, politischer Strukturen und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, welches das Alltagsleben vietnamesischer Kleinhändler bestimmt.


Supermärkte werben mit Importware

Die Polizei müssen die Standbetreiber, die auf den vielen kleinen Märkten der Stadt ihre Ware anbieten, nicht fürchten. Sie betreiben ihre Geschäfte auf legaler Grundlage, was sie aber offenbar auch nicht davor bewahrt, verdrängt zu werden. Denn ihnen gehören die Marktstände nicht, sondern sie haben sie lediglich vom Staat für einen bestimmten Zeitraum gemietet. Das ging so lange gut, bis dieser beschloss, im Bereich des Marktwesens noch einen Schritt weiter zu gehen, und einen ambitionierten Entwicklungsplan genehmigte, welcher die Modernisierung der Marktgebäude im ganzen Land vorsieht. Bis zum Jahr 2030 sollen diese alten Märkte renoviert, umgebaut oder gleich abgerissen und durch moderne Supermärkte, Einkaufszentren und Shopping malls ersetzt werden. "Private Investoren werden ausdrücklich dazu ermuntert, sich mit ihrem Geld an den neuen Märkten zu beteiligen", sagt Endres. Im Rahmen dieses Programms wurden große Bereiche staatseigenen Grundbesitzes in Hanois Innenstadtbereich privatisiert oder in Joint Ventures umgewandelt. Noch vor weniger als zehn Jahren gab es im ganzen Land nur eine Handvoll Supermärkte - in Saigon und Hanoi -, in denen vor allem Ausländer die überwiegend importierten Waren einkauften. Die Einheimischen deckten ihren Bedarf an frischem Obst, Fleisch und Gemüse dagegen auf den traditionellen Märkten, die es in jedem Viertel gab.


Händler weichen privaten Shoppingmalls

Viele von ihnen sind inzwischen verschwunden. Nicht nur in Hanoi wurden sie durch als zeitgemäßer empfundene Geschäfte ersetzt. Inzwischen verfügt jede der über sechzig Provinzhauptstädte über mindestens einen Supermarkt, in den Großstädten entstehen Shoppingmalls, und internationale Handelsketten halten Einzug in dem für sie neuen Wachstumsmarkt. "Insgesamt gibt es in Hanoi heute etwa zwanzig Shoppingmalls und 110 Supermärkte", berichtet Lisa Barthelmes, die in der Forschungsgruppe für ihr Dissertationsprojekt in der Landeshauptstadt unter anderem untersucht, auf welche Weise der Staat die Bürger dazu bringt, sich seinen Visionen, seiner Politik und den Gesetzen anzupassen.

Der "Hang Da Market" in Hanois Altstadt ist einer der Märkte, die von einem öffentlich-staatlichen Markt in eine Privatimmobilie umgewandelt wurden. Binnen zwei Jahren ist an seiner Stelle eine rund 17.500 Quadratmeter große, fünfstöckige Shoppingmall entstanden, die nun unter dem Namen "Hang Da Galleria" firmiert. Lisa Barthelmes war bei der Eröffnung vor zwei Jahren dabei. "Viele Anwohner und Schaulustige sind gekommen, um das Spektakel zu sehen", berichtet sie über den Andrang am ersten Tag. Die alteingesessenen Händler passten offenbar nicht in das herausgeputzte Ambiente und wurden ins Untergeschoss verbannt. Wie Barthelmes von einer Gemüseverkäuferin erfahren hat, müssen die Händler monatlich umgerechnet etwa achtzig Euro für Standmiete und Nebenkosten bezahlen - weitaus mehr als auf dem alten Markt. Das ist für sie ein schlechtes Geschäft, zumal da auch ihre Einnahmen buchstäblich in den Keller gingen. Mangels Kundschaft bleibt sie wie die meisten häufig auf ihrer verderblichen Ware sitzen. "Die Marktverkäuferinnen sind da unten nur schwer zu finden und zu erreichen", hat auch Endres beobachtet. "Die Kunden bleiben aus, weil es für sie viel praktischer ist, bei den Straßenhändlern zu kaufen, die sich neben der Mall angesiedelt haben."


Kaufkraft allein füllt keine Läden

Doch auch für die Investoren ging die Rechnung nicht auf. Als die Wissenschaftlerin ein Jahr später bei einem zweiten Besuch der "Hang Da Galleria" nachschaute, was aus den hochfliegenden Visionen geworden war, fand sie das Einkaufsparadies verlassen vor. "Im ersten Stock sah ich nur aufgegebene Läden, nackte Schaufensterpuppen standen verloren in der Ecke", beschreibt sie die gähnende Leere zwölf Monate nach der pompösen Eröffnung. Nur auf dem Gebrauchtkleidermarkt im Erdgeschoss, der auch schon vor dem Neubau auf dem alten "Hang Da Market" war, habe sie noch ein paar Kundinnen angetroffen. "Die Geschäfte oben mussten schließen, weil niemand dort kaufen wollte", erfuhr sie auf Nachfrage von einer der Händlerinnen.

Für Barthelmes steht außer Frage: Die "Hang Da Galleria" ist eine gescheiterte Investition. Als Grund nennt sie gleich mehrere Planungsfehler. So seien die Planer bei ihren Vorstellungen von der Entwicklung der urbanen Märkte von einem veränderten Konsumverhalten der Stadtbevölkerung ausgegangen, das aber offensichtlich so nicht gegeben ist. Zwar stimmen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die als Grundlage dieser Annahme dienten, doch Kaufkraft allein füllt noch keine Shoppingmalls. Auch wenn in den vergangenen zehn Jahren kontinuierliche Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts zwischen fünf und zehn Prozent dazu geführt haben, dass sich eine gut situierte Mittelschicht entwickelte, die Studien zufolge Konsum und Konsumgüter als Ausdruck des Wohlstands durchaus zu schätzen weiß, sind die Waren in den Malls für die meisten offensichtlich zu teuer. "Selbst Hanois Mittelschicht will sich anscheinend keine Birkenstock-Sandalen für hundert Euro leisten", erklärt Barthelmes das Ausbleiben der Kunden in den neuen Märkten.

Es räche sich auch, dass die Einkaufskultur der Hanoier bei den Planungen komplett ignoriert worden sei, ergänzt ihre Forschungsgruppenleiterin. "Wer in einem Land, in dem die Leute mit dem Roller an den Marktstand heranfahren und vom Sattel herunter einkaufen, die Markthalle in das Untergeschoss eines Einkaufszentrums verbannt, der muss sich nicht wundern, wenn die Kunden ausbleiben", so Endres, "Drivein-Malls würden vermutlich besser laufen", scherzt sie.


Vom verschlafenen Dorf zum Handelsplatz

Ein Beispiel für gelungene Marktreformen bietet dagegen das Dorf Ninh Hiep. Anders als in Hanoi, wo die traditionellen Marktareale Supermärkten und Einkaufszentren weichen mussten, errichteten private Investoren in der seit vielen Generationen auf Handel spezialisierten Gemeinde im Delta des Roten Flusses zwei neue Markthallen - die von der Bevölkerung auch angenommen wurden. "Der Bedarf war entsprechend groß", sagt Doktorandin Esther Horat, die in Ninh Hiep das Leben der Kleinunternehmer untersucht, deren Geschäft mit Stoffen und Textilien aus China sowie mit aus chinesischen Stoffen produzierter Kleidung seit ungefähr zehn Jahren brummt. Inzwischen gilt das ehemals verschlafene Dorf als wichtiger Umschlagplatz im vietnamesischen Textilhandel. "Die zwei neuen Markthallen passten dabei nicht nur zum gestiegenen Platzbedarf der Händler, sondern auch zum neuen Prestige", so ihre Erklärung. Wie Esther Horat bei ihren Forschungen festgestellt hat, ist das einträgliche Geschäft in Ninh Hiep eine reine Familiensache. Unter den rund 4000 Familien, die in diesem Gewerbe tätig seien, herrsche strikte Aufgabenteilung. "Die einen sind nur für den Import zuständig, andere schneiden zu oder nähen, und wieder andere verkaufen die Kleidung auf den örtlichen Märkten", berichtet sie über die Spezialisierung der Akteure in diesem Marktsegment. Auch das Importgeschäft laufe über soziale Netzwerke. "Wer da nicht drin ist, hat eigentlich keine Chance", so ihr Eindruck. Wie wichtig Kontakte zwischen den Akteuren sind, hat sie auf einer ihrer Expeditionen erfahren, als sie die Importeure aus Ninh Hiep bei einer Einkaufstour nach China begleitete. "Da war ein ganz junger Händler aus Hanoi dabei, der kannte weder die chinesischen Händler, noch wusste er, woher er einen Übersetzer bekommen konnte", erinnert sie sich. "Der fuhr dann abends mit leeren Händen nach Hause."


Billige Importware überschwemmt Grenzland

Dass die soziale Vernetzung auf dem Markt und über das Marktgeschehen stattfindet, hat auch Kirsten Endres in ihrem Forschungsfeld beobachtet. Seit dem Start ihres Forschungsprojekts vor gut drei Jahren verbrachte die Ethnologin mehrfach mehrere Monate in der nordvietnamesischen Provinzhauptstadt Lao Cai, direkt an der chinesischen Grenze. Auch der dortige Markt, der mit über 700 registrierten Händlern der größte in der Provinz ist, hat sich - bedingt durch die Reformen sowie die Normalisierung des nicht immer konfliktfreien Verhältnisses zwischen Vietnam und China - zu einem blühenden Handelszentrum gemausert, das nicht nur die Grundversorgung der Bewohner aus der Region und den umliegenden Bergregionen leistet, sondern auch als Tourismusmagnet gilt. In den nach Warengruppen aufgeteilten Abschnitten des Marktes wird alles verkauft, was die moderne Konsumwelt zu bieten hat. "Angefangen vom Mobiltelefon über den Großbildfernseher bis hin zum Reiskocher gibt es wirklich alles", beschreibt Endres das Angebot in der Elektroabteilung des Marktes.

Dass es sich bei vielen der angebotenen Waren um Importgüter zumeist minderer Qualität aus chinesischer Massenproduktion handelt, sei dabei nicht nur Gegenstand staatlicher Bedenken, sondern werde selbst von den Händlern durchaus kritisch betrachtet. "Ihnen ist bewusst, dass die riesige Menge an chinesischen Billigwaren, die jeden Tag legal oder illegal über die Grenze fließen, eine Gefahr für die vietnamesische Wirtschaft darstellt, weil die Hersteller im eigenen Land mit der Billigkonkurrenz nicht mithalten können", so Endres. Andererseits würden sie jedoch auch die sozialen Vorteile sehen. "Sie sagen, dass sich dadurch auch die armen Leute Dinge leisten, die sie sonst nicht bezahlen könnten."

Charakteristisch für die Geschäftsbeziehungen zwischen den vietnamesischen Händlern und den Groß- und Einzelhändlern im chinesischen Hekou ist die Aussage eines Zwischenhändlers, den Endres bei Besuchen an der Grenze kennengelernt hat. "Mein Hauptkapital ist das Vertrauen, das ich zu den chinesischen Handelspartnern aufgebaut habe", zitiert sie ihn. "Dazu muss man wissen, dass, wie überall in Südostasien, die Kleinunternehmer auch in Vietnam ihre Waren im Wesentlichen auf Kredit bei ihren Lieferanten einkaufen. Denn es ist schwierig, Bankkredite zu bekommen", erklärt sie die ökonomische Sachlage hinter diesem besonderen Abhängigkeitsverhältnis. "Gezahlt wird entweder zu einem vereinbarten Termin oder wenn sie die Waren auf dem Markt verkauft haben", erklärt sie die Praxis.

Die Geschäfte zwischen vietnamesischen Klein- und chinesischen Großhändlern funktionieren - allerdings nicht ganz reibungslos. So bekam die Ethnologin von chinesischen Händlern in Hekou häufig Klagen über die vietnamesische Zahlungsmoral zu hören. Oft erhielten sie das Geld nicht rechtzeitig von den vietnamesischen Markthändlern. "Mit wenigen Ausnahmen kommen die Vietnamesen mit allen möglichen Entschuldigungen dafür, dass sie ihre Schulden gerade nicht bezahlen können", hatte sich ein chinesischer Zwischenhändler bei ihr beschwert. Ein anderer geht mit seiner Klientel noch härter ins Gericht. "Sie zahlen auch nicht, wenn sie das Geld in der Tasche haben. Sie legen einfach keinen Wert auf Vertrauen in Geschäftsbeziehungen", so sein Eindruck. Im Gegenzug kritisierten die vietnamesischen Händler das als herzlos und kalt empfundene Geschäftsgebaren ihrer chinesischen Partner. "Die Chinesen sind ganz schön clever", bekam sie von einer Andenkenverkäuferin zu hören, "sie sind freundlich, wenn sie die Möglichkeit eines Profits wittern; wenn nicht, dann drehen sie dir sofort den Rücken zu."


Dumpingpreise untergraben Solidarität

In solchen Äußerungen werde deutlich, dass für die vietnamesischen Händler auf dem Markt nicht nur das Geschäft, sondern auch immaterielle Werte wie soziale Anteilnahme oder Solidarität zählen, so die Forscherin. So wurde ihr in Gesprächen mit den Markthändlerinnen von allen Seiten versichert, dass es sehr wichtig sei, als Gruppe zu handeln, um sich gegenseitig zu schützen und zu unterstützen. Tatsächlich konnte sie bei ihren langen Rundgängen über den Markt auch einen sehr freundschaftlich erscheinenden Umgang der Standnachbarn miteinander beobachten. "Wenn nichts los ist, sitzen die Frauen manchmal zusammen und zupfen sich gegenseitig erste graue Haare vom Kopf", beschreibt sie Szenen sozialer Vertrautheit. Doch sobald Kundschaft auftaucht, werde das Gemeinschaftsgefühl vergessen. "Während der vielen Stunden, die ich auf dem Markt in Lao Cai verbracht habe, wurde ich Zeugin einer Vielzahl lautstarker Auseinandersetzungen unter den Händlerinnen", erinnert sie sich. Meist sei es bei diesen Streitigkeiten darum gegangen, dass eine der anderen mit Dumpingpreisen das Geschäft verdorben hat. "Die herrschende Ideologie der Solidarität dient hier bestenfalls dazu, die größten Exzesse im Konkurrenzkampf zu verhindern", so Endres.


Korruption oder "Gesetze machen"

Doch trotz des alltäglichen Konkurrenzkampfes zwischen den Markthändlerinnen, der zusätzlich dadurch verschärft wird, dass sich das Warenangebot der einzelnen Stände einer Sektion kaum unterscheidet, halten sie zusammen. Insbesondere wenn es darum geht, sich gegenüber Dritten - vor allem gegenüber dem Staat - abzugrenzen. Steuern, Gesetzgebung und Handelsrestriktionen lösen geradezu reflexartig solche Schulterschlüsse aus. Die meisten Markthändler versuchen, auf der schmalen Grenze zwischen Legalität und Illegalität Geld zu machen, häufig auch unter Umgehung jeglicher Steuern, Zölle oder auch Einfuhrverbote. "Oft werden gesetzliche Vorschriften durch informelle Praktiken untergraben", beschreibt Endres die rechtliche Subkultur, die sich zwischen Markthändlern und Vertretern lokaler Behörden, der Marktverwaltung und den Zollbeamten gebildet hat und sich sogar im Sprachgebrauch niederschlägt. "Sie nennen das 'Gesetz machen'", übersetzt Endres die Metapher, die "nichts weiter ist als eine euphemistische Beschreibung der korrupten Beziehungen zu Zollbeamten und Vertretern der Marktaufsichtsbehörde".

Um das bestehende Recht zu umschiffen, das mit Einfuhrbeschränkungen und Zöllen die Warenflut aus China unter Kontrolle zu bringen versucht, würden die Händler mit den lokalen Vertretern der Obrigkeit Sonderregelungen vereinbaren. Gegen einen Obolus ließen diese dann Gnade vor Recht ergehen. "Wenn wir uns an die Gesetze halten, verhungern wir", zitiert Endres eine oft gehörte Rechtfertigung dieser Praxis. Indem sie aber durch "Gesetz machen" die Restriktionen umgingen, könnten sie nicht nur ihre Familien ernähren, sondern auch den Kunden die günstigen Preise bieten, die diesen erst den Zugang zu Wohlstandsgütern ermöglichen. So gesehen präsentiere sich auch das Korruptionsgeschäft als reiner Akt der Wohltätigkeit. Indem der Beamte seinerseits das Geld annehme, zeige er nicht nur persönliches Mitgefühl, sondern leiste auch einen Beitrag zum Wohl der Allgemeinheit. "Dadurch gewinnt diese Form der Korruption für alle Beteiligten ethischen Charakter und gilt somit als eine legitime Praxis", sagt Endres.

Doch wenn das Gesetz auf dem Markt zur Verhandlungssache wird, sei das für die kleinen Markthändler letztlich ein schlechtes Geschäft. Zwar könnten sie wirtschaftlich überleben - aber letztlich erhielten sie damit auch ihre prekäre Situation. "Denn sie bleiben der Willkür der lokalen Beamten ausgeliefert, die immer wieder das geltende Recht als Vorwand nutzen, um bei Razzien auf dem Markt Exempel zu statuieren", so Endres, die auf dem Markt in Lao Cai mehr als einmal beobachtet hat, dass die Polizei plötzlich an einem Stand auftaucht und nach Schmuggelware oder verbotenen Importartikeln sucht - und diese erwartungsgemäß auch findet. "Das geschah auch bei Händlern, die sich durch Bestechungsgeld von solchen Kontrollen freigekauft hatten." Vor diesem Hintergrund sieht sie die vorgeblich auf Mitgefühl und Sentiment basierende Komplizenschaft zwischen den Markthändlern und den Vertretern der Obrigkeit sehr kritisch als Machterhaltungsmechanismus. "Wir haben hier das Paradox, dass ein Partner des Deals als Täter die soziale Reproduktion von Bestechung vorantreibt, deren Opfer er zugleich ist", erklärt sie. Während sich die eine Partei in diesem System zunehmend bereichere, verbleibe die andere in Abhängigkeit und ökonomischer Unsicherheit. Nicht zuletzt werde durch diese rechtliche Subkultur auch der Reformkurs der Partei infrage gestellt. "Denn diese Praxis führt auch zu einer Verschärfung der bestehenden sozialen Unterschiede, die in einer sozialistischen Marktwirtschaft eigentlich nivelliert werden sollten."


AUF DEN PUNKT GEBRACHT
  • Traditionelle Fleisch-, Obst- und Gemüsemärkte verschwinden, immer mehr Supermärkte entstehen, in den Großstädten werden Shoppingmalls eröffnet. Doch zumindest in Hanoi läuft das Angebot der Einkaufszentren der Kaufkraft und Einkaufskultur der Einwohner bisweilen zuwider, während Marktreformen in kleineren Orten durchaus angenommen werden.
     
  • Die Waren der Märkte auf dem Land kommen zum Großteil billig aus China. Um mit chinesischen Großhändlern ins Geschäft zu kommen, ist für einen vietnamesischen Kleinhändler - schon aus Sprachgründen - die Zugehörigkeit zu sozialen und/oder familiären Netzwerken unabdingbar. So hat sich das Dorf Ninh Hiep als Umschlagplatz für Textilhandel etabliert, in dem fast 4000 Familien arbeitsteilig agieren: Sie importieren, sie schneiden zu, sie nähen, oder sie verkaufen.
     
  • Lao Cai, Provinzhauptstadt und Handelszentrum im nordvietnamesischen Grenzgebiet zu China, ist ein perfektes Beispiel für das Geflecht sozialer Netzwerke, politischer Strukturen und Machtkämpfe: Vietnamesische Händler sind abhängig von chinesischen Großhändlern, deren Waren sie zunächst auf Kredit erwerben, um sie dann gegen große Konkurrenz im eigenen Land zu verkaufen. Einfuhrbeschränkungen und Zölle umgehen die Händler durch die Bestechung lokaler Beamter, die ihre Macht dennoch in Razzien demonstrieren. Bestehende soziale Unterschiede verschärfen sich.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Warten auf Marktkundschaft: Im passgenau austarierten Stofflagersystem lässt sich das bequem aushalten.

- Einfach rechts ran und anhalten: Nicht mal absteigen muss man beim Einkaufen vom Roller aus. Straßenhändlerinnen präsentieren ihr Gemüse auf dem Bürgersteig in Lao Cai.

- Die Gemüsehändlerinnen wurden vom alten Markt in das Untergeschoss der "Hang Da Galleria" verbannt, wo sie über schlechte Luft und ausbleibende Kundschaft klagen.

- Eingangshalle des "Coc Leu Market", des größten in Lao Cai und der gleichnamigen Provinz in Nordvietnam: Mehr als 700 Händler bieten hier ihre Waren an, die sie zum Großteil aus China einführen. Sowohl die lokale Bevölkerung als auch vietnamesische und chinesische Touristen kaufen hier ein.

- Zahlreiche Waren, die in Lao Cai im Norden Vietnams angeboten werden, stammen aus Hekou im benachbarten China. Nur die Mündung zweier Flüsse trennt die Länder. Die Lastenträger müssen Grenzkontrollen über sich ergehen lassen, die mit Warterei verbunden sind.

- Feldforschung in Vietnam auf Augenhöhe: Kulturanthropologin Kirsten Endres im Gespräch mit Straßenhändlerinnen in Lao Cai, einer Provinzhauptstadt im Grenzland zu China.


Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Dieser Artikel kann als PDF-Datei mit Abbildungen heruntergeladen werden unter:
http://www.mpg.de/7801631/W005_Umwelt-Klima_072-079.pdf

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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin
der Max-Planck-Gesellschaft, 4.2013, S. 72-79
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Mai 2014