Schattenblick → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → FAKTEN


ETHNOLOGIE/019: Speisen für die Götter - Religiöse Ressource für Millionen (idw)


Eberhard Karls Universität Tübingen - 05.08.2015

Speisen für die Götter - Religiöse Ressource für Millionen

Doktorandin des SFB 1070 RessourcenKulturen an der Universität Tübingen untersucht in Indien eine der größten Küchen der Welt


In der ostindischen Stadt Puri fand kürzlich das größte Fest zu Ehren des Gottes Jagannatha seit 19 Jahren statt. In einer mehrere Monate andauernden Zeremonie wurden in diesem Jahr neue Götterfiguren angefertigt, die zum Wagenfest (Ratha Yatra) von Mitte bis Ende Juli Millionen von Pilgern präsentiert wurden. In einem ethnologischen Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs RessourcenKulturen an der Universität Tübingen werden die Feierlichkeiten in diesem Jahr unter der Leitung von Professor Roland Hardenberg erforscht.


Zu den Festivitäten gehört auch der Verkauf von heiligen Speisen (Mahaprasad, wörtl. Sanskrit "große Gnade") an die Gläubigen. Die Produktion, Distribution und Verzehr dieser religiösen Ressource erforscht Doktorandin Lisa Züfle. Das Ziel der Wagenfest-Prozession ist der nahe gelegene Gundicha-Ghar-Tempel, die "Sommerresidenz" der Götter. Die im Sommertempel zubereiteten Speisen gelten für die Gläubigen als besonders glückbringend, da dieser Tempel auch der Geburtsort des Gottes Jagannatha ist. Nach einer gewissen Zeit kehren die Götter in den Haupttempel in Puri zurück. Heilige Speisen werden sowohl auf dem Weg zur Sommerresidenz als auch im Heimattempel nach strengen Regeln hergestellt.

Doch der Jagannatha-Tempel und die dazugehörigen Speisungen erfüllen nicht nur zum Wagenfest eine wichtige soziale und wirtschaftliche Funktion in der Region. Lisa Züfle hebt die besondere Bedeutung der heiligen Speisen für Puri und das Umland hervor: "Der Tempel ist der größte Abnehmer für Lebensmittel in der gesamten Region. Zu allen Lebenszyklusritualen wie Hochzeiten, Geburten, Bestattungen und sogar zu Vereins- und Firmenfeiern werden heilige Speisen verzehrt. Zu öffentlichen Großveranstaltungen wird Mahaprasad direkt in der Menge verteilt. Aber auch Armenspeisungen finden täglich statt."

Täglich werden in einer der größten Küchen der Welt heilige Speisen für tausende Gläubige zubereitet und verkauft - eine logistische Großleistung, an der über 30 000 Tempelbedienstete, unter ihnen Köche, Priester und Kurierdienste, beteiligt sind. Der Hintergrund dieser täglichen Massenspeisung: Der Gott Jagannatha und seine beiden Geschwister haben in den Augen der Gläubigen ganz menschliche Bedürfnisse. Daher werden sie nachts zur Ruhe gebettet, tagsüber mehrmals an- und ausgekleidet und erhalten jeden Tag eine festgelegte Auswahl an Speisen.

Genau genommen werden die Speisen also für den Genuss der Götter hergestellt, doch die "Überreste" des göttlichen Mahls werden verteilt und sind für die Gläubigen voller Gnade. Die Speisen gelten als so heilig, dass Menschen aus unterschiedlichsten Kasten aus einem Topf essen können - ein in Indien einzigartiges Phänomen. Durch den Genuss der heiligen Speisen, so die Vorstellung, überträgt sich göttlicher Segen auf die Gläubigen. So hat die Speise die außerordentliche Fähigkeit, schlechtes Karma zu beseitigen. Beim Verzehr in der Sekunde des Todes soll sie sogar zur Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten führen. Die heiligen Speisen werden direkt im Tempelbezirk verkauft und verspeist oder per Kurier zu Fuß, per Fahrrad oder mit Lastwagen an die Auftraggeber geliefert.

Das Mahaprasad besteht seit Jahrhunderten unverändert aus den gleichen frischen, regionalen Zutaten, ist vegetarisch und wird in tönernen Töpfen auf Holzfeuern langsam gegart. Doch der Umgang mit dieser Ressource ist auch dem Wandel unterworfen. Moderne Kommunikationsstrukturen und Medien halten Einzug. Dies zeigen Webseiten wie das Startup "onlineprasad.com", auf der die heiligen Speisen online via Internet geordert werden können. Wie der Umgang mit der Ressource sich verändert und welche Auswirkungen dies auf die rituellen Speisungen hat, soll in der weiteren Feldforschung untersucht werden.



Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution81

*

Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Eberhard Karls Universität Tübingen, Dr. Karl Guido Rijkhoek, 05.08.2015
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang