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FRAGEN/005: Nisren Habib über die syrische Familie in Zeiten von Krieg und Flucht (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 153/September 2016
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

"Eine der größten Herausforderungen"

Nisren Habib über die syrische Familie in Zeiten von Krieg und Flucht

Interview von Gabriele Kammerer


Nisren Habib ist Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung und bis November Gast des WZB. Die Syrerin lebt seit 2013 im Libanon, wo sie die Nicht-Regierungs-Organisation "Sawa for Development and Aid" leitet, die Flüchtlinge im Libanon unterstützt. Nachdem sie ihr Masterstudium in Gender Studies an der Beirut Arab University abgeschlossen hat, betreibt sie in Deutschland Feldforschung über syrische Frauen, die im Exil leben. Gabriele Kammerer hat mit Nisren Habib über die Rolle der Familie in der syrischen Gesellschaft und Folgen der Flucht vieler Syrer für die Familie gesprochen.


Frage: Wie wichtig ist die Familie in der syrischen Gesellschaft?

Nisren Habib: Obwohl die meisten Gesetze und Regeln Syrer als Einzelpersonen betreffen, ist die Familie der zentrale Bestandteil der Gesellschaft in Syrien. Traditionen und religiöse Gebräuche, die im Mittleren Osten über Generationen weitergegeben werden, stellen die Familie ins Zentrum. Die wirtschaftliche Situation spielt auch eine wichtige Rolle: In Syrien leben die Menschen in sehr unsicheren Verhältnissen, die Regierung kann dem Einzelnen nicht einmal ein Existenzminimum zusichern.

Frage: Was macht die syrische Familie aus?

Nisren Habib: Die meisten syrischen Familien bestehen aus Eltern, Töchtern und Söhnen. Normalerweise leben sie zusammen in einem Haus, dem "Familienhaus" - so lange, bis die Kinder heiraten. Die Töchter und die Söhne akzeptieren die Entscheidungen der Eltern, und meistens bestimmen die Eltern direkt oder indirekt über die Zukunft der Kinder: was sie lernen sollen, welchen Beruf sie ergreifen sollen, und - vor allem bei Töchtern - wen sie heiraten sollen.

Außerdem ist die Beziehung zur erweiterten Familie, also den Großeltern, Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen, sehr stark. Syrer haben viel Kontakt zu ihnen. Diese Vielfalt sozialer Kontakte kostet natürlich viel Zeit, Energie und auch Geld, aber sie haben im gesellschaftlichen Leben eben eine große Bedeutung. Familien in der Stadt müssen weniger Aufwand betreiben, da viele von ihnen in der Stadt leben, aber sie würden den Kontakt zu den Verwandten auf dem Land niemals aufgeben.

Schließlich kennen syrische Familien die meisten ihrer Nachbarn gut. Man besucht sich zu Hochzeiten, Geburten, religiösen Festen. Und man steht sich in schlechten Zeiten bei, bei Todesfällen oder Unfällen.

Frage: Wie sind die Aufgaben und Bereiche zwischen Männern und Frauen verteilt?

Nisren Habib: Der Vater ist meist der, der die Kinder finanziell unterstützt und sie im beruflichen Leben berät. Die Mutter hingegen gilt als die, die alle Familienmitglieder in psychosozialen Belangen unterstützt, von ihr kommen Zärtlichkeit und Liebe - sie steht in sehr enger emotionaler Beziehung zu ihren Kindern. Das heißt nicht, dass es nicht zahlreiche Familien gäbe, in denen sich Mutter und Vater Arbeit und Elternsein teilen. Aber die Normen und die Gesetze in Syrien machen es schwer, die Geschlechterrollen und das alltägliche Leben in den Familien zu verändern.

Natürlich schränkt diese Art der familiären Beziehungen die Freiheiten der Söhne und Töchter auch ein, sie fühlen sich meistens abhängig. Aber zugleich haben sie eben auch eine große Sicherheit. Zu wissen, dass es immer einen Ort gibt, zu dem sie zurückkommen können, wo sie unterstützt werden, sozial und finanziell, ist sehr wichtig.

Frage: Was hat sich durch den Krieg verändert?

Nisren Habib: Seit dem offenen Ausbruch des Konflikts im Jahr 2011 wurden die meisten syrischen Familien auseinandergerissen. Die Probleme für die Familien haben seitdem zugenommen, sie fliehen - als ganze oder in Teilen. Sie müssen nun in neuen Umständen leben. Eine der größten Herausforderungen für Syrer, wo auch immer sie leben, ist es, fern der Familie zu sein.

Die Familie ist plötzlich nicht mehr der sichere Ort für die Söhne und Töchter. Die Eltern können sie nicht mehr schützen wie bisher. Der Bürgerkrieg und der Krieg haben das gesamte Konzept der syrischen Familie ausgehöhlt. In manchen Fällen haben sich auch die Geschlechterrollen verändert - mal zum Guten, mal zum Schlechten.

Zugleich hat aber der Krieg die Solidarität innerhalb von syrischen Familien noch verstärkt. Sie unterstützen einander emotional, sozial oder finanziell, wo auch immer sie leben. Kinder, die außerhalb Syriens leben - jedenfalls die, die finanziell versorgt sind -, sind moralisch dazu verpflichtet, ihren Familien in Syrien Geld zu schicken. Ich habe zum Beispiel einen palästinensisch-syrischen Flüchtling, 25 Jahre alt, der Mitte 2014 nach Berlin gekommen ist, gefragt, was Familie ihm bedeutet. Er antwortete: "Wie kann man von mir erwarten, dass ich mich weiterbilde, dass ich mich in die neue Gesellschaft integriere, während meine Mutter immer noch unter täglichem Beschuss lebt? Mein einziges Ziel ist es, zu arbeiten und 7.000 Dollar zusammenzusparen, damit ich meiner Mutter ein Visum für Europa besorgen kann. Wenn ich das geschafft habe, kann ich mich auch ums Deutschlernen und um Studienvorbereitungen kümmern."

Frage: Wie oft und wie finden Kontakte untereinander statt?

Nisren Habib: Eltern kommunizieren täglich mit ihren Töchtern und Söhnen im Ausland. Wahrscheinlich ist das das Erste, was jeder Syrer nach der Flucht macht: Er kauft sich ein Smartphone, damit er mit der Familie in Kontakt bleiben kann. Die meisten Familien gründen Gruppen in verschiedenen Social-Media-Plattformen. Eine solche Gruppe umfasst bis zu zwanzig Personen - eben die ganze Großfamilie. Sie verteilt sich möglicherweise auf sechs oder sieben Länder. Die Mitglieder tauschen Neuigkeiten aus, oder sie schicken sich täglich Grüße. Auch wenn die Flüchtlinge sehr damit beschäftigt sind, die Sprache des jeweiligen Landes zu lernen, zu arbeiten oder eine Wohnung zu suchen - diese Art von Beziehungsarbeit ist ihnen sehr wichtig.

Frage: Welchen Schwierigkeiten begegnen syrische Familien als Flüchtlinge?

Nisren Habib: Obwohl Syrer engen Kontakt zu Verwandten, Nachbarn und Freunden haben, ist die Privatsphäre der Familie doch unantastbar. Was in der Familie passiert, bleibt in der Familie - es sei denn, es gibt die gemeinsame Entscheidung, bestimmte Dinge nach außen zu tragen. Jede Familie lebt in ihrem eigenen Haus oder der eigenen Wohnung, mit einer eigenen Küche und einem Badezimmer. Diese Räume werden in unserer Kultur nicht mit anderen geteilt, das wird als unangenehm empfunden. Auch wenn mehrere miteinander verwandte Familien sich ein Haus teilen, haben sie immer noch eigene Räume, die sie nicht gemeinsam nutzen.

Am stärksten leiden die Frauen unter dem Verlust an Privatsphäre im Exil. Ganz gleich, ob eine Familie religiös ist oder nicht: Es sollte einen Raum für die weiblichen Familienmitglieder geben, wohin sie sich immer zurückziehen können. Und das gilt noch mehr für Frauen, die in der Öffentlichkeit Kopftuch tragen. Sie brauchen Räume, die ausschließlich privat sind. Das ist der Grund, weshalb die neue Situation in den Flüchtlingsheimen, weit weg vom eigenen Land und vom eigenen Haus, ein so großer psychischer Schock ist.

Ich habe im Juli 2016 das Aufnahmelager in Berlin-Tempelhof besucht, und ich habe gesehen, wie die Flüchtlinge dort in einem riesigen Gebäude leben. Das Gebäude ist in kleinere Einheiten, so genannte Kabinen, aufgeteilt, vier Wände ohne Dach und ohne Tür, nur mit einem Vorhang am Eingang. Die Regel ist, dass jede dieser Kabinen neun Personen beherbergen soll. Daher leben oft zwei oder mehr Familien in einer solchen Einheit. In dieser Situation leben die meisten Flüchtlinge seit letztem Oktober.

Frage: Gibt es noch andere Faktoren, die die Lage der Flüchtlinge erschweren?

Nisren Habib: Die meisten der Flüchtlinge kamen über die Türkei und Griechenland, über Ägypten oder Libyen nach Europa. Ihr wichtigstes Ziel war es, Asyl zu beantragen und dann ihre Familie nachzuholen. Als sie mit der Realität konfrontiert wurden, waren sie geschockt: Sie sahen, dass es viele Gesetze gibt, die die Vereinigung ihrer Familien entweder verzögern oder ganz verhindern. Nicht wenige sind daraufhin wieder nach Syrien oder in angrenzende Länder zurückgekehrt. Diese Möglichkeit haben aber auch nicht alle - dagegen stehen oft rechtliche Regelungen, Geldmangel oder eben die Situation in Syrien.

Frage: Welche Fragen erforschen Sie in Deutschland?

Nisren Habib: Bislang habe ich die positive Energie betont, die die syrischen Familienstrukturen unzweifelhaft haben. Bei meiner Recherche hier in Deutschland geht es mir allerdings um die Ambivalenz dieser Strukturen: Wir müssen sehen, dass die starken Bindungen innerhalb der syrischen Familien die persönliche Freiheit der Einzelnen beschränken. Gerade Frauen haben es schwer, selbstbestimmt ihren Platz zu finden. Was ich durch viele Begegnungen und Interviews herausfinden will, ist Folgendes: Welchen Einfluss hat eine Umwelt, die Frauenrechte unterstützt, auf die Selbstwahrnehmung von Frauen und auf ihre Rolle in der Familie und in der Gesellschaft? Stellt die aufnehmende Gesellschaft die passenden Mittel bereit, um den syrischen Frauen zu helfen? Kurz: Ist die neue Situation, in der sich syrische Frauen nach der Flucht befinden, für sie eher eine Belastung oder eine Chance?


Die syrische Geschlechterforscherin Nisren Habib ist zur Zeit Gast des WZB.
nisren.habib@wzb.eu

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 153, September 2016, Seite 25-27
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 491-0, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2016

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