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ERWACHSEN/057: Bildungswerkstatt (Leibniz-Journal)


Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft 1/2015

Bildungswerkstatt

von Marlene Halser


Immer mehr Menschen bilden sich nach ihrem Abschluss weiter. Einheitliche Standards für die Dozenten aber fehlen. Ebenso wie Möglichkeiten, diejenigen zu motivieren, die zusätzliche Qualifikationen am dringendsten bräuchten.


Dirk Henze hat sich nach der Mittagspause gerade wieder warm geredet, als sich die Tür zum Klassenzimmer öffnet. "Scheiße", sagt ein muskulöser junger Mann in schwarzer Jogginghose, schlüpft durch den Türspalt und eilt zu seinem Platz. Das Handy, mit dem er gerade telefoniert hat, hält er noch in der Hand. "Nee, nicht 'scheiße', sondern zu spät", sagt Henze. Dann fährt er mit dem Unterricht fort.


Fortbildung statt Fachkräftemangel

Auch wenn es diese Szene nicht vermuten lässt: Henze unterrichtet keine pubertären Schüler, sondern Erwachsene am Bildungs- und Beratungszentrum für Beruf und Beschäftigung, kurz BBZ, in Berlin. Acht Frauen und zwei Männer sitzen an diesem Nachmittag vor ihm. Sie besuchen einen Kurs, der sie auf die theoretische Abschlussprüfung zum Einzelhandelskaufmann vorbereiten soll. Sie machen ihren Abschluss nach. Freiwillig. Gerade ist Rechnungswesen dran und Henze erklärt mit viel Geduld und Verve, auf wie vielen verschiedenen Wegen man Preise für Waren berechnen kann.

Das Interesse an Erwachsenenbildung nimmt zu in Deutschland. 26 Millionen Menschen bilden sich jedes Jahr bundesweit fort, sagt Josef Schrader vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung (DIE), dem Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen in Bonn. Oder anders gesagt: Die Hälfte aller Deutschen zwischen 19 und 64 Jahren nimmt mindestens einmal im Jahr an einer Weiterbildung teil, meist innerhalb von Betrieben. Das sind mehr Menschen, als es Schüler und Studenten gibt. Die Zahl der Teilnehmer habe sich in den vergangenen 30 Jahren verdoppelt, so Schrader.

Die Losung vom "Lebenslangen Lernen", die Bildungspolitiker und Arbeitsforscher schon vor Jahren als unerlässlich für den Wirtschaftsstandort Deutschland und die Wissensgesellschaft ausgerufen haben, scheint angekommen zu sein. Der demografische Wandel spiele eine Rolle, sagt Petra Hübner, die Leiterin des BBZ. "Viele Betriebe merken seit ein paar Jahren, dass sie ihre Ausbildungsplätze nicht mehr besetzen können", erklärt die Schulleiterin. "Aber die Fachkräfte müssen irgendwo herkommen. Also bilden sich die Leute fort."

Auch die stets kürzer werdenden Zyklen technischer Neuerungen seien ein Grund für den gestiegenen Weiterbildungsbedarf, sagt Bildungsforscher Josef Schrader. "Wer immer auf dem neusten Stand sein will, muss sich regelmäßig weiterbilden." Ganz generell seien die Deutschen immer besser qualifiziert. Auch das trägt zur gestiegenen Nachfrage bei: Je besser die Ausbildung eines Menschen, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er nach seinem Abschluss weiter lernt.

Erwachsenenbildung ist ein extrem heterogenes Feld. Computerschulungen im eigenen Betrieb gehören ebenso dazu wie Kongresse und Tagungen für Mediziner oder der freiwillig besuchte Sprachkurs an der Volkshochschule - und natürlich Dirk Henzes Berufsschulklasse in Berlin, die am Ende zu einem Abschluss führt.


Ausbilden ohne Ausbildung

So vielfältig wie das Kursangebot sind auch die Probleme und Herausforderungen, die Erwachsenenbildung birgt. Eines der schwerwiegendsten Defizite ist die oft mangelnde pädagogische Ausbildung derer, die unterrichten. Der gesamte Bildungsbereich ist nirgendwo einheitlich geregelt. Verbindliche Qualifikationsstandards für Kursleiter, Dozenten und Trainer, die oft unter prekären Beschäftigungsbedingungen arbeiten, fehlen. Das DIE entwickelt deshalb ein Online-Portal, das wissenschaftlich erprobte Materialien als "Open Educational Resources" frei zur Verfügung stellt.

Auch Dirk Henze musste erst lernen, wie man eine Gruppe Erwachsener unter Kontrolle hält. "Erwachsene Menschen, die es nicht schaffen, pünktlich da zu sein?", sagt der groß gewachsene Mann und zieht die buschigen, schwarzen Augenbrauen hoch, als wäre er darüber immer noch erstaunt. "Da ist für mich erst mal eine Welt zusammen gebrochen." Henzes Schüler im BBZ sind größtenteils Harz-IV-Empfänger. "Die sind ganz schnell entmutigt und brechen ab, wenn man sie nicht motiviert", sagt er. Wie das geht, hatte ihm niemand beigebracht.

300.000 bis 400.000 Lehrkräfte arbeiten in der Erwachsenenbildung, sagt DIE-Direktor Josef Schrader, mehr als im klassischen Schulbereich. Die allermeisten beherrschen zwar das Fach, seien aber unsicher, wie sie ihr Wissen vermitteln sollen. Wie bereitet man den Stoff sinnvoll auf und plant Lernsituationen? Wie stellt man gute Fragen und gibt hilfreiches Feedback? Wie macht man Lernfortschritte sichtbar? All das müssen sich die meisten Dozenten selbst beibringen. Viele landen zudem eher über Umwege in der Erwachsenenbildung - quasi als Plan B, wenn etwas mit dem ursprünglichen Beruf nicht klappt, oft auch als Freiberufler, in Teilzeit, oder gänzlich unentgeltlich im Ehrenamt.


"Echt was in der Birne"

Dirk Henze hat Einzelhandelskaufmann gelernt und wollte nach einigen Jahren Berufserfahrung im Handel seinen eigenen Supermarkt aufmachen. Das ging schief und Henze war pleite. "Ich musste irgendwie gucken, wie ich Geld verdiene", erinnert er sich.

Er sah zufällig eine Anzeige und bewarb sich - als Ausbilder für Menschen, die so wie er Verkäufer werden wollen. Er bekam die Stelle. "Dann hab ich mich vor eine Gruppe gestellt und so getan, als würde ich das schon immer machen."

Was Henze gar nicht leiden kann, ist Unpünktlichkeit. Schon wenn er das Wort ausspricht, wird er ganz ernst. Das ist noch heute so. Zu Beginn seiner Zeit machte er seinem Ärger einmal Luft - mit schwerwiegenden Folgen. "Der junge Mann war eh schon ein problematischer Fall und dann kam er auch noch zu spät. Da habe ich ihn angeranzt", erinnert sich Henze.

Das ließ der Kursteilnehmer nicht auf sich sitzen und maulte zurück. Henze stieg darauf ein -und die ganze Klasse hörte mit. Heute weiß er: "Das Problem ist: Ich muss in einer solchen Situation gewinnen, sonst steht meine Autorität auf dem Spiel." Er bleibt deshalb von vornherein gelassen.

Der Schüler damals aber schmiss den Kurs und trat nicht zur Prüfung an. Henze ist heute noch traurig darüber. "Der hatte echt was in der Birne", sagt er. "So wie viele. Was ihm fehlte, waren Durchhaltevermögen und soziale Kompetenz."

Schüler wie die von Lehrer Henze sind in der Erwachsenenbildung unterrepräsentiert. Reinhard Pollak untersucht am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), wer Weiterbildungsmaßnahmen in Anspruch nimmt. Seine Projektgruppe "Nationales Bildungspanel: Berufsbildung und lebenslanges Lernen" koordiniert die umfassendste Befragung zur Erwachsenenbildung in Deutschland. Erste Ergebnisse zeigen: Besonders häufig bildet sich fort, wer einen Job hat, Vollzeit arbeitet, mittleren Alters und gut ausgebildet ist. Arbeitslose, Teilzeitbeschäftigte, Ältere und geringqualifizierte Menschen nehmen Weiterbildungsangebote dagegen seltener wahr - auch weil ihre Arbeitgeber es ihnen weniger häufig ermöglichen.

Die Befunde geben noch weitere Details preis: Wer organisiert, plant, berät, informiert, pflegt oder unterrichtet, bildet sich eher weiter als jemand, der etwas herstellt, transportiert, lagert, ein- und verkauft oder reinigt.


"Aufsuchende Bildungsarbeit"

Es ist eine große Herausforderung, auch diese zweite Gruppe zu motivieren", sagt auch Josef Schrader vom DIE, man müsse auf Menschen mit geringeren Bildungsabschlüssen und entsprechend weniger Motivation zugehen, weil diese nur selten Eigeninitiative zeigen. "Aufsuchende Bildungsarbeit" nennt er das. Am BBZ hat man dafür offenbar eine andere Lösung gefunden. "Bei uns wird die berufliche Vorerfahrung angerechnet", sagt Schulleiterin Petra Hübner stolz. Wer eine Ausbildung schon einmal begonnen hat, kann an diesem Punkt wieder einsteigen, muss also nicht erneut drei Jahre Ausbildung absolvieren, sondern lediglich das nachholen, was ihm noch fehlt. Eine Regelung, die so nur in Berlin gelte, wie sie sagt.

Ohne diese Regelung säße wohl auch der junge Mann in der schwarzen Jogginghose nicht in Dirk Henzes Klasse. 26 Jahre ist er alt. Seinen Namen will er nicht nennen. Mehrfach hat er eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann in verschiedenen Fahrradgeschäften begonnen. Im letzten Betrieb lernte er "ein paar Jungs" kennen - und stieg in deren Geschäft mit ein. Nun will er seinen Abschluss nachholen, wie er sagt, "und dann vielleicht einen eigenen Laden aufmachen". Mal sehen, ob ihn Dozent Henze durch die Prüfung bringt.

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Quelle:
Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 1/2015, Seite 32-34
Herausgeber: Präsident der Leibniz-Gemeinschaft
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2015

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