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KIND/073: Die Chancen Aller auf Bildung verbessern (mundo - Universität Dortmund)


mundo - Das Magazin der Universität Dortmund Nr. 7/07

Die Chancen Aller auf Bildung verbessern
Wie gut verstehen und sprechen Nordrhein-Westfalens Kinder deutsch?

Interview mit Prof. Lilian Fried, die einen Sprachtest für Vierjährige entwickelt hat


FRAGE: Prof. Fried, wie verläuft die normale Sprachentwicklung eines Kindes?

PROF. LILIAN FRIED: Kinder sind gierig danach, sprechen zu lernen. Sie machen die Erfahrung, dass Erwachsene nicht so reagieren, wie sie es wollen, wenn sie nur rumknöttern, werden also belohnt für Sprachgebrauch. Die Sprachentwicklung beginnt schon mit der Geburt - einige Wissenschaftler sagen sogar, schon vorher. In einem sehr jungen Alter hat es einen begrenzten Fundus an Wörtern, der dann etwa im Alter von zwei Jahren explosionsartig zunimmt - es sei denn, ein Kind gehört zu den "Late Talkern". Zwischen drei und vier Jahren ist eine gewisse "Plateau-Phase" erreicht. Das Kind beherrscht dann schon eine ganze Menge an sprachlichen Mitteln. Psycholinguisten - das sind Wissenschaftler, die sich mit der menschlichen Sprachfähigkeit beschäftigen - sagen, dass sich Sprache danach nur noch verfeinert und ausdifferenziert. Die Grundlage ist mit vier Jahren gelegt. Das Sprechenlernen beginnt mit Nachahmung, aber schon im Säuglingsalter setzt sich das Eigene dagegen: Ich brauche zwar den Erwachsenen, aber ich habe auch eine eigene Identität. Ein Kind bewegt sich immer zum Erwachsenen hin und strebt gleichzeitig von ihm weg - etwa in der Trotzphase, wenn es sich einfach absetzt, oder wenn der Zweijährige loswackelt, weil er Freude an der Autonomie hat, die er da erlebt. Das ist eine Grundstruktur des Menschen.

FRAGE: Beim Spracherwerb kann das Kind seine Identität aber doch erst mal nicht ausleben, sondern wird in das Korsett der Grammatik gezwängt.

PROF. LILIAN FRIED: Ja und nein! Auf der einen Seite ist das Kind darauf angewiesen, die Sprache mit ihren Normierungen zu übernehmen, wenn es sich verständigen will. Andererseits ist es für Kinder im Vorschulalter typisch, dass sie mit Sprache spielen und daran ungeheure Freude haben. Das beginnt sogar schon im Säuglingsalter, diese Lall-Monologe sind die ersten Zeichen dafür. Die Älteren erfinden dann Quatschwörter, stellen Sätze um und lachen sich darüber kaputt, weil auch das ihnen ein Gefühl der Autonomie verleiht: Ich kann damit umgehen, ich bestimme über die Sprache! Wenn ein Kind mit Sprachelementen spielt, dann wird es die Sprache auch bald beherrschen.

FRAGE: Früher kamen Kinder mit frühestens drei Jahren in den Kindergarten. - Wurde das auch mit dem Spracherwerb begründet?

PROF. LILIAN FRIED: Vor allem war es Pragmatismus: Mit drei Jahren sind Kinder in der Regel sauber und machen den Erziehern nicht mehr so viel Arbeit. Aber es hing auch zusammen mit einer entwicklungspsychologisch inzwischen überholten Haltung: Die Reifungspsychologie ging davon aus, dass Kinder ab drei Jahren fähig sind, in Gruppen zu agieren und die Trennung von den Eltern zu verkraften. Wir wissen heute, dass das nicht stimmt. Man hatte einfach keine Kinder beobachten können, bei denen es anders war. In den 70er-Jahren hat man die Kinder dann schon früher zueinander geführt, und man merkte, welche soziale Kompetenz schon da ist, wie schon Kleinkinder Dinge miteinander aushandeln, ohne dass das immer sprachlich abläuft.

FRAGE: Jedes Kind ist verschieden, aber wer einen Test entwickelt, muss eine Art Musterkind vor Augen haben. Was muss Ihr Musterkind mit vier Jahren können?

FRAGE: Ein vierjähriges Kind beherrscht die Muttersprachlaute - eventuell mit Ausnahme der Zisch-Laute wie "s", "sch", "st" und mit Ausnahme komplizierter Konsonanten-Kombinationen wie "str". Es sollte einen erheblichen Wortschatz haben und erkennen können, dass es semantische Netzwerke gibt - also dass es Oberbegriffe wie "Möbel" gibt, und was dazu gehört. Dann sollten sie mindestens Drei- und Vier-Wort-Sätze bilden können und einfache Haupt- und Nebensatzkonstruktionen beherrschen. Schließlich sollten Vierjährige etwas erzählen können. Das heißt, ihre Geschichten sollten einen Anfa ng haben, der die Zuhörer einführt, und einen Höhepunkt. Natürlich haben Vierjährige noch sehr primitive Erzählformen, trotzdem können ihre Geschichten bereits diese Makrostruktur haben. Für den weiteren Bildungsverlauf sehr wichtig ist die Phonembewusstheit: die Fähigkeit, Laute zu unterscheiden. Wir können daran ablesen, wie es um den Arbeitsspeicher des Kindes für phonetische Einheiten steht. Wenn der nicht gut entwickelt ist, sind auch Folgeentwicklungen wie Lesen und Schreiben bis hin zur Mathematik davon betroffen.

FRAGE: Wie haben Sie bestimmt, wo die Messlatte liegt, was ein Kind also können muss?

PROF. LILIAN FRIED: Das war nicht so einfach. Es gibt Meilensteine der Sprachentwicklung, die in de Literatur benannt werden, aber meist geht es dabei nur um zwei- bis dreijährige Kinder. Drei- bis Sechsjährige hat man deutlich weniger untersucht. Für Psycholinguisten ist es wohl interessanter, das erstmalige Auftreten bei der Sprachentwicklung zu beobachten, als nur Bestandsaufnahmen zu machen. Außerdem ist die deutschsprachige Forschung relativ dürftig, und die Ergebnisse aus anderen Ländern kann man eben nicht eins zu eins übertragen. Semantik und Wortschatz werden natürlich geprägt von der Kultur. Wir haben dann alles zusammengestellt, was wir finden konnten, um Markierungspunkte zu setzen, denn ein Test kann nicht alles erfassen, was ein Kind sprachlich äußert. Man muss ökonomisch vorgehen, sich auf die wichtigsten Anzeichen beschränken und überlegen, wofür welches Anzeichen steht.

FRAGE: Gleichzeitig musste der Test für die Erzieher, die damit umgehen, leicht zu handhaben sein.

PROF. LILIAN FRIED: Ja, und als ehemalige Grundschullehrerin war es mir wichtig, eine Form zu finden, die sich in den Alltag einfügt. Daher ist das Setting ein Brettspiel, das von einem Zoo-Besuch handelt. Ein Test ist immer eine künstliche Situation, die relativ strikt geregelt werden muss, um Ergebnisse miteinander vergleichen zu können. Aber wenigstens der Rahmen sollte Kindern und Erziehern vertraut sein. Die ZooIdee hatte ich durch eine Expertise, die ich vor einigen Jahren gemacht habe. Es ging darum, worüber Kinder im Vorschulalter besonders gut Bescheid wissen, und dazu gehört in dem Alter die Tierwelt, zu der Kinder auch einen guten emotionalen Bezug haben. Außerdem gibt es im Fernsehen seit einiger Zeit eine Fülle von Zoo-Sendungen, so dass wir glaubten, das müsste fast allen Kindern bekannt sein, selbst wenn sie noch nie in einem Zoo waren.

FRAGE: Es gibt doch bereits eine Reihe von Diagnostiken, mit denen Erzieher auch schon umgehen.Warum war die Neuentwicklung nötig? Viele Erzieherinnen sehen die Tests kritisch.

PROF. LILIAN FRIED: Die bestehenden Tests dürfen entweder nur von Psychologen durchgeführt werden, oder sie dauern pro Kind 40 Minuten, oder sie sind nicht kindgemäß oder auf dem neuesten Entwicklungsstand. Es gab eine Reihe von Einwänden, daher bestand die Notwendigkeit, etwas Eigenes zu entwickeln. Natürlich waren einige Erzieherinnen zunächst nicht begeistert. Aber wenn man es genau nimmt, kommt überhaupt nichts Neues auf sie zu. Die Einschätzung der Kinder ist pädagogische Alltagsarbeit, und sie bekommen ein Verfahren zur professionellen Einschätzung der Kinder. Förderung und Diagnostik gehören einfach zusammen. In der Ausbildung von Lehrern und Erziehern wurde die Diagnostik lange Zeit vernachlässigt, das merkt man jetzt. Wenn Erzieherinnen mit dem Test schlecht umgehen können, dann meist, weil sie nicht wissen, warum sie wichtig sind. Diese Erzieher können nur schwer nachvollziehen, warum man sich ganz strikt an die Regeln halten muss und nicht dem Kind folgen kann wie in anderen Situationen. Dagegen haben Erzieherinnen, die schon Erfahrung mit Beobachtungsinstrumenten haben, gar keine Schwierigkeiten mit dem Verfahren.

FRAGE: Wie läuft das Spiel genau ab?

PROF. LILIAN FRIED: Um Ressourcen zu sparen, ist unser Text zweistufig. Im ersten Durchlauf, beim Grobscreening, kommt es darauf an, Kinder mit unproblematischer Sprachentwicklung von denen zu trennen, bei denen man das nicht sofort sagen kann. Dieses Zoo-Spiel spielt eine Erzieherin mit vier Kindern, das Spiel dauert 25 Minuten. Eine Lehrkraft der benachbarten Grundschule protokolliert. Das Spielbrett zeigt einen ZooRundgang, in der Mitte liegen Kartenstapel. Die Kinder gehen von Station zu Station, dürfen eine Karte ziehen, und die Erzieherin liest vor, zum Beispiel: "Stelle deine Figur auf das Dach des Schlangenhäuschens. Für jede richtige Handlung gibt es " Punkte. Auf einer anderen Karte geht es darum, Kunstwörter nachzusprechen: "Die kleine Giraffe hat noch keinen Namen. Ruf sie doch mal! Rufe Kali, Fegup, Durwig". Hier geht es um Phonembewusstheit. Manche Vierjährigen sind noch nicht in der Lage, die Lautkombinationen so scharf wahrzunehmen, kurz im Arbeitsspeicher zu behalten und wiederzugeben, aber das gehört zu den wichtigsten Sprachfähigkeiten. Für viele ist es verblüffend, dass man nicht aus ganz normalen sprachlichen Äußerungen eines Kindes ablesen kann, ob es altersgemäß redet, sondern dass es bestimmte Scheidepunkte gibt, auf die man achten muss. Für die zweite Test-Stufe gibt es ein anderes Spiel, dort besuchen die Kinder verschiedene Zimmer eines Hauses. Dieses Spiel spielen die Erzieher nur mit einem Kind, und es dauert länger. Getestet werden hier etwa Satzgedächtnis, Pluralbildung, Wortschatz und Kenntnis von Wortarten wie Adjektiven und Präpositionen. Am Ende entsteht für jedes Kind ein Profil, und wir geben den Erziehern Vorschläge an die Hand, wie sie welche Kind fördern können.

FRAGE: Fast jedes dritte Kind musste die zweite Teststufe absolvieren. Jedes vierte bis fünfte Kind hat nach Ihrer Schätzung systematischen Förderbedarf. Ist das nicht ein sehr hoher Satz?

PROF. LILIAN FRIED: Diese Kinder werden nicht alle mit einer Sprachstörung enden! Es sind oft nur Entwicklungsverzögerungen, aber diese Kinder brauchen Futter, um sich weiterzuentwickeln. Einige würden es sicher auch alleine schaffen, bis Schulbeginn fit zu werden, aber andere eben nicht.

FRAGE: Was können Eltern tun, um die SprachEntwicklung ihres Kindes zu fördern?

PROF. LILIAN FRIED: Das Beste ist, mit seinen Kindern viel zu sprechen, in entspannter Situation und ruhiger Stimmlage, und dabei auf eine einfache und klare Sprache zu achten. Kinder arbeiten mit dem, was ihnen als Sprachmodell geboten wird. Wer nicht so gut sprechen kann, sollte vorlesen. Das empfiehlt sich auch, weil dabei der emotionale Bezug gestärkt wird. Außerdem ist es wichtig, dem Kind die Führung zu überlassen und sich nur als Impulsgeber zu verstehen. Wer das Kind ständig verbessert, mindert seine Freunde daran.


Interview: Katrin Pinetzki


Info:

Alle Vierjährigen aus Nordrhein-Westfalen, rund 180.000 Kinder, mussten in diesem Frühjahr nachweisen, wie gut sie Deutsch verstehen und sprechen. In zwei Stufen untersuchten Erzieherinnen und Erzieher gemeinsam mit Grundschullehrern, ob und wie die Kinder systematisch gefördert werden müssen, um optimal auf die Schule vorbereitet zu sein. Dabei wurden in der ersten Teststufe alle Kinder aussortiert, deren Sprachentwicklung unproblematisch verläuft. Alle anderen Kinder wurden in einem zweiten Test intensiver beobachtet und bekommen im Anschluss eine Diagnose mit Förderansätzen. Der Test mit dem Namen "Delfin 4" (Diagnostik, Elternarbeit, Förderung der Sprachkompetenz In Nordrhein-Westfalen bei vierJährigen) hat die Form eines Brettspiels und wurde entwickelt an der Uni Dortmund von Prof. Dr. Lilian Fried am ISEP (Institut für Sozialpädagogik, Er wachsenenbildung und Pädagogik der frühen Kindheit).


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Quelle:
mundo - das Magazin der Universität Dortmund, Nr. 7/07, S. 50-52
Herausgeber: Referat für Öffentlichkeitsarbeit
Universität Dortmund, 44221 Dortmund
Redaktion: Angelika Willers (Chefredakteurin)
E-Mail: redaktion.mundo@uni-dortmund.de
Internet: www.uni-dortmund.de

mundo erscheint zwei Mal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Mai 2008