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SCHULE/273: Auf Silbensuche (Portal - Uni Potsdam)


Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung 4-6/2009

Auf Silbensuche
Ein Trainingsprogramm hilft leseschwachen Kindern

Von Thomas Pösl


Wenn Kinder lesen, mutieren Regenwürmer schnell mal zu Rennwürmern und Matrosen verwandeln sich in Aprikosen. Derartige phantasievolle Verdrehungen, bei denen Lesen und Raten einhergehen, sind zwar amüsant, aber nicht selten ein Indiz für Leseschwierigkeiten. Jungs sind häufiger betroffen als Mädchen, egal, ob die Betroffenen eine Regel- oder Privatschule besuchen. Dr. Christiane Ritter hat mit einem von der DFG geförderten Projekt ein Lesetrainingsprogramm auf Silbenbasis evaluiert, das die basalen Lesefähigkeiten derjenigen Kinder fördert, die Schwierigkeiten haben, Wörter systematisch und einigermaßen flüssig zu lesen.


Um ein Wort im Langzeitgedächtnis abzuspeichern, muss es mehrfach vollständig und angemessen schnell gelesen werden. Erst dann stellt sich eine gewisse Automatisierung ein. Passiere dies nicht, so Ritter, stagniere die Leseentwicklung. Die Konsequenz sei oft, dass Kinder nicht oder nur sehr wenig lesen. Sie entwickelten sogar Angst vor langen Texten. "Lesen, besonders Vorlesen in der Schule, ist ja auch immer etwas Öffentliches. Nicht Lesen können hinterlässt deutliche Spuren beim Selbstwertgefühl."

Das Trainingsprogramm hatte die studierte Grundschulpädagogin schon während ihrer Promotion erstellt. Nun hat sie das Programm empirisch genauer evaluiert: mit mehr Kindern, unterschiedlichen Lernbedingungen und mit einem Team aus studentischen Hilfskräften. Seit Mitte 2007 hat Ritter an neun Potsdamer und einer Kleinmachnower Grundschulen mit über siebzig Schülern ihr spezielles Lesetraining eingesetzt. "Nach den Lesetests habe ich mit den Eltern der auffälligen Kinder telefoniert und angeboten, sie zu fördern. Viele der Eltern waren erleichtert, denn da gab es auch einen enormen Leidensdruck."

Den Hintergrund des Trainings bildet die linguistische Forschung, wonach Silben als zentrale Einheiten für das Lesen- und Schreibenlernen gelten. "Wenn ein Kind in der Lage ist, etwa das Wort 'Tomate' in Silben zu sprechen, liegt der einfache Rückschluss nahe, dass es das Wort auch so lesen kann. Aber wie bekommt es heraus, wie weit es innerhalb einer Buchstabenfolge lesen muss, um zu einer Silbe zu gelangen? Das Problem besteht im sinnvollen Unterteilen. Die Trennung von Wörtern in Schreibsilben folge dabei, so Ritter, der so genannten Ein-Graphem-Regel. Die besagt, dass ein Konsonant nach der Trennung eines Wortes am Anfang der nächsten Silbe bleibt. "Wir haben zuerst die mündliche Silbengliederung geübt und den Kindern dann explizit diese Regel beigebracht, indem wir mittels Kärtchen Fantasiewörter gelegt oder geschriebene Wörter in einzelne Schreibsilben unterteilt haben. Die Strategie war, den Kindern begreiflich zu machen, dass immer ein Mitlaut zur nächsten gelesenen Silbe gehört." Dies funktioniere bei den meisten Wörtern, außer bei den zusammengesetzten. Hier erfordere die künstliche Grenze zwischen den Wörtern mit Blick auf die Silbenaufteilung noch andere Strategien.

Das Training, das auch ein eigens entwickeltes Computerprogramm enthält, verfolgt zwei Ziele: Die Verbesserung der Lesegenauigkeit und die Erhöhung der Lesegeschwindigkeit. "Wenn ich anhand solch einer Regel Silben trenne, dann macht mich das sehr wahrscheinlich genauer und ich bin in der Lage, auch lange Wörter sehr genau zu lesen. Aber es macht mich nicht schneller. Deshalb ist ein Blitzwort-Programm Bestandteil des Strategietrainings, bei dem die Kinder unter Zeitdruck Wörter lesen. Die Kinder hatten gerade so viel Zeit, dass sie noch alle Buchstaben sehen konnten. Dies fördert die Verarbeitung in Einheiten, die größer sind als einzelne Buchstaben, so dass gleich eine ganze Silbe mitgenommen wird.

Ritters Hypothese, wonach sich durch das Strategietraining - auch bei Komposita - die Fehlerzahl und das Lesetempo signifikant verbessern würden, hat sich bestätigt. Mehr noch: "Die Idee war auch zu prüfen, ob durch einfaches, kontinuierliches Vorlesen ohne Lesehilfen, Fortschritte erzielt werden können". Und tatsächlich sind die Kinder der Vorlesegruppen schneller geworden. Die Kinder, die das Strategietraining durchlaufen haben, wurden aber zudem noch genauer. Und es bringt langfristige Erfolge, auch über die Testphase hinaus.


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Quelle:
Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung Nr. 4-6/2009, Seite 38
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juli 2009