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SCHULE/408: Das Recht auf Inklusion (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 145, September 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Das Recht auf Inklusion
Schulsystem und Pädagogik müssen sich ändern

von Jutta Allmendinger und Michael Wrase



Kurz gefasst: Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen schreibt seit 2009 verbindlich vor, dass Kinder mit einer Behinderung Anspruch auf Zugang zu einem hochwertigen inklusiven Schulsystem haben. Das Recht auf Inklusion fordert die Veränderung der Schulsysteme in den deutschen Bundesländern, wonach Kinder mit Behinderung größtenteils noch immer an separierten Förderschulen unterrichtet werden. Pädagogik und Lehrerausbildung müssen zukünftig nach dem Leitbild der Inklusion ausgerichtet werden.

Seit 2009 ist die Behindertenrechtskonvention (BRK) der Vereinten Nationen für die Bundesrepublik rechtsverbindlich. Der darin enthaltene Artikel 24 bedeutet nicht weniger als einen Paradigmenwechsel für das bestehende Schulsystem in den deutschen Bundesländern. Er statuiert das Recht von Kindern und Jugendlichen mit einer Behinderung auf Zugang zu einem "inklusiven, hochwertigen" Schulunterricht. Doch auch fünf Jahre nach dem Inkrafttreten der Konvention werden Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf in Deutschland regelmäßig an speziellen Förderschulen und nicht an den allgemeinen Schulen unterrichtet. Gerechtfertigt wird der gesonderte Unterricht mit (sonder-)pädagogischen Notwendigkeiten. Allein im Schonraum der Förderschulen könnten Kinder mit einer Behinderung die besondere Zuwendung und Förderung erhalten, die sie benötigen.

Die Ursprünge hierfür liegen im Aufbau des Hilfsschulsystems für schwer bildbare Kinder Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Idee, dass Schüler mit einer Behinderung in einer getrennten Bildungseinrichtung besser unterrichtet werden, hat sich im Sonder- beziehungsweise Förderschulwesen institutionell verfestigt. Zudem etablierte sich die Sonder- und Heilpädagogik an den Hochschulen als eigenständiger Studiengang und als eine von der allgemeinen Pädagogik getrennte rehabilitationswissenschaftliche Disziplin.

Der europäische und internationale Vergleich zeigt, dass in kaum einem anderen Land das Förderschulwesen so stark ausgebaut ist wie in Deutschland. Während hierzulande noch immer zwischen 70 und 80 Prozent aller Schüler mit attestierter Behinderung an gesonderten Schulen unterrichtet werden, sind es beispielsweise in Norwegen, Italien oder den USA weniger als 10 Prozent. Auch wenn Verzerrungen in der statistischen Vergleichbarkeit nicht auszuschließen sind, spricht bereits der quantitative Vergleich eine deutliche Sprache. Dabei zeigt sich in Deutschland mit Blick auf die einzelnen Bundesländer sogar ein paradoxer Effekt: Während die Quote der an den allgemeinen Schulen unterrichteten Schüler mit einem attestierten sonderpädagogischem Förderbedarf kontinuierlich ansteigt, ist die Zahl der Förderschüler im Vergleich zur Gesamtschülerzahl in den letzten zehn Jahren nahezu konstant geblieben. Die Zahl der integriert geförderten Schüler steigt absolut betrachtet zwar an. Dies kann aber mit Unterschieden in der statistischen Erfassung und auch damit erklärt werden, dass sich die Schulen zusätzliche Ressourcen sichern, indem sie offiziell bei immer mehr Schülerinnen und Schülern einen sonderpädagogischen Förderbedarf in den Förderbereichen Lernen, Sprache und sozial-emotionale Entwicklung feststellen lassen.

Auf dem Weg zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention haben sich die meisten deutschen Bundesländer also deutlich weniger bewegt, als es nach der offiziellen Statistik der Kultusministerkonferenz den Anschein hat. Lediglich Schleswig-Holstein hat die Förderschulquote in den vergangenen Jahren auf 2,5 Prozent aller Schüler gesenkt und dabei die Integration der Schüler in die allgemeinen Schulen mit einer schrittweisen Schließung der Förderschulen verbunden. Die norddeutschen Stadtstaaten Bremen und Hamburg befinden sich heute auf einem ähnlichen Weg.


Von der Segregation über die Integration zur Inklusion

Der Wortlaut von Artikel 24 BRK ist unmissverständlich: Menschen dürfen "nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden" (Absatz 2, Buchstabe a). Gesonderte Bildungseinrichtungen wie Förderund Sonderschulen sind damit zwar nicht generell unvereinbar. Die Zuweisung an eine solche gesonderte Einrichtung muss jedoch ein Ausnahmefall bleiben und bedarf besonderer Rechtfertigung. Darüber besteht in der juristischen Literatur Einigkeit.

Den Begriff Inklusion sucht man in der amtlichen deutschen Übersetzung der BRK indes vergeblich. Dort wird vielmehr davon gesprochen, dass "Menschen mit Behinderung gleichberechtigt [...] Zugang zu einem integrativen (Herv. der Verf.), hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben" (Artikel 24, Absatz 2, Buchstabe b).

Diese deutsche Übersetzung hat erhebliche Kritik herausgefordert, vor allem von Seiten der Behindertenverbände. Die juristisch maßgebliche englische Fassung der BRK verwendet demgegenüber die Begriffe inclusive education beziehungsweise spricht an anderer Stelle von inclusion. Nach Artikel 50 BRK ist der Wortlaut der deutschen Übersetzung juristisch nicht verbindlich. Folglich ist mit der englischen Originalfassung davon auszugehen, dass der BRK das Konzept der Inklusion zugrunde liegt, ein Ergebnis, das mittlerweile auch durch eine Entschließung des Deutschen Bundestags bestätigt worden ist und in der rechtswissenschaftlichen Literatur, soweit ersichtlich, nicht mehr angezweifelt wird.

Aber ist der Unterschied zwischen dem bekannten Konzept der Integration und dem nun durch die BRK verbindlichen Konzept der Inklusion tatsächlich so grundlegend? Oder handelt es sich im Wesentlichen um denselben Ansatz, der nur in ein neues Wort gekleidet wurde?

Anliegen der seit Ende der 1960er Jahre auch in Deutschland aufkommenden Integrationspädagogik ist es, den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne eine attestierte Behinderung zu ermöglichen und damit die Aussonderung der Förderkinder aus dem allgemeinen Schulsystem zu überwinden. Das entspricht der zentralen Verpflichtung aus Artikel 24 BRK. Das Konzept der Inklusion geht aber darüber noch hinaus. Es versucht, die Defizite und Fehlentwicklungen des Integrationsansatzes zu vermeiden. Inklusion verlangt danach die systemische Umstellung auf ein Schulwesen, in dem Kinder mit unterschiedlichen Fähigkeiten, unterschiedlichem Förderbedarf und sozialem Hintergrund gemeinsam lernen und dabei individuell gefördert werden. Für die Verwirklichung des Rechts auf inklusive Schulbildung reicht es daher nicht aus, Ressourcen für die sonderpädagogische Förderung von den Förder- an die allgemeinen Schulen zu verlagern. Auch das nur räumliche Beisammensein der sonderpädagogisch geförderten Schüler mit anderen Schülern, wie es in der Praxis der integrativen Beschulung häufig anzutreffen ist, genügt nicht. Vielmehr soll ein wirklich gemeinsamer Unterricht stattfinden. Dies erfordert eine neue organisatorische und curricular-inhaltliche Ausrichtung des Unterrichts, die den Unterschieden zwischen den Schülern ausreichend Rechnung trägt und individuelle Förderung in weit höherem Maße ermöglicht, als dies an den Schulen bislang der Fall ist.

Ein solcher Unterricht, der vom überkommenen Prinzip der Leistungshomogenität der Schüler grundlegend abweicht, stellt an die Lehrkräfte hohe Anforderungen. Er lässt sich nur im Rahmen einer inklusiven Pädagogik verwirklichen, die den Gegensatz zwischen Sonder- und allgemeiner Pädagogik überwindet.


Das Recht auf Inklusion verlangt eine inklusive Pädagogik

Dass ein am Leitbild der Inklusion ausgerichteter Unterricht keine praxisferne Utopie ist, zeigen modellhaft viele Schulen im In- und Ausland, in denen Klassen etwa im Wege des Co-Teaching von mehreren Lehrkräften unterrichtet werden. Bei Kindern mit schwereren Behinderungen werden die Lehrer meist noch durch Integrationshelfer unterstützt, die in Deutschland vom Sozial- oder Jugendamt finanziert werden. Von dem gemeinsamen Unterricht profitieren dann auch die Schülerinnen und Schüler, bei denen offiziell kein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt worden ist. Denn die zusätzliche Förderung steht den Schülern in der Praxis meist nicht nur individuell, sondern der gesamten Lerngruppe zur Verfügung. Sie kann flexibel dort eingesetzt werden, wo sie benötigt wird; und das ist in der Praxis keineswegs nur bei den Schülern mit offiziell diagnostizierten (Lern)Behinderungen der Fall.

Artikel 24 BRK verlangt also nicht nur eine Integration der Schülerinnen und Schüler mit Behinderung in die allgemeinen Schulen, sondern setzt eine systemische Veränderung der institutionellen Strukturen und der pädagogischen Konzepte voraus. Das ist ein längerfristiger Prozess. Wesentlich ist dabei, dass Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung nach den Vorgaben der BRK ihren Anspruch auf besondere Förderungs- und Unterstützungsleistungen nicht verlieren. Dieser ist in der BRK sogar ausdrücklich verankert und muss im Rahmen einer "inklusiven, hochwertigen" Beschulung an den Regelschulen sichergestellt werden. Die entsprechenden rechtlichen Vorgaben reichen dabei von der Vornahme "angemessener Vorkehrungen" ("reasonable accommodation", Artikel 24, Absatz 2, Buchstabe c), wie zum Beispiel der Gewährleistung eines barrierefreien Zugangs zu den Unterrichtsräumen durch Einbau von Rampen und Aufzügen oder der Bereitstellung von Lehrmaterial in Braille-Schrift für blinde Schüler (vgl. auch Artikel 24, Absatz 3, BRK), bis hin zur Gewährleistung "individuell angepasste[r] Unterstützungsmaßnahmen" und der Schaffung eines "Umfeld[s], das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet" (Artikel 24, Absatz 2, Buchstabe e).

Inklusion darf somit auf keinen Fall zu einem Sparmodell werden. Ressourcen für förderbedürftige Kinder und Jugendliche dürfen durch die Umstrukturierung des Schulsystems und die Schließung von Förderschulen nicht gekürzt oder gestrichen werden. Vielmehr sind die notwendigen personellen und sachlichen Ressourcen konsequent an die allgemeinen Schulen zu verlagern. Dies geschieht in einzelnen Bundesländern dadurch, dass Förderschulen in mobile Förderzentren umgewandelt werden, deren sonderpädagogisch geschultes Personal die Lehrerinnen und Lehrer an den Regelschulen unterstützt. Darüber hinaus wird der Einsatz von zusätzlichem pädagogisch geschultem Personal unumgänglich sein, um eine hohe Qualität des Unterrichts an den Regelschulen, aber auch die notwendige individuelle Förderung aller Schüler sicherzustellen. Dies erfordert erhebliche, auch finanzielle Anstrengungen, zu denen sich aber Bund und Länder mit der Ratifikation der BRK verpflichtet haben.


Wie das Recht auf Inklusion umgesetzt werden kann

Die meisten Landesregierungen, die Kultusministerkonferenz und die Bundesregierung bekennen sich zur Umsetzung des Rechts auf inklusive Schulbildung. Nun wird es darauf ankommen, konkrete Schritte zu unternehmen. Dabei kann sich der Bund nicht durch die Länderzuständigkeiten aus der Verantwortung ziehen. So stehen ihm, auch ohne Abschwächung des Kooperationsverbots im Schulbereich, wichtige Einfluss- und Unterstützungsmöglichkeiten offen. Das betrifft etwa die Regelungen zu den Integrationshelfern, die im Schulalltag bei der Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen eine sehr wichtige Rolle spielen. Bislang fehlt es an einheitlichen Vorgaben für die pädagogische Ausbildung, berufliche Qualifikation und den gesicherten, arbeitsrechtlichen Status des eingesetzten Personals, was in der Praxis oft zu erheblichen Problemen führt. Die Zusammenfassung der entsprechenden Bestimmungen im Sozialgesetzbuch XII und XIII in einem geplanten "Bundesteilhabegesetz" bietet die Chance, konkrete rechtliche Vorgaben und Ansprüche festzuschreiben. Dazu wird es notwendig sein, die Regelungen zur Unterstützung der schulischen Inklusion aus der allgemeinen Eingliederungshilfe herauszulösen und in eine eigenständige Regelung zu überführen, die dann - im Gegensatz zur derzeitigen Rechtslage - auch Unterstützungsbedarf in Fällen von Lernbehinderung und von sozial-emotionalen Entwicklungsstörungen erfasst.

Darüber hinaus müssen Wege ausgelotet werden, wie der Bund die Länder bei der Umsetzung der Inklusion finanziell nachhaltig unterstützen kann. Dies könnte etwa durch Mehrzuweisungen bei der Verteilung des Steueraufkommens geschehen. Die Bundesländer sind gefordert, den Vorreitern Schleswig-Holstein, Bremen und Hamburg zu folgen und ihr segregiertes Förderschulsystem konsequent in ein inklusives Schulsystem umzuwandeln. Die Lehrerausbildung muss gleichzeitig so umgestaltet werden, dass die institutionellen Barrieren zwischen Sonder- und allgemeiner Pädagogik aufgehoben werden und die sonderpädagogischen Inhalte in die allgemeine Lehrerausbildung integriert werden. Hierfür sind - wie es die Kultusministerkonferenz angekündigt hat - allgemeine, möglichst bundesweit gültige Standards zu entwickeln. Nur wenn diese Weichen richtig gestellt werden, wird eine Umsetzung des Rechts auf inklusive Schulbildung in Deutschland tatsächlich gelingen.


Michael Wrase ist Jurist und wissenschaftlicher Mitarbeiter am WZB in der Projektgruppe der Präsidentin. Er ist Lehrbeauftragter an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld.
michael.wrase@wzb.eu

Jutta Allmendinger ist seit 2007 Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung und Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin.
jutta.allmendinger@wzb.eu


Literatur

Degener, Theresia: "Das Recht auf inklusive Bildung als Menschenrecht". In: Kritische Justiz, 2012, Jg. 45, H. 4, S. 405-419.

Hinz, Andreas: "Von der Integration zur Inklusion - terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung?". In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 2002, Jg. 53, H. 9, S. 354-361.

Powell, Justin W./Pfahl, Lisa: "Sonderpädagogische Fördersysteme". In: Ullrich Bauer/ Uwe H. Bittlingmayer/Albert Scherr (Hg.): Handbuch Bildungs- und Erziehungssoziologie. Wiesbaden: Springer VS 2012, S. 721-739.

Siehr, Angelika/Wrase, Michael: "Das Recht auf inklusive Schulbildung als Strukturfrage des deutschen Schulrechts - Anforderungen aus Art. 24 BRK und Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG". In: Recht der Jugend und des Bildungswesens (RdJB), 2014, Jg. 62, H. 2, S. 161-182.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 145, September 2014, Seite 39-42
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph. D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2014