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BERICHT/059: Rückblende, Experimente in der Puppenstube (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - 1/2007
Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft

Rückblende
Experimente in der Puppenstube

Von Birgit Fenzel


Wenn Forscher im Labor in die Spielzeugkiste greifen, kann das durchaus der Grundlagenforschung dienen. Die Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen bauten vor rund 30 Jahren gern mal eine Puppenstube auf. Zu reinen Forschungszwecken selbstverständlich. "Sie haben damit ein Fundament in der Psycholinguistik gelegt, das heute immer noch steht." Der niederländische Sprachforscher Willem Levelt, der 1980 gemeinsam mit dem Germanisten Wolfgang Klein als Gründungsdirektor des neuen Instituts für Psycholinguistik antrat, brachte mit seinen Experimenten in der Puppenstube dieses damals noch sehr junge Fachgebiet der Sprachforschung auf neue Wege.


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Welche mentalen Prozesse laufen ab, wenn wir sprachliche Äußerungen formulieren oder verstehen? Wie erwerben Kinder ihre erste und Erwachsene eine zweite oder dritte Sprache? Wie beeinflussen sich Denken und Sprache, und welche Rolle spielt dabei das kulturelle Umfeld? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich die moderne Psycholinguistik. Im Kern geht es um die Grundlagen des menschlichen Sprachvermögens - eben darum, wie Sprache im Gehirn verankert ist und verarbeitet wird. Wesentliche Erkenntnisse dazu liefert das Max-Planck-Institut für Psycholinguistik seit nunmehr 27 Jahren.

Als das Institut 1980 in Nijmegen seine Arbeit aufnahm, steckte dieser Zweig der Sprachforschung noch in den Kinderschuhen. Wenn Willem Levelt und seine Mitarbeiter in den Gründerjahren die Puppenstube auspackten, leisteten sie damit echte Pionierarbeit. Denn abgesehen von einer amerikanischen Untersuchung waren sie die Ersten, die sich für ein Phänomen interessierten, das als "Linearisierungsproblem der Sprache" in die Fachliteratur eingehen sollte. Die Max-Planck-Forscher wollten herausfinden, wie ein Sprecher die Dreidimensionalität eines Raums inklusive der sich darin befindlichen Gegenstände sprachlich auf die Reihe bekommt. Denn so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint, ist das nicht. Und das liegt an der linearen Struktur der Sprache: "Wir können nicht zwei Wörter oder Sätze gleichzeitig äußern", erklärt Levelt dieses Phänomen. Schon bei Ereignissen mit zeitlicher Abfolge stellt diese Eigenschaft der Sprache den Erzähler vor eine komplexe Aufgabe. Will er etwas mitteilen, muss er zunächst eine Reihenfolge finden, um den Sachverhalt sinnvoll in Worte zu bringen. Schließlich geht es darum, dem Empfänger eine Botschaft zu vermitteln, mit der er etwas anfangen kann. Zu viele Details verwirren, eine ungeschickte Reihenfolge in der Darstellung ebenfalls. In einfachen Fällen diktiert die Geschichte den sprachlichen Duktus - etwa in dem Satz: "Ich öffnete die Tür und ging aus dem Haus." Schwieriger wird es bei Sachverhalten, die keine lineare Struktur haben - wie es bei der Beschreibung von Orten, Wegen oder Räumen der Fall ist.

Wie lösen Menschen dieses Problem? Bei der Suche nach der Antwort auf diese Frage kamen die Linguisten um Willem Levelt auf die Idee, eine Puppenstube fürs Labor zu besorgen. Das Spielzeughaus brachte die drei Dimensionen ins Spiel, deren sprachliche Umsetzung sie interessierte. Zudem ließ sich der Versuchsaufbau in der Spielwohnung genau kontrollieren. Tatsächlich erwies sich diese unkonventionelle Versuchsanordnung als sehr sinnvoll. Denn es stellte sich heraus, dass die Versuchspersonen bei der Beschreibung des Puppenhauses ähnliche sprachliche Verhaltensmuster zeigten. "Die meisten machten daraus eine Besichtigung", erinnert sich Levelt. "Wie in der Wirklichkeit begannen sie bei der Haustür und beschrieben dann die Abfolge der Räume, die sich einem Besucher in einem realen Haus darbieten würde. Sie machten einen Rundgang in sehr kleinen Schritten."

Angesichts dieser Anfangserfolge verfeinerten die Sprachforscher die Methoden und entwickelten als neue Sprachtest-Aufgabe ein zweidimensionales Netzgitter, in dem sie ihre Versuchspersonen auf imaginäre Wanderungen schickten. "Auch das funktionierte prima", meint der inzwischen emeritierte Gründungsdirektor Levelt, "bei Vorträgen verwende ich das heute noch." Damals ließ er die Tests im Sprachlabor durch Wegbeschreibungen ergänzen, die im echten Leben vor die Türen des Instituts führten. "Es war uns früher schon genauso wichtig wie heute, Laborarbeiten immer mit Feldarbeiten zu kombinieren", betont Levelt, "deshalb haben wir die Leute auch in die Stadt, ins Dorf oder in den Tiergarten geschickt." Durch diese virtuellen und realen Spaziergänge im Dienst der Forschung gewannen die Max-Planck-Wissenschaftler neue Einsichten in die Natur der Sprache und entwickelten eine Theorie der Linearisierung, die auf einfachen Prinzipien aufbaute und auch heute noch als gültig betrachtet werden darf. So fanden sie mit diesen Versuchsanordnungen der Pionierjahre heraus, dass ein Erzähler zur Lösung des Sprachproblems verschiedene Strategien kombiniert. "Da haben wir erstens die maximale Konnektivität", sagt Levelt. "Gemeint ist damit einfach nur, dass alles, was räumlich miteinander verbunden ist, auch in der Beschreibung aufeinander folgt." Etwa bei der Aussage: "In der Ecke steht der Schrank."

Als zweites Prinzip bei der Problemlösung beobachteten Levelt und seine Kollegen den Versuch der Probanden, Verzweigungen so minimal wie möglich zu halten. Die Beschreibung erfolgt so, dass für die Fortsetzung so wenig Verzweigungsknoten wie möglich im Gedächtnis zu behalten sind. Es geht darum, das Gedächtnis nicht mit zu vielen Informationen vollzustopfen. Dazu gehört auch, dass man vermeidet, zweimal denselben Weg zu nehmen. "Falls erforderlich, geht es nur zum letzten Abzweigungspunkt", sagt Willem Levelt. Von dieser Vorgehensweise verspreche sich der Erzähler eine gewisse Gründlichkeit. "Damit kann man sich vergewissern, dass man möglichst nichts vergessen hat." Allerdings - auch das haben die Experimente der ersten Jahre gezeigt - ist das eine Illusion: "Meistens vergisst man doch Dinge bei der Beschreibung", so Levelt.

Mit diesen Erkenntnissen war das Geheimnis der Sprache jedoch noch nicht gelüftet. Um herauszufinden, wie das Gehirn funktioniert, wenn wir etwas sagen wollen, dachten sich Levelt und sein Team weitere Versuchsreihen aus. Einige davon entpuppten sich später als wichtige Schritte in der Entwicklung der experimentellen Methoden der Psycholinguistik. "Wir haben sehr viele Reaktionszeitexperimente gemacht", beschreibt der Forscher die weiteren Arbeiten, die zu einer neuen Theorie der Sprachproduktion führten: dem hierarchisch seriellen Modell, das zu den Klassikern der Psycholinguistik gehört. Denn neben der konzeptuellen Sprachstufe, zu deren Erforschung ihm Puppenstube und Netzgitter gute Dienste geleistet hatten, entdeckte Levelt bei den Messungen der Reaktionszeit zwei weitere Stufen, die bei der Sprachproduktion mitwirken. Die Testperson musste so schnell wie möglich das Objekt benennen, das auf einem Bildschirm vor ihren Augen erschien. "Wir haben dann die Zeit zwischen dem Erscheinen des Bildes und dem Beginn des Sprechens gemessen", schildert Levelt diesen Versuch. "Das dauert meist eine dreiviertel Sekunde." Wie er dabei erkannte, führt der Weg zwischen Bildwahrnehmung und gesprochenem Wort über zwei Stufen: Zuerst wird eine Art lautloses Lexikon in Gedanken aufgerufen, das sogenannte Lemma, das alle syntaktischen Eigenschaften des Wortes enthält und aktiviert - etwa, ob es sich um ein Substantiv oder Verb handelt oder welches Geschlecht bei Substantiven vorliegt. Wenn uns "etwas auf der Zunge liegt", befinden wir uns noch in dieser Stufe. Bei der sogenannten Lemma-Selektion wird der passende Eintrag gewählt, also etwa "Hund", "Katze" oder "Maus" für entsprechende Objekte.

Als nächstes folgt die phonologische Kodierung, die Vorstufe zur Vertonung der Wortsilben. "Für jede Silbe, die man geschaffen hat, muss man eine sprachliche Geste bilden", sagt Willem Levelt. In die Erforschung dieses Sprachphänomens haben er und seine Kollegen viel Zeit investiert - und ein weiteres Geheimnis der Sprache gelüftet: den auffallend kleinen Schatz an Silben. "In 80 Prozent aller Fälle verwenden wir nicht mehr als 500 Silben, die wir immer wieder gebrauchen. Das war vorher nicht bekannt." Aufgrund seiner Forschungsergebnisse ist Levelt überzeugt, dass diese häufig benutzten Silben als motorische artikulatorische Programme im Gedächtnis gespeichert sind: "Wir können sie aus dem Gedächtnis hervorrufen und die Sprachorgane ansteuern. Das war eine wichtige Entdeckung."

Die Puppenstube hat schon lange ausgedient, inzwischen arbeiten die Psycholinguisten in Nijmegen mit modernster Technik: Schon vor zehn Jahren haben sie damit begonnen, das menschliche Gehirn beim Sprechen zu scannen. Zuerst mit Hirnstromaufzeichnungen mittels eines Elektroenzephalografen, dann mit der Magnetresonanztomografie (MRI und fMRI) und jetzt auch am neuen FC Donders Centrum mit der Magnetenzephalografie (MEG). "Mit diesem Apparat können wir die magnetischen Schwingungen von Gedanken in Millisekunden messen", so Levelt. Dies sei eine fantastische Möglichkeit für die Sprachforschung.

Fast 30 Jahre lang gingen Willem Levelt und seine Mitarbeiter am einzigen Max-Planck-Institut in den Niederlanden den Geheimnissen der Sprache auf den Grund. Vieles habe man dabei entdecken dürfen, sagt der Wissenschaftler. "Wir haben das ganze System in einer Blueprint des Sprechens erforscht. Das kann man nur bei der MPG." Die Forschung in Nijmegen geht weiter - auch ohne Levelt, der im wohlverdienten Ruhestand ist. Schließlich gibt es für die Sprachforscher noch viel zu entdecken.


Westfälische Rundschau Hagen vom 9.11.1980
(Zeitungsausschnitt)

Euro-Wissenschaftler suchen nach Grundlagen Fremde Sprachen sollen leichter lernbar werden (Kleve). Die etwas abseits gelegene Grenzstadt Kleve am Niederrhein hätte sich gern damit geschmückt: der Feder der Sprachwissenschaft. Doch das neugegründete Max-Planck-Institut für Psycholinguistik, aus einer Arbeitsgruppe entstanden, wurde knapp jenseits der Grenzpfähle angesiedelt, im vielbesuchten Waldareal Berg en Dal von Nimwegen. (...) Untersucht werden soll die sprachliche Anpassung von Gastarbeitern aus aller Herren Länder. Das Projekt fügt sich harmonisch in die Institutsaufgabe ein: Erforschung von Grundlagen, die es einmal erleichtern sollen, Fremdsprachen zu erlernen, Sprachstörungen zu überwinden und letztlich mit "sprechenden" Robotern umzugehen.


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Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
> Gar nicht so einfach, die richtigen Worte für eine nachvollziehbare Raumbeschreibung zu finden. Dies zeigten die Experimente der Psycholinguisten mit der Puppenstube.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin
der Max-Planck-Gesellschaft 1/2007, S. 58-59
Hrsg.: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2007