Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → PSYCHOLOGIE

BERICHT/081: Lob des Lesens (GEHIRN&GEIST)


GEHIRN&GEIST 10/2010
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Lob des Lesens

Von Christian Wolf


Genüsslich zu schmökern ist weit mehr als ein angenehmer Zeitvertreib: Laut neuen Erkenntnissen schult es nicht nur die Konzentration und das Einfühlungsvermögen, sondern kann auch dem geistigen Abbau im Alter vorbeugen.


AUF EINEN BLICK

Schmökern macht schlau

1. Schon das Entziffern einzelner Wörter aktiviert zahlreiche Hirnareale, vor allem in der linken Hemisphäre. Beim Lesen von Szenen und Geschichten simuliert das Gehirn das fiktive Geschehen, etwa die Handlungen der Romanfiguren.

2. Ein Lesetraining verbessert bei Kindern nicht nur die Leseleistung selbst, sondern auch den Signalaustausch zwischen verschiedenen Hirnregionen.

3. Senioren, die viel lesen, bleiben länger geistig fit und zeigen seltener Symptome einer Demenz.


*


Der viel beschworene Untergang der Lesekultur in unserem Land ist bislang ausgeblieben. Laut einer großen Umfrage der Stiftung Lesen von 2008 widmen sich rund 30 Prozent aller Jugendlichen und Erwachsenen mehrmals pro Woche oder sogar täglich der Buchlektüre. Diesen Viellesern steht allerdings eine fast ebenso große Gruppe an Lesemuffeln gegenüber. Jeder Vierte liest nach eigenen Angaben »nie« ein Buch - vor allem, weil es »zu anstrengend« ist oder zu »viel Zeit kostet«.

Das ist bedauerlich - denn Studien belegen inzwischen: Insbesondere das Schmökern in Büchern prägt die geistige Entwicklung noch stärker als vermutet. So schult intensives, häufiges Lesen nicht nur Wahrnehmung, Konzentration und Einfühlungsvermögen. Es bewirkt auch anatomische Veränderungen im Gehirn, die die Kommunikation zwischen verschiedenen Hirnarealen verbessern. Ein derart trainiertes Gehirn kann neuronale Abbauprozesse im Alter vermutlich besser kompensieren.

Tatsächlich herrscht beim Lesen in unseren Hirnwindungen Hochbetrieb, vor allem in der linken Hemisphäre. Die Form der einzelnen Buchstaben muss erkannt, ihre Aneinanderreihung zu Silben erfasst und in Laute übersetzt, die Bedeutung eines Wortes begriffen werden. Messungen mit bildgebenden Verfahren zeigen: Bekommen Probanden einzelne Wörter präsentiert, ruft das bereits etliche Hirnregionen auf den Plan (siehe Kasten S. 16).


Der Weg der Worte

In seinem neuen Buch »Lesen» geht der französische Neurowissenschaftler Stanilas Dehaene vom Collège de France in Paris systematisch der Frage nach, welche Hirnregionen angeregt werden, wenn wir uns einer Lektüre widmen. Eine Vielzahl von Bildgebungsstudien zeigt: Während des Lesens läuft das Gehirn auf Hochtouren - vor allem die linke Hemisphäre.

Sehen wir etwas Geschriebenes, müssen die Worte zunächst einmal optisch erfasst werden. Diese Aufgabe übernimmt der visuelle Kortex im Hinterhauptslappen. Er verarbeitet alle Sehreize - egal ob sprachlicher Art oder nicht. Die nächste Herausforderung besteht darin, die Form von Buchstabenketten zu identifizieren. Dabei kommt ein Gebiet an der Grenze zwischen Hinterhaupts- und Schläfenlappen zum Einsatz - das visuelle Wortformareal. Es ist ganz auf geschriebene Wörter spezialisiert, bei gesprochenen bleibt es stumm. Das Areal übermittelt Signale über Nervenfasern an verschiedene andere kortikale Gebiete.

Die Informationen schlagen dabei im Gehirn zunächst zwei unterschiedliche Wege ein, erklärt Dehaene: Jener Pfad, der genutzt wird, um Silben in Laute zu übersetzen, umfasst ein Netzwerk im oberen linken Schläfenlappen. Dieses ist auch für seine Rolle bei der klanglichen Analyse von gesprochener Sprache bekannt. Im Hirnscanner zeigt sich vermehrte Aktivität, wenn man Probanden beispielsweise fragt, ob sich zwei Wörter reimen oder nicht. Bei einer solchen Aufgabe schalten sich jene Gebiete ein, die an der Umwandlung von schriftlichen in lautliche Einheiten beteiligt sind.

Eine andere Route besteht aus einem Netzwerk im linken mittleren Schläfenlappen, das die Bedeutung von Wörtern analysiert. Hier stellen Wissenschaftler eine erhöhte Aktivität fest, wenn Probanden darüber nachdenken, ob zwei Wörter synonym sind. Dabei muss man auf den Sinngehalt der Wörter achten und auf eine Art mentales Lexikon zurückgreifen.

Das Broca-Areal ist nach neueren Erkenntnissen nicht nur für das Sprechen notwendig, sondern beteiligt sich auch an der Analyse komplexer Sätze. Das untere Stirnhirn regt sich zudem, wenn man eine Bedeutung aus mehreren auswählen muss: Eine nicht sofort eindeutige Aussage wie »Einige Stücke von Marylin Monroe werden auf einer Auktion versteigert« ruft hier eine deutliche Reaktion hervor.

Beim Lesen von Geschichten scheint das Gehirn das Geschehen zu simulieren: So feuert beispielsweise der prämotorische Kortex, wenn die Romanfigur mit einem neuen Gegenstand hantiert.

Dehaene, S.: Lesen. Knaus, München 2010

(Abbildung der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht)


Was wird erst im Oberstübchen los sein, wenn sich Versuchspersonen ganze Sätze oder gar Geschichten einverleiben? Längere Texte zu verstehen erfordert schließlich ein gerütteltes Maß an Vorstellungskraft. Vieles wird nur angedeutet und muss durch die Erfahrung und Vorstellung des Lesers ergänzt werden.

Forscher um die Psychologin Nicole Speer von der Western Interstate Commission for Higher Education in Boulder (US-Bundesstaat Colorado) wollten es genauer wissen und präsentierten 2009 ihren Probanden vier kurze Geschichten. Diese beschreiben den Alltag des siebenjährigen Raymond. Nicht alltäglich waren dagegen die Leseumstände im Labor: Um die Hirnaktivitäten per funktioneller Magnetresonanztomografie zu messen, lagen die Testpersonen während des Schmökerns in der Scannerröhre. Da Augenbewegungen die Aufnahme stören, bekamen die Probanden immer nur ein Wort nach dem anderen zu sehen. Bei der Messung kam es den Forschern dann vor allem auf jene Momente an, in denen sich eine neue Situation in der Erzählung ergab - wenn Raymond etwa eine andere Tätigkeit begann oder der Handlungsort wechselte.

Gemäß der aufgezeichneten Hirnaktivität schien es fast so, als bewegten sich die Probanden in der realen Welt und nicht nur gedanklich in einer imaginären. Sobald Raymond etwa ein anderes Zimmer betrat, regte sich bei den Lesern verstärkt eine Kortexregion nahe dem Hippocampus, der parahippocampale Gyrus; er ist unter anderem auf das Erkennen und Erinnern von räumlichen Begebenheiten spezialisiert. Ähnlich verhielt sich der prämotorische Kortex, der daran beteiligt ist, Bewegungen zu planen und auszuführen. Im Versuch zeigte er immer dann eine vermehrte Aktivität, wenn Raymond mit einem neuen Gegenstand hantierte.

Das Ganze erinnert an das Phänomen der Spiegelneurone: Bestimmte Nervenzellen im prämotorischen Kortex feuern nicht nur beim tatsächlichen Ausführen einer Handlung, sondern auch, wenn man eine Tätigkeit nur beobachtet (siehe G&G 10/2006, S. 26). Auch beim Lesen greife das Gehirn offensichtlich auf mentale Simulationen von echten Wahrnehmungen und Bewegungsabläufen zurück, vermuten die Forscher. Laut Nicole Speer ist Lesen also keineswegs eine passive Angelegenheit. Vielmehr simuliert der Lesende mental jede neue Situation der Erzählung. Dabei kommen ähnliche Hirnregionen ins Spiel wie bei vergleichbaren realen Handlungen.


Analphabeten »hören« schlechter

Lektüre löst aber nicht nur kurzfristig etwas in den grauen Zellen aus. »Die Fähigkeit zu lesen verändert das Gehirn«, betont Stanilas Dehaene, Hirnforscher am Collège de France in Paris (siehe auch das Interview ab S. 22). In seinem Buch »Lesen« verweist er unter anderem auf beeindruckende Untersuchungen von Alexandre Castro-Caldas von der Medizinischen Fakultät der Katholischen Portugiesischen Universität in Lissabon. Sein Team verglich bereits 1998 die Gehirne von Lesekundigen und Analphabeten. Die Probanden sollten sich biologisch und hinsichtlich des sozialen Hintergrunds möglichst stark ähneln und nur in ihren Lesefertigkeiten unterscheiden. Hierbei profitierten die Forscher von einer früheren Tradition in Portugal: In den 1930er Jahren konnten es sich viele Eltern nicht leisten, alle ihre Kinder zur Schule zu schicken. Insbesondere die älteste Tochter blieb oft zu Hause, übernahm Haushaltspflichten und betreute die jüngeren Geschwister. Die mittlerweile zwischen 56 und 70 Jahre alten Frauen stellten die Versuchsgruppe der Leseunkundigen. Die andere Gruppe setzte sich dagegen aus Frauen ähnlichen Alters und gleicher sozialer Herkunft zusammen - sie hatten aber eine vierjährige Schulbildung genossen.

Während die Probandinnen im Scanner lagen, hörten sie Vokabeln ihrer Muttersprache oder aber Pseudowörter. Obwohl beide Gruppen über einen vergleichbaren Wortschatz verfügten, hatten die Leseunkundigen Probleme, die Pseudowörter exakt nachzusprechen. Stattdessen verwechselten sie diese mit echten Vokabeln - etwa so, als würden wir das Pseudowort »Mand« als »Wand« verstehen und entsprechend falsch wiedergeben.

Dieser Befund passt laut Dehaene zu der Erkenntnis, dass Lesen die »phonemische Bewusstheit« erhöht - so nennen Forscher die Fähigkeit, die lautlichen Bestandteile von gesprochenen Wörtern zu registrieren. Bei Analphabeten ist der Sinn für kleinste lautliche Unterschiede offensichtlich weniger ausgeprägt. Ein Scan mittels Positronenemissionstomografie (PET) bestätigte: Es bedeutete für die Gehirne der Analphabetinnen fast keinen Unterschied, ob sie echte oder Pseudowörter vernahmen; sie interpretierten auch sinnlose Vokabeln als korrekt.

Bei den lesekundigen Seniorinnen hingegen machte sich die schulische Bildung in einer veränderten Reaktion auf Pseudovokabeln bemerkbar. Unter anderem antwortete eine Region in der Nähe des Broca-Areals in der linken Hirnhälfte, die anteriore Insula. Ebendort lässt sich auch rege Aktivität bei Kindern während des Lesenlernens beobachten. Überhaupt war in der linken Hemisphäre der Lesekundigen viel mehr los - obwohl diese ja gar nicht lasen, sondern die Wörter nur hörten.

In einer weiteren Studie von 1999 stellte Castro-Caldas auch anatomische Unterschiede zwischen portugiesischen Seniorinnen mit und ohne Grundschulbildung fest: Der hintere Teil des Corpus callosum - das große Bündel von Nervenfasern, das die beiden Hemisphären verbindet - war bei den lesekundigen Probandinnen dicker. Laut Dehaene spricht dies für einen stärkeren Informationsaustausch zwischen den beiden Hirnhälften. Lesen verändert also nicht nur die Nervenaktivität des Gehirns, sondern hinterlässt auch Spuren in seiner Anatomie.

Wie bei vielen geistig anspruchsvollen Tätigkeiten spielt auch beim Lesen die Kommunikation zwischen einzelnen Hirnregionen eine wichtige Rolle. Daher interessieren sich Forscher zunehmend für die weiße Substanz des Gehirns. Dieser Teil des Zentralnervensystems setzt sich aus Nervenfasern zusammen, die zur schnelleren Signalleitung von einer hell erscheinenden Isolierschicht umgeben sind. Die Datenautobahnen verbinden verschiedene Hirnareale miteinander und präsentieren sich insbesondere in jungen Jahren als sehr flexibel. So führt etwa intensives Klavierüben in der Kindheit zu einer besseren Verknüpfung zwischen den Bewegungsarealen.


Lese-Crashkurs fördert die Hirnbildung

Die Neurowissenschaftler Timothy Keller and Marcel Just von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh wollten 2009 herausfinden, ob ein intensives Lesetraining einen ähnlich durchschlagenden Effekt hat wie Klavierstunden. Sie wählten 47 Kinder im Alter von acht bis zwölf Jahren aus, die sich als schlechte Leser entpuppt hatten. Ein Teil von ihnen absolvierte einen sechsmonatigen Lese-Crashkurs, die anderen erhielten normalen Unterricht. Als Kontrollgruppe dienten gute Leser im gleichen Alter.

Mit Hilfe eines recht neuen bildgebenden Verfahrens - des Diffusions-Tensor-Imaging (DTI) - untersuchten Keller und Just die Mikrostruktur der weißen Hirnsubstanz ihrer jungen Probanden. Diese besondere Form der Magnetresonanztomografie beruht auf einem raffinierten Mechanismus: Sie verfolgt, wie sich die Wassermoleküle in der Materie bewegen. Indem die Forscher die Geschwindigkeit und Richtungsabhängigkeit der Wasserdiffusion bestimmen, können sie auf die anatomische Beschaffenheit der weißen Substanz rückschließen.

Wie sich herausstellte, steigerten die ehemals schwächeren Leser durch die Fördermaßnahme ihre Leseleistungen deutlich. Der Fortschritt machte sich aber auch in einer bestimmten Region im linken vorderen Kortex bemerkbar. Zuvor wies dort die weiße Substanz nämlich vergleichsweise schlechtere Leitungseigenschaften auf. Im Verlauf des Intensivkurses verbesserten sich die Werte jedoch deutlich!

Wie wichtig gute Lesefertigkeiten für akademische Leistungen sind, demonstrierte etwa 2009 Dawn Betts vom Clermont County Educational Service Center in Ohio. Für ihre Studie berücksichtigte sie das Abschneiden von Studenten bei einem Highschool-Abschlusstest - etwa die Hälfte der Freiwilligen war durchgerasselt. Der Test bestand vor allem aus Multiple-Choice-Fragen zu verschiedenen Fächern. Wie Betts' Untersuchungen ergaben, verfügten die erfolgreichen Studenten über bessere Ausdrucks-, Lese- und Sprachfähigkeiten. Das Bestehen des Tests konnte sogar allein über das Leseverständnis mit großer Zuverlässigkeit vorausgesagt werden. Offensichtlich, so Betts' Schlussfolgerung, scheiterten die erfolglosen Absolventen vor allem daran, dass sie die Aufgabentexte nur ungenügend analysieren und interpretieren konnten.

In Deutschland ebenso wie in den USA hat das Simsen, Chatten, Surfen und Emailen das Bücherlesen von der Liste der Lieblingsbeschäftigungen verdrängt. Insgesamt wird dabei heute wohl so viel gelesen und geschrieben wie nie zuvor. Gewandelt hat sich aber das Wie - so ein weiteres wichtiges Ergebnis der eingangs erwähnten Studie der Stiftung Lesen: Denn zunehmend werden Texte nicht mehr eingehend studiert, sondern nur noch überflogen und häppchenweise konsumiert (siehe Grafik links).


LEKTÜRE HÄPPCHENWEISE
 
 Für eine intensive und ausdauernde Beschäftigung mit Büchern 
 nehmen sich Menschen immer weniger Zeit. Die oberflächliche 
 Lektüre bezeichnen Experten auch als »Lese-Zapping«.
Jahr
1992
2000
2008
Ich lese Bücher in kleinen
Portionen über längere Zeit.
29 %

35 %

37 %

Ich überfliege manchmal die Seiten
und lese nur das Interessante.
14 %

19 %

21 %

Gehirn&Geist, nach Stiftung Lesen 2008
(Repräsentative Umfrage unter Erwachsenen und Jugendlichen ab 14 Jahren)


Welche Folgen ein solcher Trend hat, untersuchten 2007 Forscher um die Psychologin Laura Levine von der Central Connecticut State University in New Britain. Per Fragebogen ermittelten die Forscher den elektronischen Medienkonsum und das Leseverhalten von rund 160 Collegestudenten. Detailliert sollten diese beispielsweise ihr Verhalten beim Chatten beschreiben. So notierten sie unter anderem, mit wie vielen Menschen sie normalerweise gleichzeitig kommunizieren und wie schnell sie antworten, wenn sie am Computer arbeiten und eine Nachricht erhalten. Zudem mussten sie einschätzen, wie leicht sie sich beim Pauken für das Studium ablenken lassen.


Die zerstreute Generation

Tatsächlich stieg die subjektiv empfundene Zerstreutheit, je mehr Zeit jemand mit Instant Messaging verbrachte. Vielleicht fördert das Chatten einen bestimmten Denkstil, spekuliert das Team um Levine. Dieser beruhe eher auf schnellem und oberflächlichem Multitasking als darauf, sich konzentriert einer einzigen Aufgabe zuzuwenden. Auf neuronaler Ebene könne sich dies im präfrontalen Kortex auswirken: Diese Hirnregion wird mit der Kontrolle von Aufmerksamkeit in Verbindung gebracht und reift noch bis in die späte Jugendzeit. Die Entwicklung des präfrontalen Kortex werde möglicherweise durch Freizeitaktivitäten wie häufiges Chatten beeinflusst und könne so zu einer veränderten Konzentrationsfähigkeit führen, befürchten die Wissenschaftler.

Wer sich dagegen gerne und oft in Bücher vertieft, hält seinen Geist bis ins hohe Alter hinein in Schwung. 2003 registrierte ein Team um den Neurologen Joe Verghese von der Yeshiva University in New York die Freizeitaktivitäten von rund 470 75-Jährigen. Die Forscher begleiteten die Probanden im Rahmen ihrer Studie bis zu 20 Jahre lang. In dieser Zeit erfragten die Wissenschaftler nicht nur immer wieder, womit die Senioren ihre Zeit verbrachten, sondern prüften auch deren mentale Fähigkeiten.

Laut den Studienergebnissen lohnt es sich, seine Freizeit geistig aktiv zu gestalten: Jene Versuchsteilnehmer, die viel lasen oder ein Musikinstrument spielten, litten später mit geringerer Wahrscheinlichkeit an einer Demenz und bauten mental langsamer ab. Das galt vor allem für das episodische Gedächtnis - also für das Erinnerungsvermögen an Ereignisse aus dem eigenen Leben. Aber womöglich beeinflussten bei den später Erkrankten schon zu Studienbeginn erste mentale Abbauprozesse die Freizeitgestaltung? Um sicherzugehen, schlossen die Wissenschaftler bei einer zweiten Auswertung jene Probanden aus, die in den ersten sieben Jahren der Studie eine Demenz entwickelt oder von Anfang an in den kognitiven Tests schlechter abgeschnitten hatten: Der Effekt blieb erhalten.

Vermutlich, so erklären die Forscher, erhöhe die geistige Betätigung die »kognitive Reserve«. Damit ist ein erhöhtes mentales Potenzial gemeint, das möglicherweise auf variablen Denkstrategien oder auf einer erhöhten Neuronenzahl beruht. Es vermag offenbar die Auswirkungen pathologischer Nervenerkrankungen zu kompensieren, so dass Defizite nicht oder erst später zu Tage treten.


VERSCHENKTE CHANCE

Nur die Hälfte der heute 14- bis 19-jährigen Männer bekam
nach eigener Aukunft als Kind »oft« ein Buch geschenkt.
Bei den Frauen liegt der Anteil immerhin bei 61 Prozent.

weiblich 61%
männlich 50 %

Gehirn&Geist, nach Stiftung Lesen 2008


Doch selbst wenn Leseratten jeden Alters intellektuell profitieren - sind sie auch glücklicher? Wer sich in Büchern vergräbt, hat schließlich weniger Zeit für zwischenmenschlichen Austausch und entwickelt sich womöglich zum introvertierten Einzelgänger. 2006 stellte ein Team um den Psychologen Raymond Mar von der University of Toronto in Kanada dieses Klischee auf den Prüfstein. Die Belesenheit ihrer 90 Probanden testeten die Forscher dieses Mal indirekt - denn auf die Frage, wie viel man liest, wird erfahrungsgemäß gern geflunkert. Die Teilnehmer sollten daher entscheiden, welche Namen auf einer Liste bekannten Autoren gehören. Die Wissenschaftler sortierten so die Probanden in Belletristik- und Sachbuchkenner.

Ihre sozialen und empathischen Fähigkeiten stellten die Testpersonen anschließend unter Beweis, indem sie den »Blick« eines Mitmenschen deuteten. Dazu schätzten sie anhand von Bildern der Augenpartie verschiedener Personen ein, in welcher Stimmung die Abgebildeten sich gerade befanden. In einer weiteren Aufgabe galt es, zwischenmenschliche Situationen in einem Videofilm zu interpretieren. Gleichzeitig berücksichtigten die Forscher Faktoren wie Alter und Intelligenz der Probanden - schließlich sollten ältere Menschen im Normalfall nicht nur mehr gelesen haben, sondern auch über mehr Erfahrung im Umgang mit Mitmenschen verfügen.

Ergebnis der Studie: Eifriger Konsum von Belletristik ging tatsächlich mit besseren sozialen Fähigkeiten einher. Wer gerne in Romanen schmökerte, konnte sich nicht nur nach eigener Auskunft besser in Geschichten und Figuren hineinfinden, sondern schnitt auch beim Empathietest besser ab.

Die Leser von Sachliteratur waren dagegen nicht einfühlsamer als andere. Das Klischee vom Bücherwurm, der weltabgewandt in seiner Stube hockt, treffe wohl eher auf den »sachlichen« als auf den »belletristischen« Lesetyp zu, so die Forscher. Einen möglichen Mangel an direktem Kontakt könnte letzterer offenbar ausgleichen, indem er beim Lesen soziale Situationen simuliere. Lesen ist also bei Weitem keine zweckfreie Freizeitbeschäftigung, die endet, sobald man das Buch zuschlägt. Das hatte der englische Schriftsteller Joseph Addison schon vor mehr als 300 Jahren erkannt - er schrieb: »Lesen ist für den Geist das, was Gymnastik für den Körper ist.«


Christian Wolf ist promovierter Philosoph und freier Wissenschaftsjournalist in Berlin.

www.gehirn-und-geist.de/audio


QUELLEN

Castro-Caldas, A. et al.: Influence of Learning to Read and Write on the Morphology of the Corpus Callosum. In: European Journal of Neurology 6(1), S. 23-28, 1999.

Castro-Caldas, A. et al.: The Illiterate Brain. Learning to Read and Write during Childhood Influences the Functional Organization of the Adult Brain. In: Brain 121, S. 1053-1063, 1998.

Keller, T.A., Just, M.A.: Altering Cortical Connectivity: Remediation-Induced Changes in the White Matter of Poor Readers. In: Neuron 64, S. 624-631, 2009.

Levine, L.E. et al.: Electronic Media Use, Reading, and Academic Distractibility in College Youth. In: CyberPsycho logy and Behavior 10(4), S. 560-566, 2007.

Mar, R.A. et al.: Bookworms Versus Nerds: Exposure to Fiction Versus Non-Fiction, Divergent Associations with Social Ability, and the Simulation of Fictional Social Worlds. In: Journal of Research in Personality 40, S. 694-712, 2006.

Mar, R.A. et al.: Exploring the Link between Reading Fiction and Empathy: Ruling out Individual Differences and Examining Outcomes. In: Communications 34, S. 407-428, 2009.

Speer, N.K. et al.: Reading Stories Activates Neural Representations of Visual and Motor Experiences. In: Psychological Science 20(8), S. 989-999, 2009.

Verghese, J. et al.: Leisure Activities and the Risk of Dementia in the Elderly. In: The New England Journal of Medicine 348(25), S. 2508-2516, 2003.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S.15:
SCHWINDENDE LEIDENSCHAFT?
Nur in sechs Prozent aller Haushalte in Deutschland stehen mehr als 250 Bücher. In 80 Prozent finden sich heute weniger als 100 Exemplare. (Stiftung Lesen, 2008)

Abb. S.17:
BÜCHER VERSUS COMPUTER
Nur 17 Prozent aller Jugendlichen und Erwachsenen lesen häufig Romane oder Erzählungen. Dagegen chattet oder surft mehr als jeder Dritte regelmäßig im Internet. (Stiftung Lesen, 2008)

Abb. S.19:
AKTIVER DEMENZSCHUTZ
Wer jenseits der 70 noch viel liest, hat in den folgenden 20 Jahren ein geringeres Risiko, Alzheimersymptome zu entwickeln.

Abb. S.20:
EMPATHIESCHUB PER ROMAN
Belletristikfans zeigten sich in Tests einfühlsamer als Fachbuch- oder Wenigleser - etwa wenn es darum geht, allein an den Augen eines Gegenübers dessen Stimmung abzulesen.


© 2010 Christian Wolf, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


*


Quelle:
GEHIRN&GEIST 10/2010, Seite 14 - 20
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
Redaktion und Verlag:
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg
Telefon: 06221/91 26-776, Fax 06221/91 62-779
E-Mail: redaktion@gehirn-und-geist.de
Internet: www.gehirn-und-geist.de

GEHIRN&GEIST erscheint zehnmal pro Jahr.
Das Einzelheft kostet 7,90 Euro,
das Abonnement 68,00 Euro pro Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2010