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FORSCHUNG/105: Was macht das Auge beim Lesen? (Portal - Uni Potsdam)


Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung 4-6/2008

Der Modellbauer
Professor Ralf Engbert arbeitet an der Schnittstelle zwischen Kognitiver Psychologie, Linguistik und Theoretischer Physik

Von Thomas Pösl


Ralf Engbert simuliert auf seinem Bildschirm die Bewegungsspur des Auges beim Lesen eines beliebigen Satzes. Der Lesevorgang ist in Millisekunden zerlegt, und verschiedene Farben lassen erkennen, wie lange das Auge ein Wort fixiert. Deutlich wird, dass sich das Auge dabei nicht gleichmäßig von links nach rechts bewegt. Es springt unregelmäßig hin und her, fixiert bestimmte Wörter, andere nicht. Niemals in vollständiger Ruhe, sind die Fixationspunkte des Auges selbst innerhalb des Wortes unterschiedlich. Der zurückgelegte Pfad ist kompliziert. "Man könnte meinen, dass wir einen kognitiven Apparat haben, der mittels Augenbewegungen jedes einzelne Wort abarbeitet. Experimentell zeigt sich aber, dass nur etwa die Hälfte aller Augenbewegungen (Sakkaden) beim Lesen von einem Wort auf das rechts daneben stehende gerichtet ist", sagt Engbert.

Aufmerksamkeitsprozesse sind es, die den Kognitionspsychologen Engbert interessieren, der kürzlich einen Ruf auf eine W2-Professur nach Potsdam angenommen hat. Er sucht nach Maßen, mit denen man das charakterisiert, was das Auge beim Lesen macht und wie das jeweilige Wort verarbeitet wird. Er entwickelt ein Modell, das ähnliche Muster erzeugt, die auf psychologisch plausiblen Annahmen basieren und die in den Daten gefunden wurden. Die Arbeiten an diesem komputationalen Modell hat Engbert im Jahr 2000 während eines DFG-finanzierten Auslandsaufenthalts an der Universität Ottawa in Kanada begonnen. "Augenmotorik, Worterkennung, Gedächtnisprozesse, Aufmerksamkeit, alles kognitive Prozesse, die beim Lesen beteiligt sind. Wir versuchen ein Blicksteuerungsmodell zu entwickeln, das das Spezialwissen aus einzelnen Forschungsgebieten integriert und andererseits die komplizierten Wechselwirkungen der einzelnen Systeme untereinander darstellt. Dafür braucht man massiv experimentelle Forschung, aus deren Prinzipien abgeleitet werden können, die man dann wiederum in Modelle integriert."

Um Sprachverarbeitung zu untersuchen, seien die Augen das beste Maß, so Engbert. Wie lange das Auge auf einem Wort verweile, zeige, wie schwierig dieses Wort zu verarbeiten sei. Das meiste, was in den Unterschieden der Augenbewegungen zu finden ist, wird von der Verarbeitung einzelner Wörter erzeugt, von Länge etwa, Häufigkeit oder Vorhersehbarkeit. Offensichtlich ist Sprachverarbeitung aber mehr als nur das Lesen einer Liste von Wörtern. "Man kann selbstverständlich semantische oder syntaktische Vorhersagen machen. Was passiert jedoch, wenn eine andere Wortkategorie auftaucht als erwartet wird? Unsere Modelle können noch keine Syntax verarbeiten. Dazu brauchen wir die Linguisten. Die müssen uns zum Beispiel sagen, wie sich die Syntaxverarbeitung zwischen verschiedenen Sätzen unterscheidet, welche Variablen wichtig sind und wie man das quantifizieren kann."

Ein anderes Bindeglied ist die Physik. Engbert sieht ihre Bedeutung vor allem auf folgenden Ebenen: "Zunächst einmal kommt die Art von Mathematik, die wir brauchen, von dort. Aus der Theoretischen Physik haben wir den Ansatz adaptiert, Kognition als dynamisches System zu betrachten. In der Physik ist man außerdem mit der Modellierung neuronaler Systeme beschäftigt, was gut mit der dynamischen Sichtweise von Kognition korrespondiert. Abgesehen davon, sind Bewegungen der Augen in hohem Maße zufällig, was mit Hilfe der statistischen Physik analysiert werden kann. Als Ergebnis formulieren wir Modelle, bei denen verschiedene kognitive Prozesse, etwa eben Gedächtnisprozesse oder Worterkennung, nicht schrittweise oder nacheinander arbeiten, wie das in traditionellen Modellen angenommen wird." Denn zu jedem Zeitpunkt würden die einzelnen kognitiven Systeme untereinander in Kontakt stehen und Informationen austauschen. "Man kann beispielsweise nicht sagen, dass die Augensteuerung erst Informationen vom Wortverarbeitungsmodul bekommt, wenn das Wort erkannt ist, sondern sie hat immer Informationen darüber, wie weit die Worterkennung fortgeschritten ist." Dieser dynamische Ansatz, so Engbert, habe auch den Vorteil, dass man damit näher an der neurowissenschaftlichen Basis sei. "Lesen ist an neurowissenschaftliche Grundlagen gekoppelt. Man weiß beispielsweise unglaublich viel über die neuronalen Grundlagen der Okulomotorik (Augensteuerung), wovon man viel in entsprechenden Modellen umsetzen kann, die sich mit Blickbewegungsspuren beschäftigen." Zur Beantwortung der Frage der Neurowissenschaften respektive der Kognitiven Neurowissenschaften, inwieweit die unterschiedlichen Systeme unseres Nervensystems mit welchen Eigenschaften beteiligt sind, könne, so Engbert, die Psychologie Konzepte beisteuern, etwa, was Aufmerksamkeit ist und wie man sie misst. "Ein Modell dafür wird künftig daran gemessen werden, wie psychologisch und biologisch plausibel das Ganze ist."


Ralf Engbert bekleidet an der Uni die Professur für Allgemeine Psychologie II.


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Quelle:
Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung Nr. 4-6/2008, Seite 20-21
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juni 2008