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FORSCHUNG/148: "Amokläufe" junger Täter (Spiegel der Forschung)


Spiegel der Forschung Nr. 1/Juni 2010
Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen

"Amokläufe" junger Täter

Mehrfachtötungen aus kriminologischer Sicht

Von Britta Bannenberg


Gewalt fasziniert immer. Filme, Bücher, Krimis - Gewalt in Nachrichten oder fiktiven Darstellungen ist alltäglich und wird immer intensiver. Warum einzelne Gewaltphänomene wie Amoktaten weltweite Medienaufmerksamkeit erregen, ist schwer zu erklären. Amokläufe sind sehr seltene Ereignisse. In Deutschland wird statistisch etwa eine vollendete Tat pro Jahr durch junge Täter begangen.


Der Begriff "Amok" ist aus wissenschaftlicher Sicht eher unbrauchbar, meint er doch im ursprünglichen Sinn eine spontane, nicht geplante Tat mit tödlichen Folgen, gefolgt von Amnesie oder Suizid. Diese Merkmale treffen auf die hier interessierenden - versuchten und vollendeten - Tötungsdelikte nicht zu. Weder handelt es sich um spontane, unvermutete Taten, noch ist nach der Tat eine Amnesie festzustellen. Fälle, die das Etikett "Amok" - meistens schnell durch die Medien - angehängt bekommen, sind im schulischen Bereich lange geplante Gewalttaten mit übersteigerten Hass- und Rachephantasien, die meistens im ebenfalls geplanten Suizid enden. Die Täter weichen in ihrem Risikoprofil deutlich von Intensivgewalttätern ab und zeigen deshalb im Vorfeld keine oder nur geringfügige aggressive Verhaltensauffälligkeiten.

Auch von Erwachsenen werden Tötungen verübt, die als Amoktaten bezeichnet werden: Tötungen durch Männer im familiären Kontext ("Familienauslöschungen") mit sich anschließendem Bilanzsuizid. Die Täter entsprechen nicht dem Bild typischer Gewalttäter mit sozialen Risikofaktoren, sie sind unauffälliger und im Vorfeld der Tat nicht durch Gewalt gegen ihre Partnerin und die Kinder polizeibekannt geworden. Sie begehen ihre Taten für Außenstehende oft überraschend und öfter mit verfügbaren Schusswaffen.

Auch Tötungsdelikte durch Männer, die eher wahllos auf andere Menschen losgehen und versuchen, diese mit Schuss- oder Hieb- und Stichwaffen zu töten, nennt man zuweilen Amok. Häufig liegt ein psychotischer Hintergrund vor, d.h. diese Täter sind psychisch krank, fühlen sich verfolgt, wollen einem vermeintlichen Angriff durch Tötung zuvorkommen oder sich an der Gesellschaft rächen.

Alle diese Taten kann man besser als versuchte oder vollendete Mehrfachtötungen mit (zunächst) unklarem Motiv bezeichnen. Ein Motiv gibt es immer, manchmal ist es aber nur dem Täter einsichtig. Die "klassischen" Tatmotive für ein derart schweres Verbrechen - etwa Eifersucht, Raub und Habgier - drängen sich in diesen Fällen jedoch nicht auf, vielmehr erscheinen die Taten zunächst motivlos und schwer erklärbar.

Nur zum Vergleich: Jährlich geschehen etwa 11.000 Suizide und 100.000 Suizidversuche, 4.500 Verkehrsunfälle mit tödlichem Ausgang, 722 Menschen wurden im Jahr 2008 vorsätzlich getötet. Amokläufe sind dagegen äußerst selten. Sie haben jedoch unheimliche und weit reichende Folgen, die über die Opferzahlen der einzelnen Tat weit hinausgehen. Sie sind ein Symbol für den unvermuteten Einbruch in die "heile" Welt, geschehen an als sicher geglaubten Orten (in Schulen, Behörden, Gerichtssälen), rufen starke Viktimisierungen bei den betroffenen Menschen hervor, verbreiten Angst und Schrecken und laden zur Nachahmung ein. Gerade in Letzterem dürfte der Schlüssel für das Verständnis des Phänomens liegen: Nicht zufällig besteht eine eindeutige Parallele zu Terrorakten von Selbstmordattentätern. Terrorismus kennt eine Vielzahl von Definitionen, die hier nicht weiter interessieren. Ein Kernelement ist die Verbreitung von Furcht und Schrecken, weniger konkrete politische Zielsetzungen. Hier treffen sich die Phänomene: Amokläufe sind gefährlich, weil andere auf die Idee kommen können, ebenfalls einen solchen Akt zu verüben. Oder sie fühlen sich angeregt, dumpfe Wut und Hassgedanken gegen die Gesellschaft nun auf dieselbe Weise auszudrücken, womit die vergangenen Amok-Taten als Modell wirken. Die Medien haben deshalb einen gewaltigen, nicht zu unterschätzenden Anteil an der Verbreitung und Förderung weiterer Taten. Die Erforschung dieses seltenen Phänomens ist langwierig, zeitaufwändig und empirisch schwierig, weil viele Informationen fehlen oder mühsam zusammengetragen werden müssen.

Daher kann es aus wissenschaftlicher Sicht nur eine Annäherung an diese Art Tötungsdelikte geben. Mit qualitativer Methode wird durch umfassende Einzelfallanalysen versucht, die Tat zu verstehen. Beim Vergleich der Einzelfälle interessieren die Parallelen. Methodisch problematisch sind angesichts der wenigen Fälle Verallgemeinerungen. Die Informationen stammen aus Strafakten. Da die meisten Täter tot sind, kann mit dem Instrument der Psychologischen Autopsie gearbeitet werden. Angaben des sozialen Umfelds, Akteninformationen, Berichte von Menschen, die den Täter erlebt haben, beispielsweise Lehrer und Mitschüler, und insbesondere Aufzeichnungen des Täters selbst sind geeignet, sich ein Bild über die Person zu machen. Neben der Strafaktenanalyse wurden Gespräche mit Hinterbliebenen, Opfer- und Täterfamilien, Zeugen sowie noch lebenden (im Strafvollzug befindlichen) Tätern geführt. Aus kriminologischer Sicht sind alle Informationen zu vergleichen und mit - den noch spärlichen - internationalen Forschungsergebnissen abzugleichen. Danach lassen die Einzelfallanalysen bisheriger vollendeter Tötungsdelikte sowie vieler Drohungsfälle wichtige Parallelen erkennen, die für die Prävention im weiteren Sinne nutzbar gemacht werden können.

Das Ziel der Forschung sind Erkenntnisse über die Persönlichkeit, Hintergründe und Entwicklungen zur Tat. Eine bessere Einschätzung der Täter lässt einen verbesserten Umgang mit Drohungen erwarten, wodurch Taten verhindert werden können. Schwieriger sind Schlussfolgerungen für die (Früh-)Prävention, die ohnehin nie direkt "Amokprävention" sein kann. Allenfalls können typische Risikoentwicklungen bei Kindern früh aufgefangen werden und damit möglicherweise destruktive Persönlichkeitsentwicklungen vermieden werden. Die Opferfolgen sind gravierend und unter den Aspekten Traumatisierung und Sekundärviktimisierung (erneute Opferwerdung durch unangemessene gesellschaftliche Reaktionen) relevant.


Parallelen in den Lebensgeschichten der jungen Täter

Die Einzelfallanalysen bisheriger Taten zeigen Parallelen bei den jungen - hier ausschließlich männlichen - Tätern, ihren Persönlichkeitsstörungen, Familien und verstärkenden Risikofaktoren auf: Es geht um ein Zusammenspiel verschiedener Ursachen, bei dem sich als hervorstechende Besonderheit die Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung mit Selbst- und Fremdaggression herauskristallisiert. Die Täter, die keinen Suizid planten oder das Vorhaben aufgaben, führten die Tat häufiger mit Messern, nicht mit Schusswaffen aus.


Stille Einzelgänger mit sich entwickelnder Persönlichkeitsstörung

Die späteren Amokläufer zeigten nicht das typische Syndrom sozialer Bindungslosigkeit mit einer Anhäufung von Risikomerkmalen, wie sie bei gewaltauffälligen, aggressiven Jungen vorhanden sind. Sie waren in der Schule und unter Gleichaltrigen nicht mit Störungen des Sozialverhaltens, Gewalt oder Aggressionen auffällig. Sie galten vielmehr als still, scheu, ängstlich, und soziale Kontakte fielen ihnen schwer. In der Schule bemerkten Lehrer diesen Rückzug selten, die Leistungsdefizite und "stillen" Verhaltensauffälligkeiten wie Konzentrationsschwächen und Träumen wurden viele Jahre übersehen. Kontaktangebote Gleichaltriger wurden eher unfreundlich zurückgewiesen. Häufig wurde auch seit der Grundschulzeit eine ausgeprägte Ängstlichkeit beschrieben. In der Pubertät verstärkte sich dieser Rückzug. Gerade in dieser schwierigen Übergangszeit zum Erwachsenwerden, in der viele Jugendliche sich von Erwachsenen zurückziehen, eine eigene und eigenwillige Musikvorliebe entwickeln, provokante Verhaltensweisen und Äußerungen, exzentrische Kleidungsstile und "Moden" ausprobieren, ist es nicht leicht, die pathologische Entwicklung bei den Tätern zu erkennen. Trotzdem fielen bei genauerer Betrachtung ein stark ausgeprägter Rückzug und das übermäßige Interesse an Attentaten, Amokläufen und Massentötungen auf. Depressionen sowie Andeutungen über Suizid und/oder Amok wurden gegenüber Mitschülern und Geschwistern deutlich, auch die Eltern bemerkten, dass "mit dem Jungen etwas nicht stimmt". Daneben fanden sich Äußerungen von überschießenden Rachebedürfnissen und Hass z.B. in Tagebüchern und Aufzeichnungen, die gänzlich überzogen und nicht nachvollziehbar erschienen. Der Kontakt zu Mädchen war äußerst problematisch, die späteren Täter konnten ihre sexuellen Wünsche und Liebesbedürfnisse nicht ansatzweise ausdrücken und reagierten dann mit Wut und Hass auf sich selbst, auf die bewunderten Mädchen und auf die gutaussehenden und sportlichen Jungen in ihrer Klasse, denen sie ihren "Erfolg" bei den Mädchen sehr übel nahmen. Die Mädchen nahmen den späteren Täter nicht ernst.

Nach bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen deutet bei den Tätern psychopathologisch alles auf narzisstische Persönlichkeitsstörungen hin. Die geplante Tat ist in den der Tat unmittelbar vorausgehenden Ankündigungen dann das "Massaker" und die "Rache an allen, die mich ständig gedemütigt haben". Narzisstisch gestörte Personen haben ein erhöhtes Geltungsbedürfnis und erheben Anspruch auf bedingungslose Bestätigung ohne imstande zu sein, dafür eine entsprechende Sonderleistung liefern zu können, schreibt die Psychiaterin Saimeh (2008). Dieses Muster fand sich bei den Tätern recht deutlich. Sie verachteten die Mitschüler, Lehrer, schließlich die Gesellschaft in arroganter, gänzlich überzogener Weise. Das reichte von der ständigen Betonung eigener Intelligenz, die es ermögliche, ohne Mühen die Versetzungen zu erreichen. Allerdings wurden die Lehrer zu Feindbildern, da sie ja nicht in der Lage seien, die Intelligenz und Besonderheit des Schülers zu erkennen.


Familien- und Elternhaus

Die Elternhäuser der Täter waren für Außenstehende "normal" und unauffällig, es gab keine Gewalt, keine Vernachlässigung, keine Alkohol- und Drogenprobleme. In keiner Weise handelte es sich um "broken homes", sondern um kleinbürgerliche Elternhäuser oder Mittelschichtfamilien, in denen ein gemeinsames Familienleben mit geregelten Mahlzeiten und Sorge um das Wohlergehen der Kinder festzustellen war. Dieses Bild zeigte Risse, wenn man den viel "normaleren" Umgang mit den Geschwistern betrachtete. Hier wurde altersgerecht erzogen, gestritten, aber auch viel gemeinsam unternommen. Zum späteren Täter konnte die übrige Familie oft wenig Auskünfte geben: Er sei still gewesen, zurückgezogen, habe nicht viel geredet, sei oft auf sein Zimmer gegangen, vor allem wenn Besuch kam, habe viel mit dem Computer gespielt, sei oft zu Hause gewesen, habe keine oder wenige Freunde und wenig Freizeitinteressen gehabt, sei schulisch meistens wenig erfolgreich und etwas faul gewesen und habe keine Freundin gehabt.


Schule

Die Amoktäter waren fast alle leistungsschwache Schüler, die ungern zur Schule gingen. Das Scheitern offenbarte sich deutlich etwa nach der 7. oder 8. Klasse. Fast immer wurde eine Diskrepanz zwischen Fähigkeiten und Leistungen beschrieben, man traute ihnen seit der Grundschulzeit mehr zu, als sie leisteten. Lehrer ermöglichten die Versetzung, weil die Jungen so ruhig und nett waren und nicht gestört haben. Mitschüler beschrieben das Verhalten im Unterricht als völlig abwesend, in sich versunken, unbeeindruckt von Fragen, Ermahnungen der Lehrer und Äußerungen anderer Schüler. Dies deutet auf sehr frühe Auffälligkeiten hin, die heute im Kontext der Aufmerksamkeitsdefizitstörungen gesehen werden können. Nicht hyperaktiv, laut und störend, sondern unkonzentriert, in sich selbst zurückgezogen, träumten oder starrten sie vor sich hin, wurden nahezu unsichtbar. In einigen Fällen gab es pädagogisch problematische Durchsetzungen von Nichtversetzungen und Schulverweisen. Die Schüler wurden mit der Nachricht vom Schulausschluss schlicht nach Hause geschickt.

Die Täter fühlten sich unverstanden, gedemütigt und gemobbt, was einer realistischen Betrachtung nicht standhielt. Man gewinnt eher den Eindruck, die Täter zogen sich selbst von anderen zurück, werteten diese ab, wiesen Kontaktangebote zurück, waren unzugänglich und ohne jede Empathie für andere. Für typische Interessen Jugendlicher hatten sie meistens nichts übrig.

Unter Mobbing oder Bullying versteht man die vorsätzliche und wiederholte Schädigung unterlegener Schüler durch körperliche und/oder psychische Gewalt, bei der sich nicht nur aggressive Haupttäter hervortun, sondern der Rest der Klasse meist als Mitläufer auf der Seite des Täters steht und das Opfer nicht unterstützt. Lehrer und Mitschüler greifen in der Regel nicht ein, um die Gewalt zu unterbinden und Geschädigte zu stärken.

Die nur subjektive Empfindung, gemobbt zu werden, zeigt eine überzogene Kränkbarkeit und Ichbezogenheit, die Entwicklung der narzisstischen Persönlichkeit der Täter. Es fehlte an Konfliktfähigkeit und der Fähigkeit zu adäquater Kommunikation. Eine vereinfachte Schuld- und Ursachenzuschreibung nach dem Motto: "Das Opfer wurde zum Täter", wäre hier verfehlt. Grundsätzlich sollte natürlich auf ein positives Schulklima geachtet und jede Form von Mobbing unterbunden werden. Dadurch entsteht auch ein Klima des Vertrauens, in dem Schüler ihren Lehrern von besorgniserregendem Verhalten von Mitschülern berichten und auch stille Schüler eher beachtet werden.


Waffen

Die ausgeprägte Affinität zu Waffen und militärischen Symbolen fiel deutlich auf und schlug sich teilweise auch im Kleidungsstil nieder. Durchgängig fand sich eine enorme Faszination für Waffen aller Art. Die späteren Täter kannten sich mit Schusswaffen, Kalibern und Hieb- und Stichwaffen bestens aus. Häufig waren Schusswaffen im Elternhaus oder in der Familie vorhanden. Der Umgang mit den Waffen war den Jungen dann vertraut. Trotz Verschärfungen des Waffenrechts und der Pflicht für Waffenbesitzer, ihre Schusswaffen und getrennt davon die Munition im Privathaushalt sicher verschlossen zu verwahren, waren die Jungen in den Besitz von Schusswaffen und Munition gelangt und benutzten sie bei der Tatausführung. Auch die Treffsicherheit war verblüffend, durften doch nicht alle offiziell im Schützenverein schießen oder hatten angeblich noch nie geschossen. Häufig war auch der Umgang mit Luftgewehren oder Airsoftwaffen. Die Treffsicherheit oder die bevorzugten Zielregionen Kopf und Oberkörper dürften sich bei einigen durch intensives Spielen mit Ego-Shootern erhöht haben. Auffallend war die Ambivalenz des Wunsches nach Männlichkeit, Macht und Überlegenheit bei gleichzeitiger Angst vor körperlichen Auseinandersetzungen und Anstrengungen.

Das negative Vorbild der Tat an der Columbine High School am 20. April 1999 bezieht sich auch auf die Schusswaffen. Das Bild des "school shootings", die tödliche Macht der Schusswaffe, hat sich eingeprägt und wurde zum Bestandteil der Tatplanung. Regelmäßig wurde eine Attacke mit Schusswaffen geplant, bei der zynischerweise die Zahl der Opfer möglichst noch gesteigert werden sollte. Die Täter trugen bei der Tat meistens schwarze Kleidung oder Uniformen. Manche bevorzugten generell seit langem schwarze Kleidung. Besonders auffällig war ein Täter, der über zwei Jahre neben ausschließlich schwarzer Kleidung einen schwarzen Mantel und schwarze Handschuhe ohne Finger trug (Kopie Columbine). Bevorzugt wurden auch schwarze Zimmerwände oder düstere Poster. Die Farbe schwarz symbolisiert nicht zufällig den Tod. Die Jungen befassten sich lange Zeit mit dem Thema Tod, auch Suizid, hatten depressive Gedanken, aber auch Gewalt- und Rachephantasien. Immer wieder ging es um Rächerfiguren: Neo aus Matrix, The Crow, Final Fantasy, Jason und andere. Die in den Filmen auffälligen schwarzen Mäntel zeigen eine Identifikation mit fiktiven Helden und Rächern, aber auch die Nachahmung anderer Amokläufe (Trenchcoat-Mafia, Columbine), insbesondere die Inszenierung der Täter in selbstgedrehten Videos und mit Bildern im Internet mit schwarzem martialischem Outfit und Waffen weist auf den Wunsch nach Darstellung der eigenen Macht und Großartigkeit hin. Schließlich sind unter Maskierung und in der vermeintlichen Anonymität Aggressionssteigerungen und die Begehung von Tötungsdelikten möglich, worauf Zimbardo in seinen Forschungen mehrfach hingewiesen hat. Das Thema "schwarz" spiegelt hier also die Beschäftigung der Jungen mit Gewalt und Tod wider und zeigt die Vermischung virtueller Welten, Tötungsphantasien und fortgeschrittene Phasen der Tatplanung an. Es handelt sich nicht um Kleidung, die die Zugehörigkeit zu einer Subkultur, wie etwa Gothic, Blackmetal oder Satanisten, verdeutlicht. Die späteren Täter waren Einzelgänger, die gerade keiner Jugendgruppe oder Subkultur zugeneigt waren, sondern sich im Gegenteil einzigartig und großartig fühlten.


Nachahmung und Bezugnahme auf Amoktaten

Häufig fielen Andeutungen über Amoktaten, diese wurden aber nicht ernst genommen. Meistens wussten die späteren Täter erstaunlich gut über Amokläufe, Massenmörder oder Serienmörder Bescheid. Scheinbar beiläufig fielen Bemerkungen gegenüber Gleichaltrigen, zuweilen wurden auch in Suizidforen oder Chats im Internet vorsichtig die Reaktionen auf eine Andeutung von "Amok" getestet, oder es kam zu Äußerungen wie (nach einer Tat): "Da hatte endlich mal einer den Mut, es allen an dieser Sch...schule zu zeigen. Das wäre hier auch mal nötig!". Oder es wird am Jahrestag der Tat von Columbine (20. April 1999) eine Andeutung in Richtung des Gutheißens der Tat getätigt: "Harris und Klebold (die Täter, meistens werden Abkürzungen benutzt, die den Insider auszeichnen sollen) haben es damals genau richtig gemacht. Man müsste es allen hier mal so richtig zeigen."


Hass und Gewalt in Computerspielen, Videos und Medien, Rolle des Internet

Typisch war die intensive Beschäftigung mit gewalthaltigen Medien und Computerspielen. Dabei waren Ego-Shooter, Kriegsszenarien, Science-Fiction und Horror besonders beliebt. Alle spielten Spiele und sahen Filme, die erst ab 18 Jahren zugelassen waren, bereits im Alter von 13, 14 Jahren. Dies ist nicht nur für spätere Täter typisch, sondern Teil des Problems. Unter Kindern und Jugendlichen gilt natürlich das Verbotene als besonders interessant. Hinzu kommt eine gravierende Unkenntnis der Erwachsenen von den Inhalten dieser Medien. Sie kennen zum Teil Bezeichnungen von Spielen, Titel von Filmen, haben aber keine Ahnung, was sich tatsächlich dahinter verbirgt und gehen von geringem Schädigungspotential aus.

Bei den späteren Tätern griffen die Eltern kaum ein. Wenn sie den Medienkonsum als störend wahrnahmen, dann häufig im Alter von 16, 17 oder 18 Jahren, wenn das stundenlange Gedröhne des Spiels aus dem Zimmer und die Reduktion des sozialen Umgangs, der sowieso schon spärlich war, auf ein absolutes Minimum sank. In diesen späten Phasen hatten die Eltern bereits jeden Zugang zu ihrem Sohn verloren und konnten das Spielen nicht unterbinden. Sie berichteten auch von besonders ruppigem und unfreundlichem Verhalten des kritisierten Sohnes.

Es geht also nicht um monokausale Wirkungen von gewalthaltigen Medien - was ohnehin wissenschaftlich niemand ernsthaft behauptet. Relevant ist nach wie vor die Frage, welche Charaktere gezielt Gewaltmedien aufsuchen und sich damit befassen. In diesen Fällen entsteht die auch bei den Amoktätern zu beobachtende fatale Dynamik: verletztes Selbstwertgefühl, fehlende Akzeptanz, unterdrückte Wut und Hass und selektive Befassung mit Gewalt. Mediale Gewalt ist ein Risikofaktor, der als Verstärker wirkt. Neben den nicht altersgerechten Inhalten haben diese Jungen kein adäquates Sozialleben und keine Bindungen an Gleichaltrige. Sie verbringen über Jahre täglich viele Stunden vor Fernseher, DVD-Recorder und Computer. In ihrem Selbstwert schwache, sich von der Umwelt gedemütigt fühlende und nicht anerkannte Individuen mit Misserfolgs- und Frustrationserlebnissen (etwa schlechten Schulnoten, ständigen Versetzungsängsten, Versagensängsten in der Schule und fehlender Anerkennung bei Gleichaltrigen) sind die Risikogruppe, die eine Menge unterdrückter Wut ansammelt, aber nicht zeigt. Diese Personen greifen gezielt zu Gewaltfilmen, Ego-Shootern und Waffen bzw. echt aussehenden Softairwaffen, um ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Bei entsprechend intensiver Beschäftigung ist eine deutliche Einengung auf diese Themen Gewalt und Tod festzustellen. In der Phantasie wird der schwache Junge ohne soziale Anerkennung zum starken männlichen Helden, vor dem andere Angst bekommen. Die Identifikation, meistens auch nur mit einschlägigen Teilen von Filmen, einzelnen Spielen und dem Vorbild früherer Täter, ist die eigentliche Risikokonstellation, die zur Tat führt.


Suizid und Fremdaggression - Die Täter merken, dass etwas nicht stimmt

Die meisten Täter töteten sich am Ende selbst oder planten dies. Daraus folgt zunächst ein tödliches Risiko für Schulen und andere Institutionen, die in eine Gefahrenlage geraten. Ab dem Beginn der Tatausführung ist von einer hohen Entschlossenheit des Täters zum Töten auszugehen. Dieser Täter, der aus seiner Sicht mit Beginn der Tatausführung das Ende seines Lebens vor Augen hat, lässt sich in der Regel nicht aufhalten. Mitleid, Empathie, Erschrecken über das eigene Handeln sind nicht vorhanden. Verhandeln, wie etwa mit einem Forderungen stellenden Geiselnehmer, der Gewalt als Mittel zum Ziel einsetzt, gibt es nicht. Die Amoktäter wollen wie Selbstmordattentäter nur noch eine möglichst grandiose Tat mit vielen Opfern produzieren, und die Medien sollen darüber berichten.

Suizid wird typischerweise mit Depression, nicht aber mit Aggression gegen andere Menschen assoziiert. Für die Erklärung von Amokläufen eignet sich am besten die Beschreibung der jungen Täter als narzisstisch gestört, mit einem starken Gefühl für Kränkungen und Verletzungen, die sich objektiv betrachtet als relativ geringfügige Verletzungen und Beeinträchtigungen darstellen, vom Täter aber als tief kränkend und demütigend empfunden werden. Narzissmus paart sich mit einem Perfektionismus und der Unfähigkeit, mit Versagen und Fehlern umzugehen. Aus dieser Kränkung entwickeln sich Wut und Hass. In den depressiven Phasen wird dem späteren Amokläufer wohl sein Unvermögen deutlich, sein Leben in den Griff zu bekommen. Die Entwicklung der malignen narzisstischen Persönlichkeitsstörung ist eine offene Forschungsfrage.

Auffällig ist das Interesse der Täter für psychiatrische Literatur, weil sie etwas "Gestörtes", etwas "Anderes" an sich wahrnehmen. Nicht nur einer recherchierte im Internet, welches psychiatrische Störungsbild möglicherweise auf ihn zutreffen könnte. Sie erkannten an sich Zwangsstörungen, hielten sich für manisch-depressiv, nahmen ein Faltblatt der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit, ließen sich von der Mutter Termine bei einem Psychotherapeuten oder in der Psychiatrie vereinbaren. Im Internet wurden Suizidforen besucht und zuweilen auch gerade hier Andeutungen über einen Amoklauf oder entsprechende Sympathien geäußert. Zu bestimmten Zeitpunkten schienen die späteren Täter bereit, sich selbst in Behandlung zu begeben, zu anderen Zeitpunkten lehnten sie dies ab.

Aktuell führen wir empirische Untersuchungen zu Bedrohungsfällen an Schulen durch, die seit März 2009 sprunghaft angestiegen sind.


Die Autorin

Britta Bannenberg, Jahrgang 1964, Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Göttingen, Promotion 1993 mit einer Dissertation zum Thema "Täter-Opfer-Ausgleich". Von 1995 bis 2001 war Britta Bannenberg wissenschaftliche Assistentin bei Prof. Dr. Dieter Rössner an der Universität Halle/Saale und an der Universität Marburg. 2001 habilitierte sie sich mit einer Arbeit über Korruption in Deutschland und ihre strafrechtliche Kontrolle. Ab 2002 war sie Professorin für Kriminologie, Strafrecht und Strafverfahrensrecht an der Universität Bielefeld. Seit 2008 ist Britta Bannenberg Professorin für Kriminologie an der Universität Gießen. 2008 bis 2009 war sie Präsidentin der Kriminologischen Gesellschaft, deren Vizepräsidentin sie zurzeit ist.

Kontakt
Prof. Dr. Britta Bannenberg
Justus-Liebig-Universität Gießen
Professur für Kriminologie
Licher Straße 64 - 35394 Gießen
Tel.: 0641 99 21570
E-Mail: britta.bannenberg@recht.uni-giessen.de


Literatur

Bannenberg, Britta: Amok, Ursachen erkennen, Warnsignale verstehen, Katastrophen verhindern. Gütersloh 2010.

Landesregierung Baden-Württemberg (Hrsg.): Expertenkreis Amok: Konsequenzen aus dem Amoklauf in Winnenden und Wendlingen am 11. März 2009. Gemeinsam handeln, Risiken erkennen und minimieren. Prävention, Intervention, Rehabilitation, Medienberichte. 2009.

Internetquelle:
www.schule-bw.de/unterricht/paedagogik/gewaltpraevention/kbuero/amok/index_html.


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Quelle:
Spiegel der Forschung Nr. 1/Juni 2010, 27. Jahrgang, S. 6-13
Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen
Herausgeber: Der Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen
Pressestelle der JLU Gießen
Ludwigstraße 23, 35390 Gießen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. August 2010