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FORSCHUNG/155: Was passiert im Kopf? Aggression und Gewalt beim Menschen (impulse - Uni Bremen)


Universität Bremen - impulse aus der Forschung Nr. 2/2010

Was passiert im Kopf?

Aggression und Gewalt beim Menschen

Von Thorsten Fehr


Gewalt und Gewaltbereitschaft gehören zum Verhaltensmuster des Menschen. Neurowissenschaftler der Universität Bremen konnten nun zeigen, dass komplexe Reaktionsmuster auf Gewalt erlernt und im neuronalen Netzwerk des Gehirns verankert werden. Dabei sprechen fiktive Gewalt aus Computerspielen und reale Gewalt unterschiedliche Hirnregionen an.


Alle Menschen sind prinzipiell zu gewalttätigem Verhalten fähig, die individuelle Lerngeschichte und ein entsprechender Kontext können die Bereitschaft zur Gewalt aber verstärken. Das Verhalten von Menschen aller Kulturen und Gesellschaftsgruppen gerade in Kriegsszenarien hat das in der Vergangenheit immer wieder mit einer tragischen Eindrücklichkeit gezeigt.

Aggression allerdings ist im Gegensatz zur Gewalt der Bedeutung nach nicht negativ im Sinne schädigenden Verhaltens zu werten. Das Wort Aggression bedeutet, abgeleitet vom lateinischen Verb "aggredior", in der Übersetzung soviel wie "an etwas herangehen". Zielstrebiges, energisches Handeln ist für sich gesehen eher etwas Positives und bekommt erst dann eine negative Bedeutung im Sinne von Gewalt, wenn - im Zuge fehlender Verhaltensalternativen - Schäden oder Opfer entstehen.

Eine zentrale Rolle in der Steuerung und Entwicklung der Aggression spielen Strukturierungshilfen, also der Kultureinfluss, mehr noch die Erziehung oder in intensiverer Form die Therapie. Viele Formen offener physischer Gewalt haben sich im Zuge der Phylogenese und der Kulturgeschichte des Menschen in eher verdeckte oder indirekte Formen oftmals gesellschaftlich tolerierter Gewalt umgewandelt. Liebesentzug und Eifersucht in Partnerschaft und Familie oder unverhältnismäßig hartes Wettbewerbsverhalten im Berufsalltag, etwa durch Mobbing, sind nur zwei Beispiele von Gewalt, mit der die meisten Menschen regelmäßig konfrontiert werden.


Gewalt als komplexes Verhalten

In den Neurowissenschaften wird nach wie vor diskutiert, in wie weit strukturelle Veränderungen des Gehirns gewalttätiges oder sozial auffälliges Verhalten auslösen. Ursache solcher Veränderungen können Schädigungen oder neuronale Degeneration in bestimmten Hirnbereichen, etwa in der Amygdala oder im Frontalkortex sein.

Funktionelle Studien deuten neuerdings eher auf ein differenzierteres Bild hin. Quasi alle Bereiche des Gehirns können, müssen aber nicht, Teil von Regelkreisläufen gewalttätigen Verhaltens sein. Es kann beispielsweise die Wahrnehmung von sozialen Situationen verzerrt sein und ein unangemessenes Verhalten auslösen. Es können aber auch prototypische Reaktionsmuster auf bestimmte soziale Konstellationen vorhanden sein, mit denen in der Vergangenheit immer wieder Konflikte erfolgreich gelöst wurden. Dieser Erfolg kann wiederum die entsprechenden neuronalen Netzwerke festigen und unangemessene Verhaltensmuster im Gehirn verankern.

Komplexes Verhalten und Erleben spiegeln sich in hochgradig komplex miteinander verschalteten und interagierenden neuronalen Netzwerken wider und können mithilfe sogenannter neuronaler Korrelate ohne Eingriff in den Körper untersucht werden. Zu den Untersuchungsmethoden gehören etwa Hirnaktivierungsmuster in der funktionalen Bildgebung oder die oszillatorische Aktivität in der Biosignalanalyse wie der Elektroenzephalographie. Nun bestätigen neuere Studien der Abteilung für Neuropsychologie und Verhaltensneurobiologie der Universität Bremen, dass auch die zerebrale Verarbeitung gewalthaltiger und aggressiver Inhalte einer solchen Komplexität unterliegen.


Computerspiele und reale Gewalt

Gewalthaltige Inhalte können der Handlung nach fiktiv oder realistisch auf einen Betrachter wirken. Für die meisten Menschen unseres mitteleuropäischen Kulturkreises ist das reale Erschießen von Menschen eher eine fiktive, das heißt nicht zur persönlichen Lerngeschichte gehörende Begebenheit. Das Schubsen eines Anderen aufgrund einer Provokation gehört hingegen zum Erfahrungsspektrum fast jeden jungen Mannes, der einen guten Teil seiner Kindheit und Jugend auf dem Schulhof verbracht hat - es wirkt realistisch auf ihn und er hat ein prototypisches Handlungsschema parat, dessen neuronales Gegenstück in seinem Gehirn vernetzt ist.

Die Bremer Neurophysiologen untersuchten einerseits, wie Menschen fiktive Gewalt in einem Computerspiel erleben. Die Studie zeigt, dass gewaltbezogene Aspekte in den Szenarien sowohl bei Spielern mit langjähriger Erfahrung, als auch bei unerfahrenen Spielern Hirnbereiche aktivieren, die eher nicht dazu dienen Erregungen zu verarbeiten. Ebenso aktivierten Teilnehmer beider Gruppen unterschiedliche Hirnbereiche, wenn die Inhalte virtuell (wie im Computerspiel) oder real (vergleichbare Szenen nachgedreht mit echten Menschen als Darsteller) dargeboten wurden.

Solche Ergebnisse lassen weder bei psychisch gesunden Spielern noch bei Nicht-Spielern den Schluss zu, dass virtuell in Computerspielen erlebte Gewalt automatisch auf reale Kontexte übertragen wird. Allerdings verarbeiten die einzelnen Teilnehmer die dargestellte fiktive Gewalt sehr unterschiedlich. Dies weist deutlich auf eine möglicherweise überragende Bedeutung der individuellen Lerngeschichte in Bezug auf die Verarbeitung gewalttätigen Verhaltens hin.


Männertypische Gewaltszenarien

In weiteren Studien wurde die Verarbeitung von eher realistischen gewalthaltigen Szenarien untersucht. Dazu entwickelten die Bremer ein neues Videoinventar (BRAIN - BRemen Aggression INventory), welches Video-Clips zu neutralen, zu emotional positiven und zu aggressiven Situationen aus der Ich-Perspektive beinhaltet. Zeigt der Film nun Gewaltszenen, die eher männertypisch sind, so werden bei Männern sowohl erregungsbezogene als auch handlungsbezogene Hirnregionen aktiviert. Bei Frauen hingegen aktivieren die Szenen eher situationsanalysierende Regionen.

Auf Frauen wirken die Handlungsschemen aus dem Videoclip scheinbar eher fiktiv und unrealistisch, ähnlich einem Computerspiel. Bei den männlichen Teilnehmern scheinen die für ihre Lebenserfahrung eher prototypisch wirkenden Videoszenen demnach handlungsrelevante Regionen zu aktivieren. Es entstehen Wahrnehmungs-Handlungs-Schleifen (perceptionaction-cycles), welche dann im Gegenzug wieder gehemmt werden müssen, damit es nicht tatsächlich zu Gewalthandlungen kommt. Erst wenn eine gewisse Erregung überschritten wird, dominiert die Handlung über die Hemmung und aggressivgewalthaltiges Verhalten tritt auf.

Es ist unwahrscheinlich, dass konkrete aggressive Verhaltensweisen und Ablaufschemen gewalttätigen Verhaltens genetisch weitergegeben werden, einige Forscher diskutieren jedoch die Bedeutung des Temperaments. Sehr niedriges und sehr hohes Temperament kann demnach eine gewaltbezogene Sozialisation des Einzelnen begünstigen. Man spricht in manchen Fällen von "schwierigem Temperament". Letztlich ist es jedoch die soziale Kompetenz im Umfeld eines Babys oder Kleinkindes, welche die Verantwortung dafür trägt, das vorhandene Temperament oder Energiepotential mit entsprechenden guten oder schlechten Verhaltensweisen zu koppeln. Ist das soziale Umfeld ungünstig oder gar überfordert, kann unangemessenes Erziehungsverhalten, psychische oder physische Gewaltanwendung zum Modell und damit zur Grundlage späterer Gewaltkarrieren werden.

Sollten die hier skizzierten Ergebnisse aus den Neurowissenschaften tatsächlich bestätigen, dass die individuelle Lerngeschichte eine dominante Rolle in der Genese und neuronalen Verankerung gewalttätigen Verhaltens spielt, dann könnte dies weitreichende Folgen haben. Die physische und psychische Integration Einzelner und ganzer Gruppen müsste einen weitaus höheren Stellenwert als bisher in der gesellschaftlichen Diskussion bekommen.

Eine ausgewogen integrierte und von allen Gesellschaftsgruppen mitgestaltete Krippen- und Krabbelgruppenkultur, in der die Kleinsten vor allem aus psychisch, physisch oder wirtschaftlich benachteiligten Familien bereits eine faire Chance bekommen erfolgreiches alternatives Konfliktlöseverhalten am Beispiel zu erfahren und zu lernen, wäre einer der ersten wesentlichen Schritte hin zu einer friedlicheren und gewaltärmeren Gesellschaft. Der nächste Schritt könnte eine Re-Etablierung einer mittlerweile stark verkümmerten Vereins- und Jugendkultur und der Ausbau von Jugendzentren mit ausgebildeten pädagogischen Fachkräften als begehrte Anlaufstelle für alle Kinder und Jugendlichen sein. Hier wäre eine reale Plattform gegen die fortschreitende Individualisierung einer Gesellschaft, in der jeder Einzelne vornehmlich sein eigenes Wohl notfalls mit Mitteln physischer oder psychischer Gewalt durchsetzt, gegeben.

Ausgebildete Pädagogen und Lehrer, Übungsleiter sowie aktive Eltern und engagierte Altergenossen könnten eine Verhaltenskultur der erfolgreichen Konfliktlösung etablieren, die mit Nachdruck und Nachhaltigkeit zur Nachahmung motiviert. Allerdings müssen auch die Eliten aus politischen Führungspositionen, Kunst und Kultur sowie der Wirtschaft im Rahmen ihrer demokratisch legitimierten Machtausübung erfolgreich vorbildliches anti-aggressives Modellverhalten an den Tag legen, damit Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zur Nachahmung friedlicher Verhaltensweisen motiviert werden und diese nachhaltig und wirksam in ihr Wertekonzept übernehmen.

Weitere Informationen:
www.neuropsychologie.uni-bremen.de
www.TFehr.de


Thorsten Fehr ist Privatdozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Kognitionswissenschaften (Abteilung für Neuropsychologie und Verhaltensneurobiologie) der Universität Bremen und am Center for Advanced Imaging Bremen/Magdeburg. Er promovierte 2001 in Konstanz im Bereich Psychophysiologie und Psychologie. Als Senior Scientist an den Universitäten Bremen und Magdeburg untersucht er unter anderem die zerebrale Verarbeitung komplexer Kognitionen sowie die neuronale Verarbeitung von Aggressionen beim Menschen und von Gewalt in den Medien.


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Quelle:
Universität Bremen - impulse aus der Forschung
Nr. 2/2010, Seite 14-19
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Eberhard Scholz (verantwortlich)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2011