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MELDUNG/046: Jährlich über 127.000 Selbstmorde in Indien - Opfer allein gelassen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 12. Januar 2011

Indien: Jährlich über 127.000 Selbstmorde - Opfer allein gelassen

Von Sujoy Dhar


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Junge Leute gedenken der Selbstmordopfer
Bild: © Sujoy Dhar/IPS.

Junge Leute gedenken der Selbstmordopfer - Bild: © Sujoy Dhar/IPS.


Kolkata, Indien, 12. Januar (IPS) - Für den Psychologen Daya Sandhu ist Indien die "Hochburg der Selbstmorde" überhaupt. Er hatte letztes Jahr Gelegenheit, an der Guru-Nanak-Dev-Universität im indischen Amritsar die Ursachen und Hintergründe zu erforschen, die jährlich rund 130.000 Inder veranlasst, aus dem Leben zu scheiden.

"Bei meinem Aufenthalt in Indien von Januar bis Juni 2010 hat mich erschüttert zu lesen, das sich täglich Schüler, Bauern und Hausfrauen erhängen, vor Züge werfen, Gift nehmen oder verbrennen", berichtet Sandhu, Professor an der Universität von Louisville in den USA.

Haradhan Bag hatte sich zum Sterben ein verlassenes Fabrikgelände in Singur ausgesucht. Das Dorf liegt eine Autostunde von der westbengalischen Hauptstadt Kolkata entfernt. Er konnte den Verlust seiner Farm nicht verwinden, die der Produktionsstätte der "preiswertesten Autos der Welt" weichen musste.

"Von frühester Jugend an kannte er nur sein Feld, den Pflug und die Ernte", berichtet der Sohn Arun Bag. Nachdem sein Vater enteignet und sein Land dem indischen Automobilhersteller 'Tata Motors' zufiel, wurde er immer depressiver. Schließlich brachte er sich um, indem er Insektizide einnahm.

Haradhan war zum Zeitpunkt seines Todes im Mai 2007 76 Jahre alt. Er ist nur einer von Tausenden indischen Farmern, die sich nicht mit wirtschaftlichen Notlagen, Ernteeinbußen, Schulden und Vertreibung abfinden konnten.

In Indien brachte sich zwischen 1997 und 2005 alle 32 Minuten ein indischer Bauer um, fand der Entwicklungsexperte P. Sainath auf der Grundlage von Zahlen des Nationalen Büros für Verbrechensstatistik ermittelt. Der gleichen Quelle zufolge beendeten 2009 insgesamt 127.151 Menschen ihr Leben. Im letzten Jahr soll die Zahl um 1,7 Prozent gestiegen sein.


Auch Schüler und Studenten suizidgefährdet

Doch sind es nicht immer ausschließlich Bauern, die sich das Leben nehmen. Verbreitet ist das Phänomen auch unter Angehörigen der Mittelschicht, Schülern und Studenten. In Kolkata beispielsweise sorgt derzeit der Selbstmord eines 13-jährigen Schülers für Schlagzeilen. Rouvanjit Rawla besuchte die Eliteschule für Jungen 'La Martiniere'. Nachdem ihn ein Lehrer mit einem Rohrstock geschlagen hatte, hängte er sich zu Hause auf.

Sein Vater Ajay Rawla hat inzwischen gerichtliche Schritte gegen die Schule eingeleitet. "Ich kämpfe für Gerechtigkeit und für die Abschaffung der Prügelstrafe", sagt er. Unterstützung erhält er von der Nationalen Kommission für den Schutz der Kinderrechte. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass die Schule den Jungen in den Tod getrieben hat, weil sie körperliche Züchtigung erlaubt.

Dem Psychologen Sandhu zufolge wird die Öffentlichkeit für das Problem nur durch die Medien sensibilisiert. Den Behörden hingegen wirft er vor, das Phänomen komplett zu ignorieren. "In Indien", so seine Erkenntnis, "werden Depressionen einfach nicht zur Kenntnis genommen".


Leistungsdruck und Mangel an Liebe

Der Professor hatte während seines Indienaufenthalts Schüler und Studenten nach ihren Problemen gefragt. Die meisten nannten Leistungsdruck, die hohen Erwartungen der Eltern, Spannungen mit Partnern und Freunden. "Verblüffend war, dass 70 Prozent angaben unter Liebeskummer und dem Mangel an Liebe zu leiden", so Sandhu. "Sie fühlen sich nicht angenommen. Es scheint, dass sie von ihren Eltern nicht bedingungslos geliebt, sondern nach ihren Leistungen beurteilt werden."

In Indien gibt es im Vergleich zu der hohen Selbstmordrate viel zu wenige Beratungszentren wie die 'Lifeline Foundation' in Kolkata. Sie ist das einzige Zentrum, an das sich die 15 Millionen Einwohner von Kolkata und die 80 Millionen Westbengalen wenden können. Es bietet selbstmordgefährdeten Menschen Beratungen und eine Hotline an.

"Suizidgefährdete Menschen brauchen keine Antworten oder Lösungen ihres Problems", meint Jayashree Shome, die stellvertretende Leiterin der Stiftung. "Sie wollen einen sicheren Ort, an dem sie ihre Ängste und Nöte artikulieren können. Es ist wichtig, die Dinge aus ihrer Perspektive zu betrachten."

Sandhu weist darauf hin, dass das indische Gesetz für geistige Gesundheit aus dem Jahre 1987 ausschließlich Menschen ein Anrecht auf psychologische Betreuung einräumt, die unter Schizophrenie und Zwangsneurosen leiden oder manisch-depressiv sind. Seiner Meinung nach wird es höchste Zeit, die Zahl der Beratungsstellen drastisch zu erhöhen. (Ende/IPS/kb/2011)


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http://www.lifelinekolkata.org/home.html
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=54057

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IPS-Tagesdienst vom 12. Januar 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2011