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SOZIALES/109: Und so was von müde - junge Eltern brauchen Entlastung (zeitzeichen)


zeitzeichen - Februar 2008
Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft

Und so was von müde
Warum es schwierig ist, in einer individualisierten Gesellschaft Kinder großzuziehen

Von Wolfgang Schmidbauer


Junge Eltern brauchen Entlastung. Denn zufriedene Eltern sind wichtig. Das geht in der Krippen- und Hausfrauen-Debatte unter, meint der Münchner Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer.


Der 42-jährige Florian ist Jurist und Vater von zwei Töchtern im Kindergartenalter. Er arbeitet in der Rechtsabteilung einer großen Privatbank. Seine Frau Betsy ist ein Jahr jünger. Sie hat ebenfalls Jura studiert, aber wegen der Kinder ihre Stelle gekündigt. "Wir sind mit unserer Ehe am Ende", sagt Betsy. "Florian war ein richtiges Energiebündel, als wir uns kennenlernten. Und jetzt kommt er nach Hause und nölt, dass die Kinder so laut seien und er den ganzen Tag malocht habe. Er sei müde. Also bringe ich die Kinder ins Bett, bin dann auch todmüde, schlafe meist in einem der Kinderzimmer fast ein. Sexuell passiert gar nichts mehr. Florian sitzt dann noch vor dem Computer, obwohl er am nächsten Tag früh aufstehen muss."

Solchen Szenen begegnen dem Paartherapeuten fast jeden Tag. Florian hat geduldig Betsys Schilderung gelauscht. Die Initiative zur Therapie ging von Betsy aus, er findet seine Ehe nicht am Ende, sondern ganz normal, ebenso seine Müdigkeit nach einem langen Arbeitstag. Schließlich gehe keiner von ihnen fremd, sie liebten die Kinder, da gäbe es schlechtere Ehen.

Im Einzelgespräch schildert Florian seinen Arbeitstag. Er blüht auf, sobald er bemerkt, wie sich der Therapeut für seine Arbeit interessiert: eine Art Unternehmensberatung für große Darlehenskunden, wo Florian zwar seine juristische Ausbildung gut gebrauchen kann, aber auch ständig dazulernen muss. Er hat ein kleines Team, junge, dynamische Leute, sie sitzen zusammen, schmieden Pläne, gestalten Präsentationen. Es wird deutlich, dass Florian nach neun Stunden Arbeit keineswegs erschöpft ist. Und wann wird er müde? "Schlagartig", sagt Florian, "sobald der Zug in den Bahnhof einfährt" und er nach Hause geht, wo Betsy und die Kinder auf ihn warten.

Es sei so, als ob aus einer unsichtbaren Quelle Blei in ihn fließe und er mit jedem Schritt müder werde. Erst jetzt merke er, wie anstrengend die Arbeit war und wie leer er sich fühle. Wenn alle im Bett seien und es ruhig werde im Haus, dann fehle ihm etwas und er surfe im Internet, auf den Schweinderlseiten. Er verstehe auch nicht, warum ihn Betsy so gar nicht mehr anmache.

Die meisten Ehen zerbrechen an solchen Müdigkeiten. Sie sind der unauffällige Anfang von Auflösungserscheinungen, deren Tragweite erst erkannt wird, wenn beispielsweise einer der Partner eine neue Beziehung beginnt. Florians Verwandlung aber ist das Ergebnis einer durch Babygeschrei beschädigten Selbstüberschätzung.

Solange Betsy ebenso wie er beruflich engagiert war, gab es nach Feierabend einen allmählichen, gemeinsamen Übergang aus der Anspannung in die Freizeit. Jeder fühlte sich darin von seinem Partner unterstützt und verstanden. Es herrschte eine Symmetrie der Erwartungen. Es war möglich, über die Kollegen oder den Chef zu lästern und sich dann gegenseitig in den kleinen Kränkungen zu trösten, die in jedem Job unvermeidlich sind. Florian fühlte sich von Betsy anerkannt, Betsy von Florian. Entscheidender noch ist in diesen harmonischen Zeiten einer Liebesbeziehung das Nichtgesagte - bewundernde Blicke, Zärtlichkeiten, Erotik.

Dann wird ein Kind geboren. Beide haben es sich gewünscht, sehen darin ein Zeichen, wie gut sie sich verstehen und wie viel Halt sie aneinander haben. Und doch verändert das Baby alles. In einer bäuerlich bestimmten Vergangenheit festigte die Ankunft des Hoferben die Ehe. In den individualisierten Beziehungen der Moderne treibt die Geburt des ersten Kindes dagegen die Scheidungsrate auf den Gipfel. Eine gute Beziehung zweier belastbarer Personen kann mit Mühe Kurs halten. Die vorher von unausgesprochenen Wünschen und hoher Rücksichtnahme auf die Kränkbarkeit des Partners gekittete Partnerschaft geht dagegen zu Bruch.

Wo er leistet, will der moderne Mensch einen Lohn; wo er etwas für den Partner tut, will er Anerkennung vom Partner. Solange zwei Erwachsene miteinander arbeiten und füreinander sorgen, ist es leicht, hier Symmetrie zu wahren und ein Grundgefühl gerechter Verteilung zu sichern. Sobald aber ein Baby versorgt werden muss, wird das erheblich schwieriger.

Florian und Betsy sind, seit das erste Baby in ihren Haushalt kam, schmerzhaft frustriert. Ihre Müdigkeit gegeneinander drückt aus, wie sie dem Baby seine Rolle neiden, wie sie selbst den gestillten Säugling spielen, um den Kummer über den Liebesverlust von Seiten des Partners zu verdrängen. Florian vermisst Betsys Anerkennung für seine beruflichen Leistungen, Betsy Florians Bewunderung, wie gut sie den Verzicht auf den Beruf und den Stress der Kinderarbeit bewältigt.

Müdigkeit breitet einen Schleier über Gefühle und drohende Auseinandersetzungen. Sie ist Aufschub pur - heute nicht, ich bin zu müde. So wissen weder Florian noch Betsy, wie viel Neid und Wut in ihnen steckt. Betsy findet, Florian konsumiere eiskalt ihre Bereitschaft, auf ihren Beruf zu verzichten und mit den Kindern zu versauern. Florian fühlt sich nicht weniger ausgenutzt. Betsy gibt sein hart verdientes Gehalt für ihre Heilpraktiker-Spielchen aus und sagt nicht einmal danke. Da beide sich entschlossen haben, eine gute Ehe zu führen, passen solche Gefühle nicht in ihre Selbstbilder - daher der plötzliche Einbruch von Müdigkeit, wenn Wut und Neid anders nicht mehr verleugnet werden können.


Schlummernde Ungeheuer

Ein Baby weckt schlummernde Ungeheuer, die in unberechenbarer Weise gegen die erotische Faszination zwischen Mann und Frau wirken. Das kleine Geschöpf hat, was den Einfluss auf das menschliche Unbewusste angeht, die Macht des Magnetberges. Ganz ähnlich zieht das Baby die unsichtbaren symbiotischen Bindungen der Eltern an sich. Was diese sich bisher an eigenen unausgesprochenen kindlichen Bedürfnissen nach Bewunderung und unverdienter Liebe schenkten, was ihre Beziehung zusammenhielt und gegen alle Stürme festigte, das Baby braucht alles für sich - und mehr. Kein Wunder, wenn überforderte Mütter einige Monate nach der Geburt ihren Männern zu sagen beginnen, sie brauchten jetzt endlich einen richtigen Vater als Partner und ganz bestimmt kein zweites Kind.

Die Müdigkeit der Väter lässt zwar Frauen und Kinder unzufrieden zurück, schützt diese jedoch auch vor Schlimmerem. Denn jährlich sterben in Deutschland vielleicht tausend Babys, vielleicht auch erheblich mehr an einem Schütteltrauma. Entdeckt werden nur die wenigsten Fälle. In einer Großstadt wie München sind es fünf bis acht pro Jahr. Früher wurden diese Kinder mit der Diagnose "plötzlicher Kindstod" als tragische Opfer jäh aufgetretener Infektionen begraben. Heute ermöglicht die Kernspintomographie eine Diagnose. Sie wird nur in Ausnahmefällen gestellt, denn der Gedanke will niemandem in den Kopf, dass diese erschütterten Eltern, die alles nur gut machen wollten, den Tod ihres Babys verursacht haben sollen.


Wie enttäuschte Liebende

Es ist die dritte Ehe des 47-jährigen Vaters, eines Managers, der im Herbst des Jahres 2007 in München-Stadelheim in Untersuchungshaft sitzt. Nach zwei fast erwachsenen Kindern aus erster Ehe wollte er sich noch einmal beweisen, dass ein moderner Vater genauso gut für seine Kinder sorgen könne wie die Mutter, eine Psychologin, die ihm vor sieben Monaten Zwillinge geboren hatte. Er hatte den Beruf zurückgestellt, um sie zu entlasten. Beide teilten sich die Aufgaben, dass sie tagsüber für die beiden Mädchen zuständig war, er nachts.

In einer dieser Nächte konnte der Vater den Schlaf seiner Frau nicht mehr beschützen. Er weckte sie um drei Uhr morgens: Eines der Babys liege so merkwürdig schlaff in seinem Bettchen. Als der Kinderarzt kam, war das Kind bereits tot. Es konnte reanimiert werden, kam in die Intensivstation einer Kinderklinik und starb dort nach wenigen Stunden. Die Obduktion ergab eine Gehirnblutung mit entsprechendem Gehirnödem. Die Ursache: ein Schütteltrauma.

Bei Babys ist die Nackenmuskulatur noch so wenig entwickelt, dass sie den Kopf aus eigener Kraft nicht halten können. Doch sind Blutgefäße und Nerven so elastisch, dass in der Regel nicht viel passiert, wenn jemand einen Säugling ungeschickt trägt, so dass sein Köpfchen wegsackt. Es gehören die Wucht und der Zorn eines psychisch überlasteten Erwachsenen dazu, um dem Baby das anzutun, was in den gerichtsmedizinischen Berichten als "Schütteltrauma" beschrieben wird.

Die Eltern schütteln ihr Kind nicht, weil sie es schädigen, ja umbringen wollen. Sie verhalten sich wie enttäuschte Liebende, die den Partner schütteln, der sie enttäuscht hat. Dieses Schütteln ist ein Versuch, die Verhältnisse zu verbessern. Der psychologische Hintergrund ist eine brisante Mischung aus Abhängigkeit und Wut. Der Partner ist anders, als ich ihn mir wünsche. Ich fühle mich existenziell bedürftig, dass er so ist, wie ich ihn brauche. Daher gehe ich mit ihm um wie mit einem defekten Gerät: ich schüttle ihn, in der Hoffnung, dass alles wieder so läuft, wie es laufen müsste.

Vermutlich wollen die Eltern aus ihrem Schreibaby herausschütteln, wohin es denn um alles in der Welt will. Sie würden ihm so gerne das Richtige geben, Fläschchen, Brust und Schnuller oder Spielzeug. Aber es schreit ihren Bemühungen zum Trotz. So kommt der Gedanke in den Elternkopf, dass da etwas falsch verdrahtet sei und durch energisches Schütteln an den richtigen Platz kommen sollte. Gut geschüttelt, schon wird aus dem Schreibaby ein funktionierendes Kind, das den Eltern Freude macht, ihr Selbstgefühl stärkt.

Bis in die Forschung hinein krankt die Diskussion über die beste Umgebung für das Baby an fürchterlichen Vereinfachungen, wie sie stets dort begehrt werden, wo emotionaler Druck traumatische Wucht gewinnt.

Politiker wie Experten sind oft so von ihren Stoßrichtungen eingenommen, dass sie vergessen, derlei Oberflächlichkeit zu stoppen und sich an eine schlichte, den Kindertherapeuten vertraute Differenzierung zu erinnern: Am besten gedeihen Babys, wenn sie von einer zufriedenen Mutter betreut werden. Am zweitbesten gedeihen die professionell betreuten Babys einer zufriedenen berufstätigen Mutter. Am drittbesten gedeihen die professionell betreuten Babys einer unzufriedenen berufstätigen Mutter. Am schlechtesten entwickeln sich Kinder, die einer unzufriedenen Hausfrau ausgeliefert sind.

Die Mutter der Münchner Zwillinge, deren Vater jetzt unter dringendem Verdacht einer Körperverletzung mit Todesfolge an seiner fünf Monate alten Tochter verhaftet wurde, ist von Beruf Psychologin. Sie verweigert auf Anraten ihres Anwalts die Aussage. Aber es liegt nahe, einen Zusammenhang ihrer perfektionistischen Vorstellungen über den Umgang mit Babys mit der Entgleisung des Vaters herzustellen.

Die Mutter erwartete von ihm, sich als emanzipierter Vater zu verhalten und dem schreienden Kind jedes seelische Trauma zu ersparen. Und während er im Beruf die schwierigsten Probleme lösen konnte, scheiterte er erbärmlich an diesem Geschöpf.

Er unterdrückte seine Wut und machte weiter. Er durfte doch in seinen und in den Augen seiner Frau nicht als schlechter Vater erscheinen, durfte nicht zugeben, dass die bezahlte Kinderfrau, die Angestellte einer Kinderkrippe bekömmlicher wäre für sein eigen Fleisch und Blut! So fiel ihm schließlich ein, das Schreibaby, das ihn zum Versager stempelte, zu packen und zu schütteln.

Wir tun Eltern keinen Gefallen, wenn wir verleugnen, dass Babys keine süßen, sanften Wesen sind, sondern Kämpfer. Um auf die Welt zu kommen, haben gesunde Säuglinge jede Menge Probleme in dem unheimlich komplizierten Geschehen einer Schwangerschaft bewältigt. Sie sind jetzt gerüstet, den Krieg gegen eine womöglich gleichgültige, unentschlossene Welt anzutreten. Sie haben nur wenige Waffen. Sie können strampeln. Und sie können schreien, schreien, schreien. Bis sie den Eltern glauben, dass diese es wirklich gut mit ihnen meinen, vergehen Monate und manchmal Jahre. Bis dahin verhalten sie sich cholerisch, jähzornig und misstrauisch.

In der Theorie wünschen sich beide Eltern ein zufriedenes Baby, ohne selbst unzufrieden und unglücklich zu werden, weil sie sich vom Partner im Stich gelassen fühlen. In der Praxis aber sorgen die müden Väter und die überlasteten Mütter dafür, dass ihr Liebeskonzept unter dem Babygeschrei zerspringt. Diese Niederlage ist eine Niederlage der Ehe so gut wie eine Niederlage in der Beziehung zum Kind. Perfektionistische Eltern, die sich gegenseitig für ihr Scheitern verantwortlich machen, sind für Kinder eine schwere Last. Scheidungen, mehr noch, Entwertung eines Elternteils, belasten Kinder sicherlich stärker als rechtzeitige Fremdversorgung. Ein Partner, der aufgeweckt nach Hause kommt und Energiereserven mobilisiert, ist ein Schatz für jede Familie. Und Eltern, die es gelernt haben, sich gegenseitig zu schätzen, vermitteln dem Kind Zuversicht für sein künftiges Leben.


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Quelle:
Zeitzeichen, Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft
9. Jahrgang, Februar 2008, S. 8 bis 13
Redaktion: Helmut Kremer (Chefredakteur)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2008