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FORSCHUNG/086: Hintergründe der Kriminalität (iwd)


Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH Zürich) - 10.10.2013

Hintergründe der Kriminalität

Mehr Bestrafung führt nicht zwangsläufig zu weniger Kriminalität. Dies sagen ETH-Forscher, welche die Entstehung von Kriminalität in einem Computermodell untersuchten. Um Verbrechen zu bekämpfen, müsse man das Augenmerk stärker auf die sozialen und ökonomischen Hintergründe richten, die Kriminalität begünstigten.



Auf der Erde wird gestohlen, betrogen und gemordet - schon seit Langem und noch immer. Kriminalität auszurotten, ist der Menschheit nie gelungen, obschon dies - wenn man der Theorie rationaler Entscheidungen der Ökonomen glaubt - grundsätzlich möglich sein müsste. Diese Theorie besagt, dass Menschen dann kriminell werden, wenn es sich für sie lohnt. Zu stehlen oder Steuern zu hinterziehen beispielsweise lohnt sich dann, wenn der Nutzen aus der unrechtmässigen Bereicherung grösser ist als die erwarteten Kosten durch eine potenzielle Strafverfolgung. Wenn ein Staat die Strafen genügend hoch ansetzt und dafür sorgt, dass Gesetzesbrecher zur Rechenschaft gezogen werden, dann müsste es theoretisch möglich sein, Kriminalität vollständig auszumerzen.

Soweit die Theorie. Sie sei zu stark vereinfacht und greife zu kurz, sagt Dirk Helbing, Professor für Soziologie. So kennen etwa die USA teilweise viel drastischere Strafen als die europäischen Länder. In einigen amerikanischen Bundesstaaten wird für Mord die Todesstrafe verhängt. Dennoch ist die Mordrate in den USA fünfmal höher als in Westeuropa. Ausserdem sitzen in amerikanischen Gefängnissen zehnmal mehr Menschen als in vielen europäischen Ländern. Mehr Repression könne unter Umständen sogar zu mehr Kriminalität führen, sagt Helbing. Seitdem die USA ihren «war on terror» ausgerufen habe und ihn rund um den Globus führe, habe die Zahl der weltweiten Terroranschläge nicht etwa ab-, sondern zugenommen. «Der klassische Ansatz, nach dem man Kriminelle nur stärker verfolgen und bestrafen muss, wenn man die Kriminalität reduzieren will, funktioniert oft nicht.» Dennoch dominiere dieser Ansatz die öffentliche Diskussion.

Neues Modell näher an der Realität

Um die Entstehung von Kriminalität genauer zu verstehen, entwickelte Helbing gemeinsam mit Wissenschaftskollegen ein neues, sogenannt agentenbasiertes Modell, in dem sie das Netzwerk sozialer Wechselwirkungen berücksichtigten. Das neue Modell bildet die Realität besser ab als bisherige Modelle. Es umfasst nicht nur Kriminelle und Gesetzeshüter, wie es viele bisherige Modelle tun, sondern auch ehrliche Bürger als dritte Gruppe. Parameter wie Strafmass und Strafverfolgungskosten können im Modell variiert werden. Ausserdem erfasst das Modell räumliche Abhängigkeiten. Das heisst, die Vertreter der drei Gruppen interagieren nicht beliebig miteinander, sondern nur dann, wenn sie im Computermodell räumlich und zeitlich aufeinandertreffen. Insbesondere ahmen die einzelnen Agenten das Verhalten von benachbarten Agenten anderer Gruppen nach, wenn dies erfolgsversprechend ist.

Zyklen der Kriminalität

Mit dem Modell konnten die Wissenschaftler zeigen, dass mehr Bestrafung nicht zwangsläufig zu weniger Kriminalität führt, und wenn doch, dann nimmt sie zumindest nicht in dem Mass ab, wie der Aufwand und die Kosten für die Bestrafung zunehmen. Ausserdem konnten die Forscher simulieren, wie Kriminalität plötzlich aufflammen und wieder verebben kann. Ähnlich dem in den Wirtschaftswissenschaften bekannten Schweinezyklus oder den in der Ökologie bekannten Räuber-Beute-Zyklen ist auch Kriminalität Zyklen unterworfen. Das Modell bestätigt damit Beobachtungen, wie sie etwa in den USA gemacht wurden: Nach dem Uniform Crime Reporting Program des FBI findet man in mehreren Bundesstaaten eine sich zyklisch verändernde Häufigkeit von Straftaten.

Das Modell liefert eine Erklärungsmöglichkeit für diese Schwankungen. Helbing konkretisiert das wie folgt: «Wenn ein Staat die Investitionen in sein Strafverfolgungssystem so stark erhöht, dass es nicht mehr kosteneffizient ist, wird der Ruf von Politikern laut, das Budget der Strafverfolgungsbehörden zu senken. Baut ein Staat in der Folge die Strafverfolgung ab, bleibt wieder mehr Raum für Kriminelle.»

«Viele Verbrechen haben einen sozio-ökonomischen Hintergrund»

Wie, wenn nicht mit Repression, kann man denn die Kriminalität bekämpfen? Das Hauptaugenmerk müsse auf dem sozio-ökonomischen Kontext liegen, sagt Helbing. Wie aus der Milieutheorie in der Soziologie bekannt ist, ist das Umfeld für das Verhalten einzelner Menschen entscheidend. Die grosse Mehrzahl der kriminellen Handlungen habe einen sozialen Hintergrund, so Helbing. Wenn zum Beispiel ein Mensch den Eindruck gewinne, dass alle seine Freunde und Nachbarn den Staat austricksten, dann frage sich der Einzelne unweigerlich, ob er der letzte Ehrliche sein solle, der auf der Steuererklärung alle Einkünfte deklariere.

«Wenn man die Verbrechensrate senken möchte, muss man die sozio-ökonomischen Verhältnisse, unter denen die Menschen leben, im Auge behalten», sagt Helbing. Dies dürfe man nicht mit Kuscheljustiz verwechseln. Doch die staatliche Antwort auf Kriminalität müsse differenziert ausfallen: Neben Polizei und Justiz seien auch die Volkswirtschafts- und Sozialbehörden gefragt - und jeder Einzelne, wenn es um die Integration von Anderen gehe. «Indem man wirtschaftliche Verhältnisse verbessert und Menschen sozial integriert, kann man Kriminalität wahrscheinlich effektiver bekämpfen als mit dem Bau neuer Gefängnisse.»


Weitere Informationen unter:
http://www.plosone.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.pone.0076063

(Perc M, Donnay K, Helbing D: Understanding Recurrent Crime as System-Immanent Collective Behavior. PLoS ONE 8(10): e76063. doi: 10.1371/journal.pone.0076063)

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution104

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH Zürich),
Franziska Schmid, 10.10.2013
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Oktober 2013