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GESELLSCHAFT/173: Stellt sich von neuem die soziale Frage? (Herder Korresp.)


Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion 12/2006

Nicht nur Einzelschicksale
Stellt sich in Deutschland von neuem die soziale Frage?

Von Michael Fischer und Gerhard Kruip


In der jüngsten Debatte über das vorgeblich größer werdende Unterschichten-Problem schwangen auch Befürchtungen mit, in Deutschland stelle sich wieder die "soziale Frage". Eine kollektive Aufbruchsbereitschaft des "abgehängten Prekariats" lässt sich derzeit nicht beobachten. Vielmehr dominieren individuelle Anpassungsstrategien und der Rückzug ins Private.


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Mit seiner Warnung vor einem "wachsenden Unterschichten-Problem" entfachte der SPD-Vorsitzende Kurt Beck jüngst eine heftige Debatte. Offenbar hatte er schon die kurz darauf veröffentlichten Ergebnisse einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung gekannt. Diese hatte innerhalb der deutschen Bevölkerung eine Gruppe von 8 Prozent ausgemacht, die sich laut Selbsteinschätzung als "abgehängt" empfindet. Diese Menschen haben die Hoffnung verloren auf Verbesserung ihrer prekären sozialen und wirtschaftlichen Situation durch eigenes Bemühen für sich und ihre Nachkommen. In der aufgeregten öffentlichen Debatte über die Frage, ob es in Deutschland wieder eine "Unterschicht" gebe, schwangen offenbar Befürchtungen mit, wir könnten wieder vor einer "sozialen Frage" stehen und damit vor möglicherweise dramatischen Spannungen und Konflikten bis zur massiven Infragestellung von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft.

Der nicht nur für seine Gegenüberstellung von "Gemeinschaft" und "Gesellschaft" bekannte Soziologe Ferdinand Tönnies hatte die "soziale Frage" vor etwa hundert Jahren so definiert: "Die Frage des friedlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens der in ihren wirtschaftlichen Lebensbedingungen, ihren Lebensgewohnheiten und Lebensanschauungen weit voneinander entfernten Schichten, Stände, Klassen eines Volkes, das ist der allgemeine Inhalt der 'sozialen Frage'" (Die Entwicklung der sozialen Frage bis zum Weltkriege, Berlin 1989, 7; zuerst 1907).

Dabei hatte Tönnies noch lebhaft den gesellschaftlichen Umbruch vor Augen, den die kapitalistische Industrialisierung im 19. Jahrhundert in Deutschland ausgelöst hatte. Nicht dass es zuvor keine Armut beziehungsweise keine "Unterschicht" gegeben hätte, im Gegenteil. Aber überkommene Bewältigungsmuster einer vorwiegend dörflich-agrarisch geprägten Gesellschaft wurden durch die massenhafte Freisetzung von Menschen aus den bisherigen Strukturen schlicht überfordert. "Handwerksburschen-Elend", Kinderarbeit, 15 Stunden harte körperliche Arbeit in der Fabrik an sieben Tagen in der Woche zu Hungerlöhnen ohne soziale Absicherung waren keine Seltenheit.

Als sich die Arbeiterklasse zu organisieren begann und gegen harte Widerstände für mehr Rechte, soziale Chancen und gesellschaftlichen Aufstieg kämpfte, waren die zukünftigen Resultate nicht ohne weiteres absehbar. Die soziale Ordnung, praktisch die ganze Art und Weise des gesellschaftlichen Zusammenlebens stand auf dem Spiel. Nicht nur soziale Demokratie, sondern auch Hitlers Nationalsozialismus oder der Realsozialismus stellten so gesehen (gescheiterte) Lösungsversuche der sozialen Frage dar, wobei diese sozialethisch allerdings nicht auf eine Stufe zu stellen sind.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg brachte die soziale Marktwirtschaft mit ihrem Versprechen "Wohlstand für alle" für eine große Mehrheit der westdeutschen Bundesbürger die soziale Frage zum Verschwinden. Auch im Ostteil des Landes, der DDR, gab es wirtschaftlichen und technischen Fortschritt mit im Vergleich zu den anderen Ostblock-Ländern hohen Wohlstandsniveaus und vor allem hoher sozialer Sicherheit, freilich bei gleichzeitig stark eingeschränkter politischer Freiheit.

Als im Gefolge der Ölkrisen der siebziger Jahre sich aber in West- Deutschland Massenarbeitslosigkeit zu entwickeln und mit jeder Konjunkturkrise auf höherem Niveau zu verfestigen begann, entdeckten auch Politiker wie beispielsweise Heiner Geißler die soziale Frage wieder.

Zu dem von der Friedrich-Ebert-Stiftung identifizierten "abgehängten Prekariat" - 4 Prozent der Bevölkerung im Westen, 25 Prozent im Osten - gehören sicher viele recht unterschiedliche Einzelschicksale. Die Vorabergebnisse der Studie sprechen bei dieser Gruppe von einfacher bis mittlerer Bildung sowie entsprechenden Berufen, einem hohen Männer- und einem starken Arbeitslosenanteil, häufig im berufsaktiven Alter und besonders in Ostdeutschland konzentriert. Über eventuelle Migrationshintergründe, Privatinsolvenzen, vorangegangene Ehekrisen et cetera erfährt man aus den Vorabergebnissen aber wenig. Man kann jedoch mit Blick auf andere Milieustudien und Berichte aus der Sozialarbeit davon ausgehen, dass solche Aspekte im Einzelfall eine erhebliche Rolle spielen.

Die Unterschiede solcher Problemlagen, die zwar im Ergebnis zu einem ähnlich prekären sozialen Status und ähnlich pessimistischen Einstellungen führen, werden dementsprechend unterschiedliche Strategien zu ihrer Verbesserung erfordern: Monetäre Transfers alleine reichen nicht aus, selbst wenn ihre Anhebung die Lebenssituation Vieler verbessern dürfte und nach Jahren fehlender Anpassung der Sätze an die gestiegenen Lebenshaltungskosten auch nötig wäre. Viel stärker als Geld werden aber soziale Dienstleistungen in Form von gezielter Beratung und zusätzlicher Qualifizierung bis hin zu einer Gemeinwesenarbeit benötigt, die helfen könnte, verloren gegangenes "soziales Kapital" zurückzugewinnen.


Warum sollte die Rede von der Unterschicht tabuisiert werden?

Dabei gibt es - jedenfalls bislang - noch keinen Veränderungsdruck, der sich daraus ergäbe, dass der soziale Friede massiv gefährdet und die bestehende soziale und politische Ordnung grundsätzlich in Frage gestellt würde. Eine kollektive Aufbruchsbereitschaft des "abgehängten Prekariats" zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse lässt sich derzeit nicht beobachten; nicht einmal Vorortaufstände wie in Frankreich. Vielmehr dominieren individuelle Anpassungsstrategien (Franz Schultheis und Kristina Schulz [Hg.], Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag, Konstanz 2005) und vielfach Rückzüge ins Private.

Das mag vielleicht auch damit zu tun haben, dass im bestehenden deutschen Sozialstaat die materielle Existenzgrundlage der Angehörigen dieser Gruppe (noch) kaum gefährdet ist. Jedenfalls besteht anders als in den USA eine sehr weitgehende Übereinstimmung darin, dass "Elend hinter Gittern" (Loic Wacquant) weder eine moralisch wünschenswerte noch eine wirtschafts- und sozialpolitisch effiziente Alternative darstellen würde.

Prekäre Lebenslagen als Einzelschicksale zu begreifen, wie sich dies im Vorzug der Bezeichnung "Menschen mit sozialen und Integrationsproblemen" gegenüber dem Begriff der "Unterschicht" ausdrückt, würde die Problemlage jedoch unzulässig verkürzen. Zwar kann der Begriff "Unterschicht" stigmatisieren, wie beispielsweise im Wort "Unterschichtenfernsehen". Dadurch wurden dessen Konsumenten und ihre Kultur als etwas Minderwertiges hingestellt, über das man sich als "besserer" Mensch mokieren könne. Zugleich hat der Begriff aber eine ernst zu nehmende soziologische Dimension, die auf Phänomene gesellschaftlicher Schichtung, also soziale Macht- und Statushierarchien verweist. Und so kommt man nicht an dem Verdacht vorbei, dass manche prominente Distanzierung von dem Wort "Unterschicht" eben diese Dimension gesellschaftlicher Schichtung tabuisieren wollte. Denn aus deren Wahrnehmung erfolgt eine andere Verantwortung für Politiker und gesellschaftliche Eliten als nur ständig wiederholte Appelle an die Leistungsbereitschaft von Langzeitarbeitslosen oder der Verdacht des Leistungsmissbrauchs.

Dabei liegt das Problem nicht darin, dass es in unserer Gesellschaft in vielerlei Hinsichten Unterschiede zwischen den Menschen gibt. Hinsichtlich der materiellen Ressourcen sind relativ große Ungleichheiten unproblematisch, solange für alle Menschen die gleichen Selbstverwirklichungs- und Teilhabechancen gewährleistet sind. Zuletzt haben aber die PISA-Studien gezeigt, dass wir in Deutschland weit davon entfernt sind: In zu hohem Maße übersetzt sich hierzulande sozioökonomische Herkunft in möglichen Bildungserfolg und dementsprechende Chancen auf dem Arbeitsmarkt, mit einer hohen Beharrungskraft in der Generationenfolge und allen Konsequenzen, die dies für Lebensgewohnheiten und -anschauungen hat. Das ist besonders dramatisch für diejenigen, die unterhalb eines soziokulturellen Existenzminimums aufwachsen, das allzu häufig mit dem Unterschreiten eines soziokulturellen Bildungsminimums verbunden ist.

Die Aufnahme eines "Menschenrechtes auf Bildung" in das bundesdeutsche Grundgesetz, verbunden mit verstärkten Bildungsanstrengungen von früher Kindheit an und einer Qualifizierungsoffensive für Langzeitarbeitslose wäre der logische und notwendige nächste Schritt. Dieser setzt an den Voraussetzungen individueller Teilhabe- und Verwirklichungschancen wie auch volkswirtschaftlicher Prosperität an. Hier besteht ein Gestaltungsspielraum seitens der politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger, der sich keinesfalls in meist folgenlosen moralischen Appellen erschöpft.

Ursachenanalysen sind schwierig. Sie fallen je nach Perspektive unterschiedlich aus. Da man mit der Entwicklung von Gesellschaften keine Experimente machen kann, lässt sich zwar aus Erfahrung lernen, aber es fehlen die Kontrollgruppen. So ist es häufig schwierig, die verursachenden und die abhängigen Faktoren zu identifizieren. Viele meinen, die Globalisierung sei an allem schuld, das heißt die grenzüberschreitende Ausweitung der Konkurrenz von Waren, Dienstleistungen und Arbeitsmärkten trage die Hauptverantwortung für die sich verschärfende soziale Ungleichheit in Deutschland.

Wobei sich bei der Globalisierungs-Diagnose noch einmal zwei Gruppen unterscheiden lassen: Die eine fordert protektionistische Reaktionen. Die andere sieht in der Globalisierung tendenziell Vorteile für alle. Ihr zufolge besteht das deutsche Hauptproblem in zu hohen Löhnen der Arbeitnehmer. Tatsächlich bietet die Globalisierung der deutschen Wirtschaft und den deutschen Konsumenten große Vorteile. Und der internationale Vergleich zeigt, dass andere Länder unter denselben Globalisierungsbedingungen weit erfolgreicher Probleme der Arbeitslosigkeit bekämpfen konnten. Es muss also Handlungsspielräume geben. Dabei sind weder eine Rückkehr zu protektionistischen Zöllen noch ein Einstieg Deutschlands in die weltweite Niedriglohnkonkurrenz Erfolg versprechende Strategien.

Andere geben die Schuld der mangelnden Förderung einer seit Jahren schwächelnden Binnennachfrage. Demzufolge bestehe das Problem in einer zu lang andauernden und zu weitgehenden Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmer und einer verfehlten "angebotsorientierten" Wirtschaftspolitik, die davon ausgehe, dass sich Steuern- und Abgabenentlastungen großer Konzerne und Unternehmen sowie hoher Einkommen automatisch in Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze schaffende Investitionen übersetze. Dass die Binnennachfrage offenbar tatsächlich eine gewisse Rolle spielt, ist an dem derzeitigen Konjunkturaufbruch abzulesen.

Jedoch würde eine rein an Kaufkraftsteigerungen orientierte Politik in einer offenen, global verflochtenen Wirtschaft daran scheitern, dass dadurch auch Produkte aus dem Ausland vermehrt nachgefragt würden und der deutschen Wirtschaft nur dann geholfen wäre, wenn sie gleichzeitig international konkurrenzfähig bliebe beziehungsweise würde. So erscheint es wenig hilfreich, diese Positionen einfach gegeneinander auszuspielen.


Eine weitere Vernachlässigung des Bildungssektors wird dramatische Folgen haben

Das bescheidene, aber dennoch vorhandene Wirtschaftswachstum Deutschlands beruhte zuletzt nicht auf einer Ausweitung des Arbeitsmarktes im Niedriglohnsektor, sondern vielmehr auf (exportorientierten) Steigerungen der Produktivität. Andernfalls hätten die Arbeitslosigkeit viel stärker steigen oder die Reallöhne viel stärker sinken müssen. Produktivitätssteigerungen bedeuten jedoch, dass immer mehr Waren und Dienstleistungen mit immer weniger arbeitenden Menschen hergestellt werden können.

Diese konkurrenzgetriebene Rationalisierungsdynamik, die längst auch den tertiären Sektor erfasst hat, erschöpft sich jedoch nicht nur in einer tendenziellen "Verüberflüssigung" vieler Arbeitskräfte, sie verändert auch das Anforderungsprofil auf dem Arbeitsmarkt. Berufe mit immer höheren Qualifikationsanforderungen konkurrieren mittlerweile nahezu weltweit um die besten Köpfe, die damit immer höhere Einkommen erzielen können, während immer mehr Menschen um die (jedenfalls hierzulande) weniger werdenden Arbeitsplätze mit relativ niedrigem Qualifikationsprofil konkurrieren, deren Entlohnung damit tendenziell sinkt.

Eine deutliche, massenhafte Anhebung des Bildungsniveaus in Deutschland von kostenlosen Kindergärten über obligatorische Vorschulen bis hin zur Verbesserung der Hochschulbildung und des Zugangs zu ihr wird somit zwar sicher keine Wunder bewirken und für die öffentliche Hand alles andere als billig werden. Ebenso sicher wird aber eine weitere Vernachlässigung des Bildungssektors in Zukunft dramatische Folgen haben. Über die von vielen Hoffnungen begleitete Elitenförderung darf nicht vergessen werden, dass Bildung für alle verbessert und zum Teil überhaupt erst ermöglicht werden muss.


Profitmaximierung als oberste Devise

Im Hinblick auf rasch wechselnde Qualifikationsanforderungen müssten in Schulen und Universitäten Schlüsselqualifikationen stärker in den Vordergrund gerückt werden, zu denen neben Sprach- und Lesekompetenzen, grundlegenden mathematischen Fähigkeiten sicherlich auch Autonomie sowie Urteils- und Lernfähigkeit, soziale und politische Kompetenzen zählen.

Auch die relativ starke Abgabenbelastung der Lohnarbeit in Deutschland wirkt doppelt restriktiv, indem Hochqualifizierten die Nettoverdienstmöglichkeiten oftmals zu gering erscheinen und sie deshalb - mitunter samt Arbeitsplatz - abwandern, und indem Geringqualifizierte trotz Vollzeitbeschäftigung kaum existenzsichernde Nettolöhne erhalten oder erst gar nicht beschäftigt werden.

Die Finanzierung sozialer Sicherungssysteme, die bisher noch hauptsächlich über lohnbezogene Abgaben geleistet wird, muss stärker ins Steuersystem verlagert werden, weil dadurch der Faktor Arbeit entlastet würde und auch andere Einkommensarten stärker zum sozialen Ausgleich herangezogen würden. Wenn zugleich lohnbezogene Abgaben gesenkt werden, dürfen auch Steuererhöhungen zum Ausgleich der dadurch entstehenden Einkommensverluste des Staates kein Tabu mehr sein.

Allerdings wird man auch davon keine vollständige Lösung der Arbeitsmarktprobleme erwarten können, sondern allenfalls deren Abschwächung. Zusätzlich müssen kreativ neue Bereiche erschlossen und entsprechend günstige Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit dort neue Arbeitsplätze entstehen, etwa in den Bereichen alternativen und effizienterer Energieversorgung und personennaher Dienstleistungen.

Dass sich der Staat zunehmend schwer damit tut, seine Ausgaben, die inzwischen zu einem sehr hohen Anteil in das Sozialbudget fließen, überhaupt noch zu finanzieren, hängt mit Veränderungen auf den weltweiten Kapitalmärkten zusammen. Mit dem auch in Deutschland seit 1990 verstärkten Übergang zur Unternehmensfinanzierung über börsengehandelte Aktien haben die Eigentümerstrukturen und ihre Orientierungen einen deutlichen Wandel erfahren. Besonderen Anteil hieran haben Investment-Fonds, deren Vermögen gemessen als Anteil am Brutto-Sozialprodukt in Deutschland zwischen 1990 und 2000 von 34 Prozent auf 80 Prozent gewachsen ist (in den USA von 127 Prozent auf 195 Prozent).

Als Verwalter von Betriebsrenten und Pensionen, aber auch von privaten Einlagen konkurrieren sie miteinander um möglichst hohe Renditen, die sie durch weltweite und gegebenenfalls rasch wechselnde Kapitalanlagen zu erzielen versuchen. Bedeutsam sind für sie nicht allein die Dividenden, sondern oft die Aktienwerte als solche. Da Aktien anders als Waren der Realökonomie ihre Bewertung (ihren Preis) nicht post festum im Austausch am Markt erhalten, sondern vor allem Erwartungen an die zukünftige Profitabilität des jeweiligen Unternehmens in sie eingehen, stellt Profitmaximierung ihre oberste Devise dar.

Diese Devise geben sie über Druckmittel wie "exit" (Abzug des Kapitals) und "voice" (Mitsprache auf Aktionärsversammlungen) an die von ihnen miterworbenen oder anvisierten Unternehmen weiter. Das wirkt sehr "disziplinierend" bei Managern, aber auch bei Politikern, die in diesem Segment daher eine eher zurückhaltende Steuer- und Abgabenpolitik betreiben. Da die Abwälzung von Kosten für Infrastruktur, Vertragssicherheit, Gemeinwohl etc. sowie auch die Mitnahme von Subventionen aus Sicht einzelner Unternehmen effektive Mittel der Profitsteigerung darstellen, kann sich hieraus eine problematische Abwärtsspirale für den Staat insgesamt ergeben, die die Schwächsten am härtesten trifft. Um dieser entgegenzusteuern, bedarf es zumindest einer internationalen Harmonisierung der Steuergesetzgebung, die ja auf EU-Ebene immerhin schon in der Diskussion ist. Eine weitere Fortsetzung des Steuersenkungswettlaufs wird sich längerfristig als ruinös für jeden Staat erweisen.

Auch wenn man manche Ängste vor sozialem Abstieg und die verbreitete moralische Empörung über einen "Heuschrecken"-Kapitalismus für irrational halten mag, so haben solche Einstellungen doch erhebliche soziale und politische Effekte. Mit ihnen dürfte zusammenhängen, dass sich Menschen als "abgehängt" erleben und soziale Aufstiegshoffnungen fahren lassen. Eine der wichtigsten Aufgaben der Politik ist deshalb darin zu sehen, durch eine entschlossene, kontinuierliche, zukunftsorientierte, nach klaren Zielen ausgerichtete Reformpolitik möglichst schnell Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt und anderen Reformfeldern (Bildung, Gesundheit etc.) zu erzielen und damit verloren gegangenes Vertrauen wieder herzustellen. Das genau war die Hoffnung, die viele Menschen mit der Großen Koalition verbunden haben. Trotz der inzwischen eingetretenen Ernüchterung sollte man jedoch die Erwartung nicht aufgeben, dass Vernunft auch in der Politik eine Chance hat.


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Michael Fischer (geb. 1975) ist seit Anfang 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover. Er promoviert im Fach Soziologie an der Universität Hannover über Wandlungen normativer Aspekte von Selbst- und Weltbildern im Rahmen der transatlantischen Beziehungen seit 1989.

Der Sozialethiker Gerhard Kruip (geb. 1957) ist seit Juni 2000 Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover; seit August dieses Jahres ist er zusätzlich Professor für christliche Anthropologie und Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
60. Jahrgang, Heft 12, Dezember 2006, S. 613-617
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2007