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GESELLSCHAFT/190: Migration - Partizipation durch Selbstorganisation (Frauensolidarität)


Frauensolidarität - Nr. 103, 1/08

Paradoxe Intervention in Dominanzverhältnisse?
Partizipation durch Selbstorganisation

Von Patricia Latorre Pallares und Olga Zitzelsberger


Zur Normalität jedes Einwanderungsprozesses gehört die Bildung von MigrantInnen-Communities und ihrer Selbstorganisationen. Im Kontext der aktuellen Diskussion um die "Integration" von MigrantInnen in der Einwanderungsgesellschaft bzw. deren Ausschluss aus den zentralen gesellschaftlichen Bereichen wie Bildung und Arbeit ist daher genauer zu fragen, welchen Beitrag Selbstorganisationen von MigrantInnen - insbesondere jene von Frauen - zu einer gleichberechtigten gesellschaftlichen Partizipation und zur Überwindung struktureller Benachteiligung leisten können.


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Migrantinnen-Communities sind - auch wenn sie von der Mehrheitsgesellschaft meist als homogene Einheiten wahrgenommen werden - heterogen und differenzieren sich sowohl nach Migrationsursache, Herkunft, Schicht, Glauben und Generation als auch in ihren Selbstdefinitionen und Aktivitätsschwerpunkten. Trotz dieser Unterschiedlichkeit übernehmen sie alle Kommunikations-, Informations-, Orientierungs-, Beratungs- und Schutzfunktionen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Die Bedeutung von migrantischen Selbstorganisationen (MSOs) liegt in ihrer Multifunktionalität, denn sie unterstützen neu Eingewanderte ebenso wie bereits länger Eingewanderte, indem sie die mit dem Prozess der Einwanderung verbundenen Schwierigkeiten bewältigen helfen und damit den Anpassungsdruck vermindern. Darüber hinaus artikulieren und vertreten sie die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Sie sind Anlaufstelle für diejenigen, die Exklusionsmechanismen und Diskriminierungen ausgesetzt sind.

Obwohl diese Selbstorganisationen zum Teil seit Jahrzehnten aktiv sind, wurden von staatlicher Seite die Wohlfahrtsverbände mit der Beratung und "Integration" von MigrantInnen beauftragt. Diese Parallelstruktur wird inzwischen zum Teil massiv kritisiert. Den Wohlfahrtsverbänden wird vorgeworfen, dass sie ein Beratungsmonopol für Menschen mit Migrationshintergrund innehaben und die MigrantInnen als entmündigte KlientInnen kategorisieren. MigrantInnen selbst haben wenig Partizipations- und Aufstiegschancen innerhalb der Wohlfahrtsverbände, auch werden sie durch die "HelferInnen" fürsorgerisch vereinnahmt und damit entmündigt. Die MSOs selbst sind immer noch häufig von staatlicher Unterstützung ausgeschlossen.


Selbstorganisationen von Migrantinnen

Die größte Gruppe der migrantischen Selbstorganisationen sind die Kulturvereine und -zentren: Hier sind zunächst die seit den 1960er Jahren bestehenden Vereine der ArbeitsmigrantInnen aus den ehemaligen Anwerbeländern und der VertragsarbeitnehmerInnen zu nennen. In den letzten Jahren nehmen indes Gründungen eigenständiger Frauengruppen und -vereine zu. Migrantinnen, die Dominanzstrukturen ausgesetzt sind, schaffen sich damit strukturelle Möglichkeiten zur Partizipation und Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen. Der Aufbau eigener Fraueneinrichtungen muss als Abgrenzung gegenüber den geschlechtlich gemischten MSOs ebenso wie gegenüber den Fraueneinrichtungen der Mehrheitsgesellschaft begriffen werden. Migrantinnen sehen ihre Belange in den Vereinen nicht ausreichend vertreten und "spalten" sich daher von den geschlechtlich-gemischten Vereinen ab. Die Rückwirkungen sind vielfältig, wie etwa die Aufweichung der Dominanzverhältnisse und der Geschlechterdichotomie sowohl in den eigenen Communities als auch in der Einwanderungsgesellschaft.


Dominanzverhältnisse durchbrechen

In der Migrationsforschung wird noch über die integrative bzw. segregative Wirkung von Selbstorganisationen gestritten. Ein kritischer Punkt hierbei besteht in der Konzentration auf die nationale Zugehörigkeit, wodurch andere, Exklusionsmechanismen begründende Dimensionen wie soziale Schicht und Gender überdeckt werden. Während der Aspekt der Schichtzugehörigkeit zumindest teilweise in Analysen von MigrantInnenvereinen berücksichtigt wird, findet der Gender-Aspekt bislang nahezu keinen Eingang. Durch die Setzung von "Geschlecht" als Auswahlkriterium für die Teilhabe an Gruppen werden Frauen Freiräume eröffnet, die es ihnen ermöglichen, ihre Themen, Interessen, Vorlieben und Strategien zuzulassen und einzufordern. Frauengruppen ermöglichen eine Selbstverortung innerhalb gesellschaftlicher Organisationsstrukturen ohne Rücksicht auf die Einbindung in geschlechtskonforme Rollenerwartungen und Ordnungssysteme. Daraus resultierten Ambitionen bezüglich gleichberechtigter Partizipation und Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen und Entfaltungsmöglichkeiten. Solange in der Gesellschaft Machtverhältnisse herrschen, in denen Geschlecht als Platzanweiser fungiert, erscheint es folgerichtig, einen Ort zu institutionalisieren, an dem diese Verhältnisse in ihrer Wirkmächtigkeit abgemildert sind. Frauengruppen und -vereine waren und sind ein solcher möglicher Ort. Hier können Frauen Selbstsicherheit entwickeln sowie ihre Unsicherheit und Angst im Umgang mit der Mehrheitsgesellschaft überwinden. Die durch Bildung und Gemeinschaft gewonnene Selbstsicherheit kann zur Auflösung der häuslichen Isolation, zur Überwindung von Exklusion, zum Zugang zu Ressourcen der Mehrheitsgesellschaft und insofern zum Durchbruch mehrheitsgesellschaftlicher Dominanzverhältnisse führen.


Kooperationen und Freiräume

Kooperationen mit den Institutionen der Mehrheitsgesellschaft sind nicht spannungsfrei. Viele Frauen mit Migrationshintergrund und insbesondere sozial benachteiligte Frauen blicken auf eine leidvolle Geschichte der Ausgrenzung und der paternalistischen Bevormundung sowohl von Frauen- als auch gemischten Institutionen der Mehrheitsgesellschaft.

Frauen-MSOs machen jetzt zum Teil Erfahrungen, die in den Frauenorganisationen der Mehrheitsgesellschaft ab den 1970er Jahren gemacht wurden. Hier könnte frau voneinander lernen, gleichwohl würde dies Selbstreflexionsprozesse der Frauenorganisationen der Mehrheitsgesellschaft bezüglich ihrer Dominanzkultur voraussetzen. Finden hier keine Öffnungsprozesse statt, finden wir in wenigen Jahren eine parallele Organisationsstruktur von Frauen-MSOs und Fraueninstitutionen der Mehrheitsgesellschaft vor. Strukturell spiegelt sich hier wider, was auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen geschieht. "Integration" setzt die Anerkennung der Zugewanderten als gleichberechtigte MitbürgerInnen mit berechtigten Ansprüchen und Bedürfnissen voraus.

Zahlreiche Fraueneinrichtungen der Mehrheitsgesellschaft können heute auf eine jahrzehntelange Geschichte zurückblicken. Jedoch fanden Migrantinnen keinen bzw. wenig Zugang zu diesen Einrichtungen. Ein Bezug zur Arbeits- und Lebenssituation von Frauen aus unteren sozialen Schichten sowie zu Migrantinnen wurde nicht bzw. unzureichend hergestellt. Migrantinnen bevorzugten daher lange Zeit die geschlechtlich-gemischten Vereinigungen der MigrantInnen-Communities.

Zögerlich und nur unzureichend wird die Separierung der Migrantinnen in die feministische Theoriebildung aufgenommen. Ethnie, Nationalität, Rassismus und Hautfarbe finden nur allmählich Aufnahme in die Differenzbestimmungen von Gender.


Kritischer Perspektivenwechsel

In Theorie und Konzeption interkultureller Pädagogik zeichnet sich ein Perspektivenwechsel ab, der den Kontext der Migration, die gesellschaftlichen Bedingungen von Integration und Desintegration in den Blick nimmt. Zu fragen ist nach der Beschaffenheit der Einwanderungsgesellschaft selbst, ihren Prämissen sowie ihren Integrations- und Ausgrenzungsstrategien. Wesentliche Voraussetzung ist hierfür, die hegemoniale Position der Mehrheitsgesellschaft zu problematisieren. Wir alle sind aufgefordert, unsere Vorstellungen von Zugehörigkeiten zu hinterfragen. Welchen Beitrag leisten die Institutionen der Mehrheitsgesellschaft, damit Migrantinnen und ihre Organisationen einen gleichberechtigten Zugang zu staatlichen Ressourcen erhalten? Es geht - in Anlehnung an Gender Mainstreaming - um ein "Mainstreaming der Migration": "heimisch werden" können und Anerkennung als gleichberechtigte MitbürgerInnen erlangen. Gesellschaftliche Ressourcen (Finanzen, Bildung, Versorgung) sind so zu verteilen, dass dem Faktum der Einwanderungsgesellschaft Rechnung getragen wird. Somit gilt die Notwendigkeit der Professionalisierung der Selbstorganisationen von Zugewanderten umso mehr, als die Migrantinnen gesellschaftlichen Exklusionsmechanismen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit und Geschlechtszuweisungen besonders ausgesetzt sind. Insofern stellen die Selbstorganisationen Versuche dar, diese Strukturen zu durchbrechen und Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen zu gewinnen sowie die Durchsetzung und die Artikulation "migrantinnenspezifischer" Interessen voranzutreiben.


Patricia Latorre Pallares ist Kulturwissenschafterin und Lehrbeauftragte an der JWG-Uni Frankfurt. Sie ist stellvertretende Leiterin des Interkulturellen Büros in Darmstadt und u.a. für den Schwerpunkt Vereinsförderung zuständig. Olga Zitzelsberger, Erziehungswissenschafterin und Soziologin, leitet das Praxislabor am Institut für Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik der TU Darmstadt.


Literaturtipps:

Iris Bednarz-Braun, Ulrike Heß-Meining: Migration, Ethnie und Geschlecht: Theorieansätze - Forschungsstand - Forschungsperspektiven (Wiesbaden 2004).
Mechthild Gomolla, Franz-Olaf Radtke: Institutionelle Diskriminierung: die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule (Opladen 2002).
Chantal Munsch, Marion Gemende, Steffi Weber-Unger Rotino: Eva ist emanzipiert, Mehmet ist ein Macho: Zuschreibung, Ausgrenzung, Lebensbewältigung und Handlungsansätze im Kontext von Migration und Geschlecht (Weinheim/München 2007).
Helma Lutz, Norbert Wenning (Hg.): Unterschiedlich verschieden Differenz in der Erziehungswissenschaft (Opladen/Wiesbaden 2001).

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 103, 1/2008, S. 6-7
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. April 2008