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GESELLSCHAFT/208: Das Generationen-Geheimnis - Netzwerk Familie (DJI)


DJI Bulletin 2/2009, Heft 86
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Das Generationen-Geheimnis
Netzwerk Familie

Von Walter Bien


Das Verhältnis zwischen Großeltern und Enkeln ist heute inniger als jemals zuvor, auch weil die Beziehungen zwischen Alt und Jung weniger durch äußere Zwänge belastet sind. Dennoch ist die moderne Mehr-Generationen-Familie auf institutionelle Unterstützung angewiesen.


Der Staat sorgt für ein immer dichter werdendes Netz aus Kindertageseinrichtungen und Ganztagsangeboten. Das ist angesichts veränderter Lebensverhältnisse wichtig, allerdings wäre es falsch, im Umkehrschluss zu behaupten, die Familie würde zerbrechen. Großeltern, Eltern und Kinder sind weiterhin füreinander da, auch wenn sie heute im Alltag mit anderen Bedingungen zurechtkommen müssen als frühere Generationen. Das belegen die Daten aus dem Familiensurvey des Deutschen Jugendinstituts (DJI), bei dem mehr als 10.000 Menschen zwischen 16 und 65 Jahren befragt wurden.

Wie die Ergebnisse des Familiensurveys zeigen, leben zu Beginn des 21. Jahrhunderts nur etwa fünf Prozent der Großeltern mit ihren Enkeln im gleichen Haushalt (siehe Grafik). Allerdings wachsen die Kinder häufig in unmittelbarer Nähe von Oma und Opa auf. Fast zwei Drittel der befragten Großeltern gaben an, im selben Haus, in der Nachbarschaft oder im selben Ort wie die Familien ihrer Nachkommen zu wohnen. Daneben gibt es aber auch viele ältere Menschen, die relativ weite Reisen auf sich nehmen müssen, wenn sie ihre Enkel sehen wollen: Nahezu 20 Prozent der Großeltern erreichen ihre Kindeskinder immerhin noch innerhalb einer Stunde. 17 Prozent müssen dafür jedoch eine Anreise von mehr als einer Stunde bewältigen.

In unserer heutigen Wohlstandsgesellschaft mit einer mehr oder weniger gesicherten Altersversorgung nimmt die Bedeutung des direkten »materiellen Transfers« zur Lebensabsicherung ab, wichtig bleibt aber eine finanzielle Unterstützung der jüngeren Generation durch Eltern und Großeltern. Da in den vergangenen Jahrzehnten gleichzeitig der Wohnraum zugenommen hat und das Bedürfnis nach einer individuellen Lebensführung gewachsen ist, überrascht es nicht, dass sich viele Familien auf mehrere Haushalte aufteilen. Auch die geforderte Mobilität im Arbeitsleben zwingt einige junge Familien, von den Großeltern wegzuziehen.

Die traditionelle und lokal gebundene Kernfamilie wird durch weiträumig verteilte Mehr-Generationen-Beziehungen abgelöst. Wegen der wachsenden räumlichen Distanz leidet die Intimität, mit der sich alte und junge Familienmitglieder begegnen, zunächst aber kaum. Erst wenn für den Besuch des Enkels eine Anreise von mehr als einer Stunde notwendig ist, werden die gelebten Beziehungen zwischen den Generationen nachweisbar eingeschränkt.


Bedingungsloses Miteinander in Notfällen

Wenn es Probleme gibt, entstehen diese meist zwischen Eltern und Kindern und nur selten zwischen Großeltern und Enkeln. Das liegt auch daran, dass Eltern-Kind-Beziehungen stärker durch wechselseitige Verpflichtungen belastet sind: Zum Beispiel ist es die Aufgabe der Mütter und Väter, ihren Nachwuchs zu erziehen und dabei klare Grenzen zu setzen. Das Kind wiederum muss diese anerkennen und danach handeln. Das birgt logischerweise Konfliktstoff. Großeltern können sich solchen Auseinandersetzungen leichter entziehen. Haben sie zudem die Möglichkeit, sich immer wieder in die eigene Wohnung zurückziehen, gelingt das umso besser.

Die Beziehung zwischen Alt und Jung muss also keineswegs darunter leiden, wenn Oma und Opa nicht im selben Haus leben - ganz im Gegenteil: Oft ist das Verhältnis dadurch sogar inniger, weil es weniger durch äußere Zwänge, wie zum Beispiel die Versorgung der Eltern im eigenen Haushalt, belastet ist. Die Formel für die neue Familienharmonie lautet damit »Intimität auf Distanz«. Wichtig ist dabei, jemanden zu haben, auf den man sich in potenziellen Notfällen verlassen kann, auch wenn dieser Ernstfall nur selten eintritt.

Weder Eltern-Kind- noch Großeltern-Kind-Beziehungen lassen sich aufheben, eine Scheidung oder Trennung wie bei Partnern oder Freunden ist hier nicht vorgesehen. Selbst wenn Eltern in Not geraten oder Kinder Probleme haben, wird - abgesehen von sehr wenigen Ausnahmen - geholfen. Auf dieser Sicherheit baut der wesentliche Zusammenhalt zwischen den Generationen auf.


Ein Beziehung auf Distanz 
 Großeltern müssen manchmal weit reisen, um ihre minderjährigen Enkel zu sehen


Die Verteilung der Wohnorte
         in Prozent
Im selben Haushalt
5            
Im selben Haus
10            
In der Nachbarschaft
28            
Im selben Wohnort
21            
Wohnort weniger als eine Stunde entfernt
19            
Wohnort mehr als eine Stunde entfernt
17            



Mehr Großeltern für immer weniger Enkel

Zu dem tendenziell entspannten Verhältnis zwischen Großeltern und Enkeln - insbesondere in der Mittel- und Oberschicht - trägt aber noch eine weitere Entwicklung unserer Gesellschaft bei. Die Drei-Generationen-Familie wird durch die steigende Lebenserwartung der Menschen nahezu zur Regel. Selbst Familien, in denen vier oder sogar fünf Generationen für eine gewisse Zeit aufeinander treffen, sind heute keine Seltenheit mehr. Kinder erleben dadurch neben Oma und Opa auch noch die Ur- und Ururgroßeltern. Außerdem können bei einer Trennung der Eltern Stiefgroßeltern hinzukommen. Die Zuwendung der Großeltern konzentriert sich umgekehrt auf immer weniger Enkel, da die Geburtenrate sinkt. Die alltäglichen Aufgaben, die Großeltern heute in jungen Familien übernehmen, verteilen sich damit auf mehrere Schultern.

Die Familie ist ein weit gespanntes Netzwerk geworden, das allerdings gesunde und einsatzbereite Mitglieder voraussetzt. Da es Lebenskonstellationen und Situationen gibt, in denen die Großfamilie von heute völlig überfordert ist, sind institutionell geförderte Begegnungen zwischen Generationen unverzichtbar, wie etwa in Mehrgenerationenhäusern oder bei Organisationen für Leih-Opas und -Omas. Gleichzeitig bieten solche Projekte kinderlosen älteren Menschen die Gelegenheit, sich in den Austausch mit anderen Generationen einzubringen.

Das wachsende Potenzial der älteren Menschen, die sich aktiv am familialen und gesellschaftlichen Zusammenleben beteiligen können und wollen, ist längst noch nicht ausgeschöpft. Die junge Bevölkerung wünscht sich offenbar durchaus einen engeren Kontakt: Zumindest stimmen fast 86 Prozent der Europäer im Alter zwischen 15 und 24 Jahren im neu erschienenen Eurobarometer der Europäischen Kommission »Intergenerational Solidarity - Analytical Report« zu, dass Initiativen, die die Beziehungen zwischen jungen und alten Menschen stärken, gefördert werden sollen.


DJI Familensurvey: Das Projekt »Wandel und Entwicklung familialer Lebensformen« ist das Herzstück der 1986 begonnenen umfragegestützten Familienforschung des Deutschen Jugendinstituts. Auftraggeber ist das Bundesfamilienministerium. Das DJI hat in wiederholten Befragungen von repräsentativen Personenstichproben in den alten und neuen Bundesländern Daten erhoben.

Kontakt: bien@dji.de


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Quelle:
DJI-Bulletin Nr. 2/2009, Heft 86, S. 12-13
Herausgeber:
Deutsches Jugendinstitut e.V. (DJI)
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Redaktion: Birgit Taffertshofer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2009