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GESELLSCHAFT/216: China - Das Handy ersetzt die fehlende Verbindung (TU berlin intern)


TU berlin intern 10/09
Die Hochschulzeitung der Technischen Universität Berlin

Das Handy ersetzt die fehlende Verbindung
Was das Mobiltelefon für die soziale Transformation in China bedeutet

Von Dr. Eva Sternfeld


Anfang 2009 schätzten Chinas Telefongesellschaften die Zahl der Mobilfunkverträge auf über 650 Millionen. Damit dürfte heute rein rechnerisch fast jeder zweite Mensch in China Zugang zu einem Mobiltelefon haben. Doch längst ist das Handy nicht mehr nur Statussymbol der Geschäftsleute in den großen Metropolen, sondern ein ebenso unentbehrliches Kommunikationsmittel für Menschen in den ländlichen Regionen des Landes. Welche sozialen Auswirkungen aber hat es, wenn Hunderte Millionen Landbewohner sich neue Möglichkeiten der digitalen Kommunikation erschließen?


Die Forschungsabteilung der Firma Nokia initiierte gemeinsam mit der Tsinghua-Universität in Peking ein Forschungsvorhaben über "Chinesische Bauern und digitale Kommunikationstechnologie", das von der Soziologie-Professorin Guo Yuhua geleitet wird. Die ersten Ergebnisse wurden kürzlich auf dem von der China-Arbeitsstelle der TU Berlin veranstalteten Workshop "Doing Social Anthropology with Folklore" im Juli 2009 in Berlin vorgestellt.

Für die Forschungsgruppe der Tsinghua-Universität würde es zu kurz greifen, die ländlichen Einwohner unter einem Oberbegriff "Bauern" (nongmin) zu fassen. Die ökonomische Transformation hat im ländlichen China sehr unterschiedliche Dorf- und Siedlungstypen hervorgebracht: jene, die noch überwiegend von traditioneller Landwirtschaft leben, aber auch solche, die bereits von der Industrialisierung erfasst wurden und eine besondere Form, nämlich "Dörfer in der Stadt" (cheng zhong cun) hervorgebracht haben. Das sind Siedlungen, die ihren ländlichen Charakter in den rasch wachsenden urbanen Zentren bewahrt haben und in denen viele Wanderarbeiter aus ländlichen Regionen eine vorübergehende Heimat finden. Sehr eindrücklich beschreibt die Untersuchung, wie das jeweilige soziale und ökonomische Umfeld sowie der Status der Nutzer den Bedarf und die Routine bei der Nutzung von Kommunikationstechnologien bestimmen. So ist zum Beispiel für die Millionen Wanderarbeiter das Mobiltelefon inzwischen unentbehrlich und dabei weit mehr als ein einfaches Kommunikationsmittel, mit dem Kontakt zur Verwandtschaft in den Heimatdörfern gehalten werden kann. Auch bei geringem Einkommen leisten sie sich fast jährlich ein neues multifunktionales Modell. Das teure Gerät wird zum Ausdruck der Sehnsucht der entwurzelten Wanderarbeiter, ein städtisches Leben zu führen, und bietet zumindest die Illusion eines sozialen und mentalen Halts. Das Telefon, individualisiert mit dem Foto der Liebsten, des Kindes oder auch eines Fotomodels auf dem Display, ist ein treuer Begleiter in einer fremden, oft feindseligen Umgebung.

Wie die Untersuchungen zeigen, werden die Kommunikations- und Informationstechnologien mittlerweile von allen sozialen Gruppen und Schichten genutzt. Der Zugang zu den Technologien allein trägt jedoch noch nicht zur Aufweichung der sozialen Ungleichheiten bei.

Dr. Eva Sternfeld, Sinologin und Leiterin der China-Arbeitsstelle der TU Berlin


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Quelle:
TU Berlin intern Nr. 10/09 - Oktober 2009, Seite 12
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. November 2009