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GESELLSCHAFT/220: Krise patriarchaler Strukturen in der Zivilgesellschaft (Sozialismus)


Sozialismus Heft 5/2010

Krise patriarchaler Strukturen in der Zivilgesellschaft
Familiengeheimnisse in Kirche und Schule lüften

Von Christoph Lieber


Die große Weltwirtschaftskrise geht in den meisten kapitalistischen Metropolen mit tiefgreifenden Erosionsprozessen des politischen Feldes, demokratischer Repräsentationsstrukturen und zivilgesellschaftlicher Institutionen einher. In diesen Ländern ist in weiten Teilen der Bevölkerung das Vertrauen in die Gestaltungsfähigkeit von Politik und auch gegenüber den Akteuren der politischen Klasse und Parteien zerstört und geraten die gesellschaftlichen Eliten auch etlicher zivilgesellschaftlicher Organisationen wie Diakonie, NGOs oder private Träger im sozial-kulturellen Bereich von Bildung und Gesundheit wegen neoliberaler Wirtschaftsnähe, Lobbyismus und Intransparenz unter erheblichen Legitimationsdruck. Die herkömmlichen Mechanismen »stillschweigender« Legitimationsbeschaffung in Form des Einheitsdenkens »There is no Alternative« greifen nicht mehr, was nicht heißt, dass der gesellschaftliche Krisenprozess sogleich zu manifestem sozialem Protest führt. Aber die von der Demoskopie diagnostizierte »wutgetränkte Apathie« der BürgerInnen bedeutet auch nicht einfach Friedhofsruhe.


Kein Schweigen der Lämmer

Vielmehr hat die durch den Aufstieg des Neoliberalismus und erst recht durch sein Scheitern beförderte Krise der politischen Repräsentanz eine durchaus aktivierende Kehrseite: Zum einen erleben wir das Wiedererstarken der Selbstrepräsentanz des in den letzten Jahren politisch enteigneten Citoyen. Die verschiedenen Artikulationsformen, in denen dies zu beobachten ist, reichen von bürgerschaftlichem Engagement »von unten« auf der Ebene von Gemeinden und Kommunen, über Initiativen für Volksentscheide pro oder contra, mit zum Teil auch populistischem, elitärem und sozialem Selektionscharakter,(1) bis hin zu Versuchen der Neuformierung gesellschaftlicher Alternativen auf Seiten der politischen Linken.

Zum anderen entwickelt sich eine neue Qualität der Moralisierung der politischen und zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit. Gerade unter dem drohenden Zerfall politischer Kultur wächst die Sensibilität gegenüber der Glaubwürdigkeit der einzelnen Akteure aus den gesellschaftlichen Eliten - sowohl von der gesellschaftlichen Basis her als aber auch innerhalb der Eliten selber. Auf dem Weg einer zaghaften Wiederaneignung des Citoyenstatus sind die Mitglieder des Gemeinwesens nicht mehr ohne Weiteres zu »stillschweigender« Legitimationsbeschaffung für ihre »Vorgesetzten« bereit, sondern brechen verschiedentlich - oft im Wechselspiel mit einzelnen Vertretern aus Repräsentations- und Führungsfunktionen - bislang funktionierende Mechanismen von »Schweigespiralen« auf und bringen so auch ganze »Schweigekartelle« unter den Eliten zum Einsturz.

Das erleben wir gegenwärtig in Deutschland in zwei moralisch hochsensiblen Bereichen: in der Kirche und den Internaten. Das Öffentlich-Machen von Gewalt und sexuellem Missbrauch gegenüber Kindern und Jugendlichen nahm bezeichnenderweise seinen Ausgangspunkt nicht bei einem schwachen Glied der »Schweigekette«, sondern bei einem eher starken, in dem Autorität und Hierarchie bis in die Körpersprache hinein sowohl innerhalb der Täter wie gegenüber den Opfern am ausgeprägtesten waren und sind: Priesterseminare mit ihren Bischöfen. »Die deutschen Kirchen sind stark vermachtete und verfilzte Organisationen mit viel Pfründenwirtschaft zur Alimentierung von Funktionären, die gerne unter sich bleiben und miteinander in einem verquasten Stammesidiom kommunizieren, das für Außenstehende unverständlich bleibt - der ideale Nährboden für Schweigekartelle und Wagenburgmentalität.«(2) Kaskadenartig brachen diese Schweigekartelle in eher hierarchisch geprägten »totalen Institutionen« der katholischen Kirche vom Berliner Canisius-Kolleg über die Regensburger Domspatzen und die Internatsschule der Benediktinerabtei Ettal bis hinunter zu egalitäreren Einrichtungen der Reformpädagogik im Odenwald und dem altehrwürdigen Internat Birklehof im Schwarzwald zusammen. Letzteres beherbergte in den 1950er Jahren das Platon-Archiv seines Leiters und Bildungsbürgers Georg Picht, der dann in den 1960er Jahren in einer Artikelserie in »Christ und Welt« der jungen Republik ihre erste »Bildungskatastrophe« bescheinigen sollte.

Heute nun treibt das Bildungsbürgertum und die politische Klasse die panische Sorge um, dass die Kirchen abstürzen und die Internate als Stätten von Elitenreproduktion nachhaltig beschädigt sein könnten und somit gerade in Krisenzeiten keinen relevanten Beitrag zur Pflege der vorpolitischen, sozialmoralischen Grundlagen unseres Gemeinwesens mehr leisten.(3)

Dass die Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen nicht mehr schweigen und auch verantwortliche Amtsträger wie der Pater und Rektor des Berliner Canisius-Kollegs Klaus Mertens in die Öffentlichkeit gehen, hat zu einem Vorgang geführt, der in den Annalen der deutschen Bischofskonferenz einmalig ist: Walter Mixa, der als katholischer Bischof nicht einfach mit einem gewählten Politiker vergleichbar, sondern im eigentlichen Sinne seiner Gemeinde von Gott vermittels dessen Stellvertreter auf Erden »gegeben« ist, konnte von seinen Bischofskollegen Zollitsch und Marx gedrängt werden, seinen Amtsverzicht beim obersten Hirten einzureichen. Ein Faktor im lange funktionierenden Schweigekartell um Mixa war dabei sicherlich, dass es ihm zum Neid seiner Kollegen lange Zeit gelang, entgegen dem Trend rückläufiger Priesterseminarbesuche(4) immer wieder junge Männer für das Priesteramt zu motivieren. So viele Priesterberufungen wie Walter Mixa als Bischof von Eichstätt konnte niemand in Deutschland vorweisen.

Im zivilgesellschaftlichen Bereich der Internate und reformpädagogischer Anstalten haben in erster Linie die Opfer, ehemalige Schüler und Schülerinnen, das Schweigen durchbrochen. So wurde jüngst die 100-Jahr-Feier der Odenwaldschule als Podium erster Ansätze öffentlicher Diskussion und Aufarbeitung genutzt. Andererseits tun sich die Täter mit dem Gang in die Öffentlichkeit hier offensichtlich schwerer. Den Bildungsjournalisten und langjährigen Kommentator reformpädagogischer Diskussionen Reinhard Kahl wundert ihr Schweigen nicht, »außer dass es da nicht einen Aussteiger gab, der als Wiedergutmachung die Schweigemauer durchbrechen wollte. Aber nachhaltig irritierend ist das Schweigen der Päpste. Das jenes Papstes in Rom und auch das des deutschen Pädagogenpapstes Hartmut von Hentig.«(5)

Vertreter aus den bildungsbürgerlichen Eliten wie Hentig(6) oder sein Lebensgefährte Gerold Becker, in den 1970er und 1980er Jahren Leiter der Odenwaldschule, ergehen sich hier in Abwehr, Verdrängung, Idealisierung oder gar Übertragung der Beschämung auf die Nachfragenden. »Diese Abspaltungen im mentalen Betriebssystem zu erkennen, steht an. Das geht nicht ohne Selbstreflexion.«(7)


Familiengeheimnisse

Aber was ist aufzudecken? »Häufig handelt es sich um ein Geheimnis - das man wie manche Familiengeheimnisse gar nicht lüften möchte - oder eher noch um etwas Verdrängtes. Namentlich wenn es Mechanismen oder Praktiken betrifft, die dem demokratischen Credo allzu offen widersprechen«(8) - Pierre Bourdieu denkt hierbei bezeichnenderweise an gesellschaftliche Mechanismen in Schule und Kirche. Mit dem analytischen und tiefgründigen Topos des »Familien«-Geheimnisses sind wir beim gemeinsamen Dritten, das die Gewalt- und Missbrauchsfälle in kirchlichen Priesterseminaren und weltlichen Internaten innerlich verbindet: Die Opfer sind zugleich Kinder und Jugendliche aus Familien.

Und Familien sind in Deutschland nach wie vor die dominante Brutstätte körperlicher Misshandlung und sexueller Übergriffe, die einem Kind entweder direkt widerfahren oder die es als vorgelebte gewalttätige Beziehung seiner Eltern oder erwachsenen Bezugspersonen untereinander traumatisierend und prägend erlebt. Eltern haben oft auch ihren Anteil an der Aufrechterhaltung von Schweigekartellen durch Wegsehen und Desinteresse an Leiderfahrungen ihrer heranwachsenden Kinder in außerfamiliären Lebensphasen.(9)

Lange Zeit galten die »häusliche Gewalt« gegen Frauen und ihre subalterne Stellung in Familie und Gesellschaft als Indikator fortbestehender patriarchalischer Strukturen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Erste und zweite Frauenbewegung konnten im Verbund mit sozialstaatlichen Veränderungen im 20. Jahrhundert diese überkommenen Abhängigkeiten und männerdominierten Kulturen zurückdrängen. Aber die Marxsche These, dass die Zivilität der bürgerlichen Gesellschaft am Grad der Emanzipation des weiblichen Geschlechts abzulesen sei, muss heute auf den Bürgerstatus des Kindes ausgedehnt werden, dem neben körperlicher Gewalt und sexuellem Missbrauch in einer angeblich aufgeklärten Gesellschaft durch Armutskarrieren, Bildungsnotstand und berufliche Perspektivlosigkeit andere Formen von Gewalt, Beschämung und Entwürdigung angetan werden.

Das Züchtigungsrecht wurde in Deutschland erst vor knapp zehn Jahren abgeschafft, und die Neufassung des Paragraph 1631, Absatz 2 unseres Bürgerlichen Gesetzbuches nimmt die Erwachsenenwelt in die Pflicht: »Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig«.(10) Dies zeigt einmal mehr die Unegalität des bürgerlichen Fortschritts und das Auseinanderfallen und Hinterherhinken der Rechtsprechung gegenüber der sozialen Realität. Die reale Entwicklung wirkt hier beschleunigend, und das Öffentlichwerden der Missbrauchsfälle wird einen weiteren Verrechtlichungsschub für bestehende innerkirchliche Regelungen und auch im Verhältnis von Kirchenrecht, Strafrecht und staatlicher Strafverfolgung bewirken. Gerade die römisch-katholische Kirche und ihre Funktionsträger tun sich immer wieder schwer damit, den privilegierten Priesterstand weltlicher Gerichtsbarkeit zu unterstellen. Sie versuchen eher, die Mechanismen von kirchlich-priesterlichen Familiengeheimnissen aufrechtzuerhalten und so die entsprechenden Schweigespiralen weiterzudrehen.

»Noch in seinem Schreiben 'De delictis gravioribus' vom 18. Mai 2001 hat der damalige Präfekt der Glaubenskongregation Joseph Kardinal Ratzinger einige Unklarheit erzeugt, indem er, um der Vermeidung von weiteren Vertuschungsversuchen in den Ortskirchen vor allem Irlands willen, einerseits für Fälle des Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker eine strenge Meldepflicht bei der Glaubenskongregation als der kirchengerichtlich allein zuständigen römischen Behörde einführte, für solche Meldungen aber die strengste Verschwiegenheit, das sogenannte päpstliche Geheimnis, vorschrieb, also andererseits den Eindruck erzeugte, als solle und dürfe der meldende Ortsbischof ausschließlich nach Rom berichten, nicht aber die staatliche Justiz einschalten und damit seine Schweigepflicht brechen.«(11) Mittels staatlicher Rechtssprechung kann zwar der Bürger- und Citoyenstatus der Mitglieder eines bürgerlichen Gemeinwesens, im aktuellen Fall also das Kindeswohl gegenüber kirchlichen Amts- und Würdenträgern gestärkt werden, aber schon die Widersprüche und Halbheiten auf dem Weg zu mehr Geschlechtergerechtigkeit und geschlechterdemokratischer Kultur haben gezeigt, dass damit tiefsitzende patriarchalische Prägungen dieser Kultur noch nicht überwunden sind. Der Bourdieusche Untersuchungsauftrag fordert uns also auf, auch in dieser Frage des Kindeswohls im Kräftefeld von Familie, Kirche und Schule keiner »jakobinischen Illusion«(12) aufzusitzen, sondern die Familiengeheimnisse weiter zu lüften und noch tiefer zu schürfen.


Priester und Pädagogen als Charismatiker

Vornehmlich beim Priesteramt und teilweise noch beim Pädagogen handelt es sich um eine berufliche Tätigkeit, die sich im Arcanum hinter Klostermauern oder geschlossenen Türen eines Klassenzimmers abspielt. Im Unterschied zu den meisten bürgerlichen Berufen trägt die Ausführung dieses Amtes fast noch den Charakter eines »besondren Gewerkes (mystères), in deren Dunkel nur der empirisch und professionell Eingeweihte eindringen kann«.(13) Die Errettung der kindlichen Seele oder die geglückte Bildung des Jugendlichen fürs Leben - im Bereich von Internat und Schule mit dem Pendant einer erfolgreichen Disziplinierung eines ganzen Klassenverbandes - werden ganz der »Berufung« und »glücklichen« bzw. »starken Hand« des Priesters oder Erziehers zugeschrieben. Es wundert daher nicht, dass einer der wenigen analytischen sozialwissenschaftlichen Topoi, die in der Debatte um die Rolle katholischer Priester oder die Aura bestimmter Reformpädagogen die Runde machen, der des »Charisma« ist. Und indem nun insbesondere das Priesteramt - eine Basisinstitution der katholischen Kirche - und der Charakter des Amtsträgers - der Priester als Täter - auf den Marktplatz der bürgerlichen Öffentlichkeit gezerrt und in der öffentlichen Diskussion rechtlichen sowie berufsethischen und -professionellen Kriterien unterworfen werden, wird die Unhinterfragbarkeit der Aura und des Charismas des Priesteramtes gebrochen und ein Prozess in Gang gesetzt, den man mit Max Weber als »Veralltäglichung des Charismas« fassen kann. »Das priesterliche Charisma war nach strengen Regularien nicht zuletzt durch interne Bußmechanismen gesichert und außerhalb des kirchlichen Raums keinesfalls auch nur diskutierbar. Die katholische Kirche ist etwas Überindividuelles«.(14) Aber jetzt werden die Priester mit ihren Verfehlungen als gewöhnliche Menschen mit ihren Schwächen, Vorlieben, Begierden und polymorphen sexuellen Orientierungen verhandelt. Der Katholizismus wird damit an einer der empfindlichsten Stellen seiner Verknüpfung mit der bürgerlichen Gesellschaft getroffen: »Zurück bleibt eine Kirche, in der Priester wie zur Zeit der Reformation dem Generalverdacht ausgesetzt sind, unter dem Deckmantel ihres geistlichen Amtes allzu Weltliches zu treiben.«(15)

Auf diesem Wege gerät die priesterliche Berufs- und Lebensführung und damit der Zölibat in den Fokus der Auseinandersetzung, die ihrerseits prinzipieller wird. »Die einen Gläubigen wollen es konservativer, die andern fordern bereits das nächste Vatikanische Konzil«, so der Münchner Erzbischof Marx, der sich als Reformer gibt, was für ihn bedeutet: »Wir nehmen den Lebensstil Jesu ernst.«(16) Das will auch der Kardinal Lehmann. »Zweifellos haben wir auf die Spiritualität einer erneuerten Kirche, gerade wenn sie mehr Weltzuwendung wagt, zu wenig geachtet. Deshalb gibt es so viel Defizit und mangelnde Sensibilität, vor allem auch im Umfeld der Päderasten und ihrer Mitwisser. Hier ist die biblisch verstandene 'Welt' tief in die Kirche eingebrochen.«(17) Aber im Unterschied zu diesen Amts- und Würdenträgern spricht der jungkonservative Laienkatholik Martin Mosebach Klartext: »Für die katholische Kirche ist der Missbrauchsskandal der triste Höhepunkt der nachkonziliären Entwicklung; es ist die beschämendste Frucht jeder Ideologie des 'Aggiornamento', die die letzten vierzig Jahre prägte.« Jede Diskussion um Reform und Lebensstil des Priesteramts steht in der Gefahr, einem erneuten Einbruch der Welt und des Aggiornamento in die Kirche Tür und Tor zu öffnen. Doch »das katholische Priesteramt ist seinem Wesen nach eine zutiefst unbürgerliche Institution, die den bürgerlichen Werten Autonomie und Selbstverwirklichung scharf entgegengesetzt ist; aber diesen Gegensatz empfand nun nicht mehr nur die Gesellschaft, sondern auch der Klerus, der höhere vor allem, als unerträglich.«(18) Damit wird der Zölibat als un- oder vorbürgerliche Lebensform - denn das Leben Jesu ist für Mosebach keine »philologische Chimäre« - festgeschrieben.

Dagegen werden vom aufgeklärten und sozialpsychologisch informierten bürgerlichen Verstand zu Recht Einwände vorgebracht: »Die Inanspruchnahme des Zölibats für didaktische Zwecke ist heikel, weil sie sich von der Wirkung auf eine 'Welt' abhängig macht, die sich aber im Zweifel aus Unterscheidungen im Sexuellen nichts macht. Was, wenn der enthaltsame Leib auf Gott verweisen möchte - und keiner guckt hin? Dann hört das Zeichen auf zu sprechen und sieht sich seiner pädagogischen Begründung beraubt. Der Zölibat mag in vielen Fällen für eine erfüllte geistliche Berufung stehen. In anderen Fällen treibt er in den psychosexuellen Ruin. Warum ihn dann für jeden, der Priester werden will, verpflichtend machen?«(19) Geyer verweist in diesem Zusammenhang auf die Anforderungen einer persönlichkeitsorientierten Priesterausbildung, die zusätzlich zentrale unbewusste Abwehrmuster, Leibes- und Beziehungserfahrungen bearbeiten hilft.

Vergleichbare Anforderungen stellen sich auch angesichts der Entauratisierung reformpädagogischer Institutionen und ihrer Akteure. Auch hier gilt angesichts der Krise und Verstörung, sich der Reste von »Priesterideologien« und »pädagogischer Theologie« zu entledigen. »Sich von Lehrern und Vorbildern zu distanzieren, ist ein mitunter schmerzlicher Prozess, der allerdings in die Autonomie führt. Bisher mangelt es vielen Pädagogen augenscheinlich an eben dieser Eigenständigkeit des Denkens und Handelns, die sich - grimmige Ironie der Geschichte - die Reformpädagogen um von Hentig und Becker auf die Fahnen geschrieben hatten.

Das Versäumnis hat jedoch auch grundsätzlichen Charakter: Externe Kontrolle durch Supervision - in anderen Bereichen der Arbeit mit Abhängigen und Schutzbefohlenen eine Selbstverständlichkeit - ist an Schulen und Internaten kaum üblich. Allenfalls kommt die fachliche Begleitung durch Experten dann in Betracht, wenn das Problem bei den Schülern ausgemacht wird - nahezu nie bei den Lehrerkollegien und ihren menschlichen Schwächen und Belastungen. Die Arbeit mit Minderjährigen und Schutzbefohlenen führt jedoch zwangsläufig zu Verstrickungen in Einzel- und Gruppenkontexten, zu Konflikten und Fehlhaltungen.«(20)


»Die Errettung der modernen Seele«

Ist es nur eine Ironie der Geschichte - oder vielleicht doch eine List der Vernunft, dass im Schatten der Diskussionen um die Krise des Priesteramtes und eine fällige Aufarbeitung der blinden Flecken in der Geschichte der Reformpädagogik in Deutschland der 50. Jahrestag der Gründung des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts fällt? Nimmt man noch hinzu, dass am 14. April 2010 Alice Miller, ehemalige Psychoanalytikerin und Autorin des Bestsellers »Drama des begabten Kindes« (1979), gestorben ist, so muss verwundern, dass in der aktuellen Diskussion hierzulande der Stellenwert der Psychoanalyse oder auch Millers Bücher, deren zentrales Thema die Kindesmisshandlung ist, (noch) keine Rolle spielen. Dabei hat doch das Amalgam von Amtsautorität, Sexualität, Gewalt und Missbrauch dokumentiert, dass die Errettung der kindlichen Seele sowohl in der Kirche als auch in der Reformpädagogik nicht gut aufgehoben war. Woran hat das gelegen? Gerade für letztere dokumentiert einer ihrer Begründer eine irritierende Unbedarftheit in Sachen Psychoanalyse: »Ich bin nur ein Laie in der Freudschen Gegend.«(21) In der Tat findet sich in Hentigs monumentaler Autobiografie »Mein Leben - bedacht und bejaht« (2007) neben den Bezügen auf Golo Mann, Platon und Georg Picht so gut wie keiner auf Freud.

Und auch die Religion kann im Verlauf des 20. Jahrhunderts nicht mehr die »Errettung der modernen Subjektivität« durch Artikulation und Legitimation von Leid- wie Glückserfahrung beanspruchen. Schon Max Weber hat in seiner »Einleitung in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen« antizipiert: »Was aber die Wertung des Leidens in der religiösen Ethik betrifft, so ist diese unzweifelhaft einem typischen Wandel unterworfen ... Die Theodizee des Glücks ist in höchst massiven ('pharisäischen') Bedürfnissen der Menschen verankert und daher leicht verständlich, wenn auch in ihrer Wirkung oft nicht bedacht.«(22) Bedacht und neben der Leiderfahrung und -artikulation auch das Bedürfnis nach Glück aufzuheben versucht hat hingegen die moderne Psychoanalyse, die hierbei der Religion den Rang schon lange streitig macht. »Während die Erfahrung von Leid ein kulturelles System früher vor grundsätzliche Legitimationsprobleme stellte, hat sich das Leid in der zeitgenössischen therapeutischen Weltsicht in ein von Experten der Seele zu managendes Problem verwandelt.«(23)

Mit der »Entdeckung, Schöpfung und Befriedigung neuer aus der Gesellschaft selbst hervorgehender Bedürfnisse; [der] Kultur aller Eigenschaften des gesellschaftlichen Menschen und Produktion desselben als möglichst Bedürfnisreichen, weil Eigenschafts- und Beziehungsreichen - seine Produktion als möglichst totales und universelles Gesellschaftsprodukt - (denn um nach vielen Seiten hin zu genießen, muss er genussfähig, also zu einem hohen Grad kultiviert sein)«(24) - also mit der Zunahme sozial-kultureller und personenbezogener Dienste und Tätigkeiten in Bildung, Gesundheit und Kultur werden die vielfältigsten Formen und Arrangements von Klientenbeziehungen generiert werden - vergleichbar der priesterlichen Seelsorge oder pädagogischen Betreuung. Sollen sie frei von patriarchalen Strukturen, psychischen Abhängigkeiten, Übertragungen und Übergriffen sein, werden die Individuen nicht umhin kommen, ihre Selbstreflexion zu erhöhen - und das muss wiederum in Auseinandersetzung, Aneignung und gesellschaftlicher Institutionalisierung des emotionalen und therapeutischen Feldes geschehen.


Christoph Lieber ist Redakteur von Sozialismus.


Anmerkungen

(1) Vgl. z.B. den Kampf um die Schulreform in Hamburg (Klaus Bullan, Eltern & Kinder unter Druck? Sozialismus 3-2010, S. 5ff.).

(2) Friedrich Wilhelm Graf, Was wird aus den Kirchen?, FAZ, 1.4.2010.

(3) In diesem Zusammenhang gibt der Theologe und Religionssoziologe Graf zu bedenken: »Der Hinweis, dass auch andere Großorganisationen wie die Volksparteien oder die Gewerkschaften an Integrationskraft einbüßen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass von den Kirchen derzeit kaum noch geistliche Strahlkraft ausgeht. Es ist wie in der globalen Finanzkrise: Vertrauen ist in modernen Gesellschaften ein knappes Gut. Und Organisationen zur Kommunikation von Glaube und Gottvertrauen sind nun einmal besonders stark auf Glaubwürdigkeit angewiesen. Die Religionsexperten haben beim einst so starken niederländischen Katholizismus sehen können, wie schnell eine vermeintlich stabile, mächtige religiöse Großorganisation implodieren kann.« (a.a.O.)

(4) So wurden im letzten Jahr erstmals in Deutschland weniger als 100 Männer für die 27 Diözesen mit ihren derzeit noch ca. 25 Millionen Katholiken zu Priestern geweiht, vgl. FAS, 25.4.2010.

(5) Reinhard Kahl, Hartmut von Hentig muss reden, DIE ZEIT, 22.4.2010.

(6) Vgl. Hartmut von Hentig, »Was habe ich damit zu tun?«, DIE ZEIT, 25.3.2010.

(7) Kahl, a.a.O.

(8) Pierre Bourdieu, »Die Demokratie braucht Soziologie«. Störenfried Soziologie: Zur Demokratie gehört eine Forschung, die Ungerechtigkeiten aufdeckt, DIE ZEIT, 21.6.1996.

(9) Vgl. dazu den Bericht eines Odenwaldschülers, der wie etliche andere Absolventen dieses Internats einer Familie aus der kulturellen und politischen Elite hierzulande entstammt: Johannes von Dohnanyi, Die Kälte der Eltern, DIE ZEIT, 15.4.2010.

(10) BGB, 65. Aufl., München 2010, S. 367. Vgl. dazu auch Bruno Preisendörfer, Erzieherische Gewalt, Le Monde diplomatique, April 2010.

(11) Graf, a.a.O.

(12) Gerade im Erziehungs- und Familiensystem glauben viele Kritiker und Reformer, durch Erhöhung von Zugangsmöglichkeiten, Chancengleichheit und Gleichstellungspolitik emanzipatorische Entwicklungen zu befördern. Darin sieht Bourdieu aber eine »jakobinische Ideologie« am Werke. Denn man weiß, »dass der Schulerfolg stark von der sozialen Herkunft abhängt. Man kann daher durch einfache Deduktion erkennen, dass das Schulsystem zum Verewigen der gesellschaftlichen Ordnung in ihrer gegenwärtigen Gestalt tendiert.« Das gilt vergleichsweise auch für andere Kultur- und zivilgesellschaftliche Instanzen. Daher ist für Bourdieu »eine Bewusstwerdung der wirklichen Funktion des Bildungssystems die Bedingung einer wirklichen Veränderung dieses Systems, insofern die mystifizierte Vorstellung des Systems und der Funktion des Systems zur Erfüllung von dessen Funktion beitragen.« Pierre Bourdieu, Die jakobinische Ideologie, in: ders., Interventionen, Bd. 1: 1961-1980, Hamburg 2003, S. 65.

(13) Karl Marx, Das Kapital. Erster Band, MEW, Bd. 23, S. 510, Berlin 1969.

(14) Und Seibt fährt fort: »..., darin nicht unähnlich den Kommunistischen Parteien.« Gustav Seibt, Im Glauben gescheitert, SZ, 23.4.2010.

(15) Daniel Deckers, Auf verlorenem Posten gegen die eigene Vergangenheit, FAZ, 23.4.2010.

(16) »Wer nichts mehr ändern will, hat aufgehört zu leben«, Gespräch in der SZ, 23.4.2010.

(17) Karl Kardinal Lehmann, Kirche der Sünder, Kirche der Heiligen, FAZ, 1.4.2010.

(18) Martin Mosebach, Er ist ja nur der Papst, Die Welt, 18.4.2010.

(19) Christian Geyer, Mixa in Urlaub. Jetzt könnte das freie Reden über den Zölibat beginnen, FAZ, 23.4.2010.

(20) Micha Hilgers, Das belämmerte Schweigen, FR, 16.3.2010.

(21) Hentig, a.a.O.

(22) Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, Tübingen 1920, S. 241f.

(23) Eva Illouz, Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe, Frankfurt/M. 2009, S. 405.

(24) Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Rohentwurf 1857/58, Berlin 1953, S. 323.


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Quelle:
Sozialismus Heft 5/2010, Seite 10-14
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2010