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GESELLSCHAFT/237: Japan nach Fukushima - Irritation und Erschütterung (idw)


Goethe-Universität Frankfurt am Main - 08.07.2011

Nach Fukushima: Irritation und Erschütterung


Die Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 - Erdbeben, Tsunami-Welle und ein beschädigtes Kernkraftwerk - bedeutet eine zeitgeschichtliche Zäsur: "Japan danach ist vor allem ein irritiertes Land jenseits der ihm attestierten kollektiven Harmonie, schreibt die Frankfurter Japanologin Lisette Gebhardt in der neuesten Ausgabe des Wissenschaftsmagazins "Forschung Frankfurt" (2/2011). Sie untersucht in ihrem Beitrag, wie offizielle Stellen und Medien, aber auch Schriftsteller und Denker mit dieser fundamentalen Erschütterung umgehen.

"Während das Ausland gewissermaßen einem Japonismus der Katastrophe huldigte, indem es zunächst japanische Disziplin und Duldungsstärke angesichts des Desasters hervorhob, bleiben das inländische Echo auf den Versorgungsnotstand der direkt Betroffenen und die unklare Lage im havarierten Kraftwerk zwiespältig", so die Japanologin. Offizielle Organe verordnen sich strikten Optimismus und sprechen davon, dass Japan die Schäden reparieren und sich von dem Unglück erholen werde. So bedankte sich Ministerpräsident Naoto Kan am 27. April in der Welt für die Unterstützung aus Deutschland und meint, dass das Leben im Großraum der Metropole seinen gewohnten Gang gehe, mit Blick auf die gemessene Radioaktivität keinerlei Grund zur Besorgnis bestehe und man alle Kräfte mobilisiere, eine baldige Besserung der Lage zu erreichen. Die Psychiaterin und Publizistin Kayama Rika spricht in dem Magazin Aera angesichts der Beschwörung einer baldigen Erholung Japans - getragen von Floskeln wie "Japan, halt durch" (ganbare Nippon!), "Jetzt: Zeit, eins zu werden" (ima, hitotsu ni naru toki), - kritisch von einem "Wiederaufbau-Nationalismus" (fukkô nashonarizumu;). Diese müssen sich gegen all jene richten müsse, denen aufgrund ihrer anhaltend schlechten Situation nicht nach Zukunftseuphorie zumute ist.

Einige Schriftsteller und Intellektuelle sehen eine Chance in der Katastrophe; andere versuchen Lebensmut und Glücksgefühle zu vermitteln; wieder andere hoffen darauf, dass sich eine neue kritische Öffentlichkeit formiert. In internationalen Zeitungen sind einige japanische Schriftsteller und Denker zu hören, deren Argumente die nationalen Rede scheinbar wie ein Echo wiedergeben. Sie wollen die Katastrophe in Fukushima gleichsam als Wendepunkt nach den erfolglosen 1990er Jahren und der darauffolgenden Stagnationsphase im Zeichen von gesellschaftlichem Abstieg und Prekarisierung verstehen. So hält der bekannte Kulturphilosoph und Exeget der japanischen Subkultur, Azuma Hiroki, in der New York Times unter der Überschrift "For a Change, Proud to be Japanese" fest, die Katastrophe hätte eine zaudernde Regierung, die unter der Wirtschaftsflaute wehleidig jammernden Japaner und ihr zerfallendes Sozialgefüge mit einem Schlag verändert - nun würde man sich energisch den Schwierigkeiten stellen, eine neue Solidarität sei erstanden. Der Autor Murakami Ryû vertritt in der New York Times ebenfalls den paternalistischen "Ganbarismus" (abgeleitet vom Verb ganbaru), der das "Durchhalten" als höchsten Wert versteht. In seinen Überlegungen herrscht die Kritik an einer saturierten japanischen Konsumgesellschaft vor.

Yoshimoto Banana, Star der Literaturszene der 1980er Jahre, gibt sich als Schriftstellerin, die ihrem geschwächten Land Lebensmut und Glücksgefühle vermitteln möchte. Ganz nach staatstragender Prosa klingt es, wenn sie - im Spiegel Mitte März nachzulesen - in einen forciert munteren Optimismus verfällt und die Fähigkeiten der japanischen Ingenieure sowie die der japanischen Menschen lobt.

Wesentlich kritischere Töne schlägt der Altmeister der Kritik am Atomaren, ƒe Kenzaburô, an. Er möchte, wie er in der Le Monde sagt, die Dinge in einem "letzten Roman" aufarbeiten. Thema des Werks: Ein Blick auf das gegenwärtige Japan, der auf den Erfahrungen von Hiroshima und Nagasaki beruht, ebenso die Sicht atomarer Opfer im gesamtpazifischen Raum und der Verstrahlten von heute. Mit diesem Vorhaben könnte man den Nobelpreisträger, der in den westlichen Medien als das "Gewissen seines Landes" gilt, als den letzten Autor einer japanischen Anti-Atom-Bewegung bezeichnen. Angehörige der Generation, die den Einsatz atomarer Waffen im Zweiten Weltkrieg erfahren musste, zu denen auch der in Berlin lebende Hiroshima-Zeitzeuge Prof. em. Sotobayashi Hideto gehört, votieren eindringlich gegen Atomenergie. Er wies in seinem Vortrag an der Goethe-Universität im Mai darauf hin, dass ein besonders tragisches Moment der atomaren Verseuchung die gesellschaftliche Ächtung der Opfer (hibakusha) und eine subtile Verpflichtung zum Verleugnen sei. Ob sich in der "Post-Fukushima-Ära" eine starke japanische Anti-Atomkraft-Bewegung und eine neue kritische Öffentlichkeit formieren, bleibt abzuwarten. In der Zeit vom 5. Mai hofft der Philosoph Kenichi Mishima, der am 4. Juli zu Gast an der Goethe-Universität war, auf neues bürgerliches Engagement, befürchtet aber auch, dass sich gewisse Mechanismen von Obrigkeitshörigkeit, Bequemlichkeit und nationaler Sentimentalität nicht so schnell beseitigen lassen.

Weitere Informationen unter
http://www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de/2011/index.html

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution131


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Goethe-Universität Frankfurt am Main, Ulrike Jaspers, 08.07.2011
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2011