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GESELLSCHAFT/260: Die pragmatische Generation - Wertewandel und der neue Wertemix (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2012

Die pragmatische Generation
Wertewandel und der neue Wertemix

Von Johanna Kuchling



Ronald Inglehart hat den postmodernen Wertewandel mithilfe der Materialismus-Postmaterialismus-Dimension vorhergesagt und nachprüfbar gemacht. Konkurrenztheorien, die von der freien Kombination traditioneller und postmoderner Werte ausgehen, scheinen den heutigen Wertemix aber zunächst besser zu erklären - traditionelle Werte haben in der Krise Aufwind erhalten. Erlebt der Materialismus gar seine Renaissance? Oder wird vielmehr dem Individuum überlassen, was die Politik nicht auszugleichen schafft?


Sein und Bewusstsein

"Das Sein bestimmt das Bewusstsein", so sagte einst Karl Marx. Für die Ausbildung von Werten scheint dieser Satz seine Gültigkeit zu besitzen. Folgt man dem Forschungsansatz des amerikanischen Sozialwissenschaftlers und Werteforschers Ronald Inglehart, prägen die objektiven Lebensbedingungen, in denen wir leben, unsere Prioritäten, unser Sicherheitsgefühl und unsere Wahrnehmung. Werteprioritäten im Besonderen drücken generalisierte Vorstellungen von der Welt aus, Wünschenswertes, über bloße Meinungen und Einstellungen hinausgehende Zielvorstellungen, die handlungsleitend sind und sich in Normen einer Gesellschaft manifestieren. Die sozialstrukturelle Herkunft, oder was Marx als Klassenlage bezeichnet hätte, ist dabei weniger die für die Ausbildung von Werten bestimmende (zentrale) Lebensbedingung - zumindest sobald das Lebensniveau der ganzen Gesellschaft über einen bestimmten Wert gestiegen ist.

Womit wir schon mitten in Ingleharts Theorie wären, für den der Klassenantagonismus in dem Moment an Bedeutung verliert, da die ganze Gesellschaft insgesamt eine Besserung erfährt. Der komplexe Wandel vom modernen zum postmodernen Wertesystem sei anhand einer zentralen Dimension ablesbar: der Materialismus-Postmaterialismus-Achse. Werteprioritäten reflektieren das sozioökonomische Umfeld, in dem Menschen aufwachsen, da Menschen jeweils dem den größten Wert beimessen, woran sie Mangel erfahren - eine Annahme, die sich auf die Bedürfnispyramide von Abraham Maslow stützt. Eine Rolle spielt außerdem das vielleicht besser bekannte Prinzip des abnehmenden Grenznutzens wirtschaftlicher Entwicklung, angelehnt an das sogenannte 1. Gossensche Gesetz aus der Wirtschaftstheorie, nach dem nur bis zu einem bestimmten Niveau die Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens (das wirtschaftliche Niveau) und das Gefühl der Zufriedenheit miteinander einhergehen. Das daraus resultierende, als "Easterlin Paradox" bekannte Konzept aus der Glücksforschung ist so aktuell wie nie: In den meisten westlichen Industrieländern stagniert die Lebenszufriedenheit in den letzten Jahren nicht nur, sie sinkt sogar, obwohl der Konsum immer weiter ansteigt. Der Materialismus verliert damit an Bedeutung für die Ausprägung der Werte, die einer Gesellschaft wichtig sind, sobald er (bis zu einem bestimmten Niveau) befriedigt ist. Aufgrund der sozialen Lage allein lässt sich nicht mehr voraussagen, was jemandem wichtig ist. Vielmehr differenzieren sich die Prioritäten aus, die Werteachse liegt quer zum Schema der sozialen Schichten: Die Wertelandschaft wird heterogener.

Helmut Klages ist einer der größten Kritiker der Inglehart'schen Wertehierarchie. Der von ihm begründeten Speyerer Werteforschung liegen zwei gleichrangige Wertedimensionen zugrunde, aus denen Menschen Werte kombinieren und so verschiedene Wertetypen ausbilden würden. Neben den vorrangig traditionellen "Konventionalisten" und den postmodernen "Idealisten" an den entgegengesetzten Enden des Kontinuums hat er als Mischtypen die "Perspektivlos Resignierten", die "Hedonistischen Materialisten" und den von ihm favorisierten Prototyp, die "Aktiven Realisten", identifiziert. Letztere seien auf pragmatische Weise anpassungsfähig. Der Trend gehe also in Richtung einer Wertesynthese statt auf ein idealtypisches, postmaterialistisch orientiertes Individuum zu.


Pragmatische Generation

Auch die Shell-Jugendstudie fragt im Vier-Jahres-Turnus die Werte der 12-25-Jährigen ab und kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Schon seit 2002 rangieren neue Werte wie Unabhängigkeit, Eigenverantwortung, Gesundheitsbewusstsein sowie Freundschaft neben den traditionellen wie Fleiß und Ehrgeiz, Gesetz und Ordnung sowie Familie weit oben und haben stetig an Bedeutung zugenommen. Die pragmatische Generation strebt das persönliche Fortkommen an, fordert aber auch sozialmoralische Regeln für die ganze Gesellschaft ein. Vor allem die Familie, sowohl die eigene, noch zu gründende, als auch die Herkunftsfamilie nehmen an Bedeutung zu. Als emotionaler Rückhalt müssen sie ausgleichen, was in der Gesellschaft offenbar als Mangel erfahren wird: Solidarität, Sicherheit, Liebe und Akzeptanz. Für Klages ist der überproportional hohe Anteil seiner Realisten in der Gesellschaft ein gutes Zeichen, weil es zeige, dass die Menschen Verantwortlichkeit stärker auf ihrer Seite sähen und dass sie sich an den gesellschaftlich-ökonomischen Wandel anpassen könnten. Dabei seien sie in der Lage, flexibel alte Werte "umzuwerten" und auf die veränderten Bedingungen anzuwenden; sie kommen in der Gesellschaft voran und leiden nicht an ihr.

Ist es aber in der Tat eine begrüßenswerte Entwicklung, dass die Pragmatischen die Erfolgreichen sind und dass Junge verstärkt Schutz in der Familie suchen, während gleichzeitig Zeitdiagnosen von zunehmender sozialer Kälte und "Ellenbogengesellschaft" sprechen? Bestätigen diese Entwicklungen nicht vielmehr die von Ulrich Beck aufgestellte Individualisierungsthese, nach der die fortschreitende Individualisierung der Gesellschaft die Menschen aus ihren sozialstrukturellen Zusammenhängen herausgelöst habe, so dass sie die Verantwortung für Erfolg und Scheitern nur noch bei sich selbst anstatt im System suchten?

Die Beck'schen Thesen bestätigen die Inglehart'sche These der Selbstverständlichkeit materiellen Wohlstands bis zu dem Grad, da sich die unteren Schichten nicht mehr in ihrem Antagonismus zu höheren Schichten begreifen, weil es ihnen absolut gesehen besser geht als zu industriellen oder vorindustriellen Zeiten - nur relativ gesehen sind die Relationen zwischen den Schichten noch immer die gleichen, wie sie es zu besten Zeiten der Klassengesellschaft waren.

Wir befinden uns also längst in der postmateriellen Wertegesellschaft, wobei der Begriff keine Ablehnung oder gar einen Abschied vom Materialismus andeuten soll, sondern im Gegenteil, die Bedingung materieller Grundlage betont und die Möglichkeit des Darüberhinausgehens beschreibt - so wie Postmoderne auch nicht das Ende der Moderne bedeutet, sondern ihre konsequente Weiterentwicklung, ihr Abschiednehmen vom Glauben an absolute Wahrheiten und große Erzählungen, die nun immer durch Gegenerzählungen und alternative Standpunkte gebrochen sind.

Die Formel vom Postmaterialismus bedeutet nicht, dass wir automatisch mehrheitlich die idealtypischen Postmaterialisten vorfinden, sondern dass es viele Mischformen gibt, in denen traditionelle Werte mit neuen Werten verknüpft werden. Uneinig sind sich die Ansätze dabei, ob dies als Übergangsphase oder bereits als Zielrichtung begriffen werden muss. Inglehart würde von einer Zwischenphase ausgehen, zumindest solange man von einer Stabilisierung des gesellschaftlichen Wohlstandes in westlichen Industrieländern ausgehen kann. Die meisten Wertestudien setzen bei den Klages'schen Wertesynthesen an und sehen diese bereits als den Wertewandel an, der keine davon wegführende Zielrichtung habe.


Der Milieuansatz

So auch Milieustudien. Postmaterielle Werte existieren bereits neben konsumorientierten, Besitz und Macht anstrebenden Präferenzen. Auch in Zukunft werden materielle Werte durch die Krise wohl weiterhin Konjunktur haben, so prognostiziert es Jörg Ueltzhöffer, Geschäftsführer und Mitbegründer des Mannheimer SIGMA-Instituts für internationale Marktforschung und Beratung. Diese materiellen Präferenzen würden die postmateriellen Werte aber keinesfalls ersetzen, sondern sie ergänzen. Der Trend geht zum Wertemix. Die Perspektive ist hier jedoch eine, in der materielle Präferenzen in Reaktion auf eine aktuelle Krisensituation zu postmateriellen Werten dazukommen, statt umgekehrt - ein Befund, der den Inglehart'schen Annahmen nicht widerspricht.

Versucht man eine Identifizierung politischer Milieus, die das Wahlverhalten und die Erwartung der Wähler erklären kann, wie die politische Milieustudie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgehend von den Heidelberger Sinus-Milieus 2006, löst man sich zunächst von der sozialstrukturellen Verortung und fragt verschiedene Wertekonflikte ab, um die spezifischen Konstellationen zu finden, die dann sozialstrukturell zurückgebunden werden können und mit konkreten Einstellungen korrespondieren. Die Funde zeigen, warum es für die großen Volksparteien immer schwieriger wird, eine breite Basis aufrecht zu erhalten. Eindeutig ist nicht nur eine gespaltene Oberschicht in "Leistungsindividualisten" und "Etablierte Leistungsträger" mit einer ausgeprägten marktkonformen und libertären Ausrichtung auf der einen und die "Kritischen Bildungseliten" und das "Engagierte Bürgertum" mit einer zwar liberalen, aber sozialen, staatsinterventionistischen Überzeugung auf der anderen Seite. Auch die Mittelschicht ist tief gespalten in die "Zufriedenen Aufsteiger", die sich von ihrer Wertebasis genau zwischen die geteilte Oberschicht einordnen, und die "Bedrohte Arbeitnehmermitte", deren Werte konservativ neben dem traditionellen Milieu der Unterschicht zwar eine soziale, aber auch ethnozentrische Färbung aufweisen. Die Konstellationen sind komplizierter, als für Inglehart zu erfassen wäre, denn eine Präferenz für soziale Gerechtigkeit kann sowohl aus einem zutiefst materiellen Impuls erfolgen als auch aus der altruistischen, postmodernen Perspektive, die das Gemeinwohl favorisiert und eine gemeinsame Basis für mehr bürgerschaftliches Engagement fordert.

Die SPD rekrutiert ihre Wählerschaft nun zumeist aus den Milieus, die eine Wertesynthese entweder auf hohem Niveau des "Engagierten Bürgertums" oder auf etwas niedrigerem Niveau der "Bedrohten Arbeitnehmermitte" vollziehen, bzw. aus dem Milieu der "Zufriedenen Aufsteiger", denen ein eindeutiges Werteprofil fehlt, deren Präferenz allerdings bei der CDU/CSU liegt. Auch in den anderen Milieus werden der SPD Wähler durch andere Parteien, die spezifische Wählermilieus ansprechen, besonders streitig gemacht, wie durch die Grünen etwa das neue Bürgertum. Die vermeintliche Arbeiterschicht, die sich in verschiedene Milieus aufspaltet, fühlt sich eben auch von den Linken (damals PDS), der wertkonservativen CDU oder gar den rechten Parteien angesprochen. Wie Strategien entwickelt werden können, um eine breite Basis der Gesellschaft auch jenseits des Links-Rechts-Schemas zu erreichen, muss die Wertedebatte der SPD unter Beteiligung vor allem der Wählerbasis ergeben.

Alle Studien zeigen jedoch, dass Unsicherheit längst wieder zu einer Grundbedingung unserer Existenz geworden ist - obwohl wir sie auf einem höheren Niveau erfahren, als unsere Großeltern. Sie ist deshalb nicht minder besorgniserregend. In Spanien, Griechenland, Italien haben sich diese Entwicklungen durch die wirtschaftliche Krise zugespitzt und zeigen noch deutlicher, was zum Beispiel die Familie im Unterschied zu ihrem bürgerlich-normativen Lebensentwurf heute (wieder) ist: eine Solidargemeinschaft, die einsteht für den Einzelnen. Der globale Trend hingegen geht bereits eher von der traditionellen Lebensweise, wie z.B. der Heirat als Bedingung für ein Zusammenleben, weg zu "posttraditionellen" Lebensentwürfen, sogar in Asien - Patchwork-Familien, homosexuelle Lebenspartnerschaften und andere moderne Familienformen sind in der westlichen Welt ja schon länger ein Ausdruck der Veränderung einer vormals strikt von Regeln beherrschten Lebensform.

Diese Entwicklungen verdeutlichen die Richtung des Wandels durchaus hin zu pluralisierten, selbst gewählten Formen des Zusammenlebens und gleichzeitig einer wieder zunehmenden Notwendigkeit, sich auf Andere zu verlassen - weil eine individuelle Absicherung nicht gewährleistet ist. Dass das den Menschen auch Angst macht, wissen wir nicht erst seit heute. Es ist gut, dass die Familie einen hohen Wert behält. Es ist nicht gut, wenn das der einzige Ausweg der Menschen ist, ihre einzige Wahl. Eine Wertedebatte muss ihre sozialökonomischen Bedingungen und deren Veränderung mitdenken - sie macht sich sonst überflüssig.

Johanna Kuchling (*1985) hat Soziologie und Anglistik Amerikanistik an der Universität Potsdam studiert und arbeitet in der Redaktion der NG/FH in Berlin. (johanna.kuchling@fes.de)

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2012, S. 48-51
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2012