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JUGEND/054: Mädchen in Jugendkulturen (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2008

Anpassung, Abkopplung und krasse Behauptungen
Mädchen in Jugendkulturen

Von Gabriele Rohmann


Die meisten Jugendkulturen sind auf den ersten Blick immer noch Jungenkulturen. Männliche Skater, Hip-Hoper, Metaler, Skinheads, Punks oder DJs scheinen die einzelnen kulturellen Szenen zu dominieren. Ein genauer Blick hinter die Kulissen aber zeigt ein etwas anderes Bild. In allen genannten Kulturen gibt es auch engagierte junge Frauen, die mit ganz unterschiedlichen Strategien und Rollen klassische Stereotype in Frage stellen. Und: Es gibt mittlerweile Szenen mit weiblicher Dominanz.


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Ein junges Beispiel für die Entwicklung einer ganz neuen Szene mit Mädchendominanz ist Visual kei. Diese wird hauptsächlich von Mädchen im Alter zwischen 13 und 19 Jahren belebt. Ursprünglich kommt Visual kei aus Japan. Junge Japaner und Japanerinnen begannen in den 90er-Jahren, den androgynen Style so genannter J-Rock-Bands zu kopieren. J-Rock oder -Pop ist ein Sammelbegriff für japanische Musik, die viele unterschiedliche Stile zusammenbringt. Dazu zählen Pop, Glam, Rock, Punk, Metal oder Gothic. Zunächst nur Insidern bekannt, kursierten Styles und Musik hauptsächlich im Internet. Visual kei kam als "vollständig medial generierte, geradezu als eine internetgenerierte Szene", so der Kulturwissenschaftler Marco Höhn, nach Deutschland. Die Szene besteht aber aus mehr als originalgetreuem Kopieren von Images und stundenlangem Sitzen vor dem Computer: In Deutschland ist laut Höhn seit einiger Zeit eine stärkere Nachfrage von Japanisch-Kursen seitens junger Mädchen beobachtbar. Die Szene-Komponente Cosplay - für Costume Play - spielt hier eine zentrale Rolle. Hauptsächlich Mädchen treffen sich zu Conventions oder Visual-Treffen. Gewinnerin ist, wer japanische Gothic-Lolita-Styles oder J-Rock-Stars relativ nah am Original abbildet, und zwar mit selbstgeschneiderten Outfits.

Eine andere der wenigen Szenen, in der sich mehrheitlich Mädchen und Frauen bewegen, ist die Ladyfest-Szene, die sich aus der so genannten Riot Grrrl-Szene, einer Szene, die sich Anfang der 90er-Jahre in den USA aus der Punk- und Hardcore-Szene abgekoppelt hat und für die Selbstbestimmung vor allem von Mädchen und Frauen eintritt, weiterentwickelt hat. Das erste Ladyfest veranstalteten die (Ex)Riot Grrrls im Jahr 2000 in Olympia, Washington. Ladyfeste finden seitdem weltweit statt, seit 2003 in Deutschland in Hamburg, München, Berlin, Leipzig, Stuttgart und in vielen anderen Orten. Die einzelnen Feste, die mehrtägig aus einer Kombination von Konzerten, Workshops, Demonstrationen, Theater- oder Filmvorführungen abgehalten werden, setzen ihre Schwerpunkte und Inhalte jeweils selbst. So lautete das Selbstverständnis des Frankfurter (a.M.) Ladyfests im Jahr 2005: "Klar, dieses Fest will alles sein: feministisch, queer und unkommerziell, sich gegen Kapitalismus, Rassismus und Antisemitismus wenden, will öffentliche Freiräume schaffen und gegen Zweigeschlechtlichkeit, Zwangsheterosexualität, Konkurrenzdenken, Schönheitsideale und Alltagszwänge einen Raum bieten. Ist dieser Anspruch nicht etwas zu hoch? Die DJane Luka Skywalker sagt dazu: 'Weil ich aber eine Frau bin, muss ich außer Kunst zu machen, auch noch den Kapitalismus abschaffen, neue Lebensformen finden, mein konstruiertes Geschlecht und das der anderen reflektieren (...) und immer wieder mich selbst in Frage stellen.' Deshalb haben wir bisher einige Schwerpunkte gesetzt, die für uns besonders wichtig sind." (Melanie Groß) Ein besonderes Merkmal dieser Szene ist ihre weltweite Vernetzung über das Internet. Die Plattform www.myspace.com/ladyfesteurope informiert über die Aktivitäten der Szene in Europa. 2008 haben allein auf diesem Kontinent mehr als zwölf Ladyfeste stattgefunden.


Female Hip-Hop: Was zählt ist Respekt

Aktive Frauen gibt es aber auch in männerdominierten Szenen wie im Hip-Hop. Der Umgang mit sexistischen Attitüden in dieser Szene, die sich vor allem aus den Kunstformen Rap, DJing, Graffiti, Tanz und Beatboxing zusammensetzt, ist unterschiedlich. Viele B-Girls, Writerinnen und Rapperinnen reagieren auf Nachfragen zu ihrer Stellung in der Szene empfindlich, setzen sich über vorhandene Sexismen hinweg und machen "ihr Ding" - mitunter mit Geschlechtervorteil, meint Monica Hevelke, eine Hip-Hop-Tänzerin, im Szene-Jargon ein B-Girl aus Berlin: "Ich denke, es fällt grundsätzlich schwer, sich in einer Gesellschaft zu behaupten, und beim Tanzen ist das nicht anders. Als Frau hat man es, wenn man im Hip-Hop aktiv ist, vielleicht sogar etwas einfacher, weil es wenige Frauen gibt, und daher bekommt man viel mehr Aufmerksamkeit, schon allein, weil man 'ne Frau ist. Da haben es die Männer schwerer, finde ich." Respekt, ein zentraler Begriff in der Hip-Hop-Szene, zollt Monica allen, die sich aktiv in die Szene einbringen und daran arbeiten, ihre Fähigkeiten zu verbessern. Da macht sie keinen Unterschied zwischen männlich und weiblich und meint, Respekt zeigten ihr für ihre Leistungen auch ihre männlichen Tanzkollegen und andere Szenegänger. Sexismus ist für sie eine Facette im Hip-Hop, die sie auf die ursprünglichen Battle-Elemente unter Männern in den schwarzen Vierteln der USA zurückführt. Ganz ähnlich argumentiert auch die Rapperin Pyranja, eine der wenigen Hip-Hop-Frauen, die ein eigenes Platten-Label betreibt. Pyranja stört sich eher an den vielen weiblichen Groupies in der Szene, die den Jungs erst den Tick in den Kopf setzten, besonders gut zu sein. Von programmatischen feministischen Ansätzen wie nach Geschlechtern getrennten Trainings oder Musikproduktionen halten beide Frauen nichts, sondern plädieren dafür, dass Mädchen schlicht aktiv werden und sich nicht von der Männerdominanz in der Szene abschrecken lassen sollten.

Trotz der stärker werdenden medialen Aufmerksamkeit auf weibliche MCs, DJs, Writer oder Breaker ist die Hip-Hop-Kultur aber noch weit davon entfernt, "weiblicher" zu werden. Das hat sie mit der Metal-, Hardcore-, nicht-rechten Skinhead- oder Skater-Szene gemein, in der es ebenfalls aktive Frauen gibt, die nach außen in Kleidung und Habitus an maskuline Inszenierungen angepasster erscheinen als sie sind. So argumentieren viele weibliche Skinheads, die Renees, dass der vor allem in der Sprache sehr verankerte Sexismus in der Skinhead-Szene nur deutlich transportiere, was die meisten Männer in der Gesellschaft im Kopf hätten, sich aber nicht zu sagen trauten. In der Wortwahl und teilweise auch im Style stehen weibliche Skinheads ihren Geschlechtsgenossen in nichts nach, oft setzen sie, so die Sozialpsychologin und Journalistin Susanne El-Nawab, noch eins drauf. Auch in dieser Szene fühlen sich Frauen, die sich mit Szene-Wissen und -Engagement wie Fotografieren oder der Mitarbeit an einem Fanzine einbringen, trotz der Übernahme der maskulinen Verhaltenscodes emanzipiert.


Verdeckte Hyperfeminität

In der Gothic-Szene, die neben der Techno/Elektro-Szene zu den wenigen Szenen gehört, in der das Geschlechterverhältnis zahlenmäßig beinahe ausgeglichen ist, täuscht der erste Blick ebenfalls: Das Frauen-Ideal der zerbrechlichen, zarten, langhaarigen Frau und das androgyne Auftreten der Männer mit Rüschen, Röcken, Schmuck und Schminke verdeckt eine Hyperfeminität, die Frauen gleichermaßen unter Druck setzt, gesellschaftlich nur anerkannt zu sein, wenn sie vor allem "jung und schön" sind. So klagt die 25-jährige Satyria aus Berlin über Attraktivitätshierarchien in der Szene: "An der Spitze der Hierarchie sind natürlich die sehr feminin aufgemachten Frauen, die, ja, möglichst freizügig gekleidet sind, ja. Und je weniger man dem klassischen Schönheitsideal entspricht, das eigentlich auch im Mainstream gilt - das unterscheidet sich dann nicht groß, höchstens in der Farbe der Sachen, die man anhat - also wenn man vom Schönheitsideal abweicht, dann ist man auch in der Gothic-Szene nicht so attraktiv, genau wie in der anderen Gesellschaft (...) ich styl mich nicht so, ich versuch zwar auch, was aus mir zu machen, aber nicht in der Form, ich zieh mich nicht so freizügig an. Und allein deshalb also entsprech ich schon nicht dem Ideal und hab also nicht so große Chancen, und ja, bin ich in der Hierarchie der Attraktivität schon mal ne Stufe drunter." Androgyn gestylte Männer genießen in der Szene mehr Aufmerksamkeit als die Frauen, beschwert sich eine junge Frau, die sich Witchygoth nennt, im Internetforum des Gothic-Portals slashgoth.org: "Männer können Frauenkleidung tragen und sofort atemberaubend aussehen, wohingegen wir Frauen Stunden damit verbringen, uns fertig zu machen und doch nur genauso aussehen wie jedes andere Mal, wenn wir ausgehen. Es ist einfach so frustrierend."


Aktiver und selbstbewusster

Der kleine Einblick in verschiedene Jugendszenen zeigt, dass pauschale Aussagen darüber, welche Rollen Mädchen und junge Frauen darin einnehmen, nicht möglich sind. Vielmehr gibt es ganz unterschiedliche Strategien und Verhaltensweisen, die im Geschlechterverhältnis über Anpassung, Abkopplung und Behauptungen reichen. Mädchen sind, verglichen mit ihrem Engagement in den letzten Jahrzehnten, aktiver und selbstbewusster geworden. Trotzdem ist das Geschlechterverhältnis in den meisten Jugendkulturen nicht ausgeglichen, und noch sind Mädchen mehrheitlich Konsumentinnen. Woran das liegt? Nicht alle jugendkulturellen Angebote sind für Mädchen und Jungen gleichermaßen attraktiv. Und auch Mädchen stärkende Jugendsozial- und -bildungsarbeit stößt an Grenzen, wenn im Gegenzug kaum eine geschlechtersensible und reflektierte Jungenarbeit stattfindet.


(Alle Zitate stammen aus dem Sammelband Krasse Töchter. Mädchen in Jugendkulturen. Herausgegeben von Gabriele Rohmann. Archiv der Jugendkulturen Verlag, Berlin 2007, 312 S., 25,00 Euro.
Weitere Informationen zum Thema unter: www.jugendkulturen.de oder www.culture-on-the-road.de.)

Gabriele Rohmann (* 1968) ist Mitgründerin des Archivs der Jugendkulturen e.V. in Berlin, Journalistin und Referentin in der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung.
gabi.rohmann@jugendkulturen.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2008, S. 59-61
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Dezember 2008