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JUGEND/063: Zwischen Partizipation und Protest (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2011 - Nr. 92/93

Zwischen Partizipation und Protest

Von Ursula Hoffmann-Lange und Franziska Wächter


Im Leben vieler junger Menschen ist das Politische wichtig, aber nur eine Minderheit engagiert sich dauerhaft in Parteien oder Verbänden. Stattdessen gewinnt die politische Rebellion an Bedeutung.


In der öffentlichen Debatte über die gesellschaftliche und politische Beteiligung junger Menschen werden viele Fragen kontrovers diskutiert: Ist die junge Generation selbstbezogen und kümmert sich nur um das eigene Fortkommen? Haben ihre Angehörigen angesichts zunehmender Anforderungen in Ausbildung und Beruf überhaupt noch Zeit, sich um ihre Mitmenschen zu kümmern? Gibt es eine Krise der politischen Beteiligung junger Menschen oder entwickeln sich lediglich neue Formen der Artikulation politischer Forderungen? Beteiligen sich Mädchen und junge Frauen in anderer Weise als Jungen und junge Männer? Welche Rolle spielen dabei soziale Herkunft und Bildung?

Die empirischen Ergebnisse von AID:A ermöglichen Antworten auf solche Fragen und zeigen wichtige Differenzierungen auf, die bestätigen, dass in der jungen Generation sehr vielfältige Beteiligungsmuster anzutreffen sind. In Verbindung mit den Ergebnissen der drei Wellen des Jugendsurveys des Deutschen Jugendinstituts (DJI) aus den Jahren 1992, 1997 und 2003 lassen sich zudem für die 18- bis 29-Jährigen Entwicklungen über einen Verlauf von nunmehr fast zwei Jahrzehnten feststellen (Hoffmann-Lange 1995; Gille/Krüger 2000; Gille u. a. 2006; Gille 2008). Die folgenden Überlegungen und Ergebnisse zeigen exemplarisch die Analysemöglichkeiten für die genannten Fragestellungen auf, auch wenn deren Bearbeitung bislang noch am Anfang steht und die bisherigen Ergebnisse lediglich einen ersten Einblick vermitteln können.


Die drei Dimensionen der gesellschaftlichen Beteiligung

Zentrale Dimensionen der gesellschaftlichen und politischen Beteiligung betreffen einerseits Organisationsformen sowie andererseits Ziele und Inhalte (Gaiser 2010). Bei den Organisationsformen lassen sich drei Gruppen unterscheiden, nämlich die Mitgliedschaft in traditionellen Vereinen und Verbänden, die Mitarbeit in informellen Gruppierungen sowie schließlich die Teilnahme an Aktionen, die eine Reaktion auf aktuelle gesellschaftliche und politische Herausforderungen und damit zeitlich begrenzt sind. Diese Dimensionen zeichnen sich durch einen abnehmenden formalen Organisationsgrad sowie durch eine abnehmende zeitliche und normative Verbindlichkeit aus. Alle drei Organisationsformen können einen mehr oder weniger engen Bezug zur Politik aufweisen.

Die Mitgliedschaft und Mitarbeit in traditionellen Vereinen und Verbänden (einschließlich politischer Parteien) sind eher langfristig, Loyalitäten oder instrumentelle Bindungen relativ stark. Davon unterscheiden lassen sich informelle, weniger verbindliche Gruppierungen und Initiativen wie etwa Umweltgruppen, Gruppen der Friedensbewegung und Selbsthilfegruppen, die sogenannten neuen sozialen Bewegungen. Hinzu kommen situative, punktuelle Aktionen. Hierzu zählen beispielsweise die Beteiligung an Hilfsaktionen nach Naturkatastrophen, aber auch die Teilnahme an Demonstrationen (Gaiser/de Rijke 2006).

Das soziale Engagement junger Menschen ist recht ausgeprägt und seit 2002 noch leicht gestiegen: Im Jahr 2009 waren 39 Prozent der 12- bis 25-Jährigen in ihrer Freizeit für soziale oder gesellschaftliche Ziele aktiv, 2002 waren es 34 Prozent (Shell Deutschland Holding 2010). Die Mitgliedschaft und Mitarbeit in Vereinen, Verbänden und informellen Gruppen gehört nicht nur zu den grundlegendsten Formen zivilgesellschaftlichen Engagements und ist ein wichtiger Indikator für soziale Integration, sondern bietet jungen Menschen auch Chancen des Kompetenzgewinns, die außerhalb des formalen Bildungssystems liegen.

Die bisher unveröffentlichten ersten Auswertungen der AID:A-Daten zeigen insgesamt ein stabiles Niveau der Mitgliedschaften, wobei die Sportvereine am häufigsten genannt und daher getrennt ausgewiesen wurden (Gille 2010). Das Engagement in informellen Gruppen wie Bürgerinitiativen, Umweltschutzgruppen, Menschenrechtsgruppen nimmt hingegen leicht ab. Aufgrund ihrer Inhalte, ihrer stärkeren Aktionsorientierung und flexiblen Beteiligungsmöglichkeiten genießen solche Gruppierungen aber gerade bei jungen Menschen hohe Sympathien. Auch Migrantinnen und Migranten finden bei den informellen Gruppen eher Zugang als bei den traditionellen Vereinen und Verbänden. Informelle Gruppierungen grenzen sich stark von den in ihren Augen eher starren und formal-rationalisierten Großorganisationen wie Parteien oder Gewerkschaften ab. Während Mädchen und junge Frauen deutlich seltener Mitglied in einem Verein oder Verband sind als Jungen und junge Männer, zeigen sich im Bereich der neuen sozialen Bewegungen junge Frauen und Männer gleichermaßen engagiert. Bei beiden Formen des Engagements sind außerdem deutliche Bildungseffekte erkennbar: Je höher das Bildungsniveau als Indikator für kulturelles Kapital ist, desto mehr engagieren sich junge Menschen.


Die Diskrepanz zwischen Denken und Handeln

Sogenannte verfasste politische Beteiligungsformen wie die Wahlbeteiligung und die Mitarbeit in politischen Parteien stellen nach den AID:A-Befunden politische Kernaktivitäten der Bürgerinnen und Bürger dar (Gille 2010). Sie werden nicht nur am häufigsten genannt, sondern haben zudem - entgegen landläufigen Erwartungen - gegenüber den Ergebnissen des DJI-Jugendsurveys 2003 zugenommen. Das gestiegene Aktivitätsniveau spiegelt sich auch im gestiegenen politischen Interesse wider: Während im Jahr 2003 nur 22 Prozent der 18- bis 29-Jährigen sehr stark beziehungsweise stark an Politik interessiert waren, waren es im Jahr 2009 bereits 34 Prozent.

Noch stärker ist jedoch die Teilnahme an protestorientierten Aktionen wie Unterschriftensammlungen und Demonstrationen angestiegen (Gille 2010). So gaben im Jahr 2009 80 Prozent der 18- bis 29-Jährigen an, sich bereits an politischen Protesten beteiligt zu haben, für 90 Prozent war diese Form der Partizipation zumindest vorstellbar. Zum Vergleich: Im Jahr 2003 machten nur 65 beziehungsweise 80 Prozent entsprechende Angaben.

Betrachtet man die Handlungsbereitschaft im Vergleich zum tatsächlichen Handeln, so zeigt sich für alle Beteiligungsformen eine deutliche Diskrepanz (Gille 2010). Diese lässt sich zum einen mit fehlenden Gelegenheitsstrukturen für konkretes politisches Handeln erklären. Zum anderen verweist sie aber auch auf ein hohes Potenzial des jugendlichen Engagements, dessen Realisierung gezielt durch Politik und Praxis gefördert werden könnte.


Spontane Aktivität statt beharrlichen Einsatzes

Seit Beginn der 1990er Jahre hat sich an der Struktur der Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben nur wenig geändert. Sehr viele junge Menschen sind gelegentlich politisch aktiv, indem sie beispielsweise wählen oder an Protestaktionen teilnehmen. Nur eine Minderheit engagiert sich aber dauerhaft in formalen und informellen Organisationen. Auch die Zusammenhänge mit der persönlichen Lebenslage sind mit einer wichtigen Ausnahme, nämlich der zunehmenden Angleichung des Beteiligungsverhaltens der Geschlechter, weitgehend gleich geblieben. Dies ist ein Hinweis darauf, dass sich die Anstrengungen zur Einbeziehung junger Frauen in das gesellschaftliche Leben gelohnt haben.

Die objektiven Daten über die Wahlbeteiligung legen aber gleichzeitig den Schluss nahe, dass das Ausmaß des in Umfragen gemessenen Engagements überhöht ist. Während im 2009 durchgeführten AID:A-Survey 87 Prozent der befragten 18- bis 29-Jährigen angaben, dass sie bereits an einer Wahl teilgenommen haben, liegt die tatsächliche Wahlbeteiligung der jüngeren Alterskohorten deutlich niedriger. Nach den Ergebnissen der repräsentativen Wahlstatistik lag diese im Jahr 1972 bei 84,6 Prozent (18-20 Jahre) bzw. 84,4 Prozent (21-25 Jahre), betrug im Jahr 2009 aber nur noch 63,0 bzw. 59,1 Prozent. Das Schaubild zeigt dagegen einen zunehmenden Trend. Dieses empirische Puzzle wird sich nur mithilfe detaillierterer Analysen auflösen lassen.

Bemerkenswert und in starkem Kontrast zur abnehmenden Wahlbeteiligung in der jüngeren Generation steht die überproportionale Zunahme der Beteiligung an politischen Protestaktivitäten. Die AID:A-Daten lassen ein sehr hohes Protestpotenzial erkennen, das jederzeit durch geeignete Anlässe aktiviert werden kann, wie nicht zuletzt die Protestaktionen des Jahres 2010 gegen das Verkehrs- und Stadtentwicklungsprojekt Stuttgart 21 und gegen das atomare Zwischenlager in Gorleben bestätigen.


Politikdistanz als gesellschaftliche Herausforderung

Die beiden Trends abnehmender Wahlbeteiligung und zunehmender Protestbereitschaft deuten auf Versäumnisse der politischen Parteien hin. Auch wenn politischem Protest in Demokratien eine wichtige Ventilfunktion zukommt, zeigt er immer auch ein Vermittlungsproblem zwischen den politischen Amtsträgern und den Angehörigen der jungen Generation. Dieses lässt sich nur durch stete Anstrengungen lösen, jungen Menschen ein positives Bild von Politik zu vermitteln und sie zum Mitmachen anzuregen. Dabei ist nach den Ergebnissen einer amerikanischen Studie (Zukin u. a. 2006) nichts so wirksam zur Schaffung politischen Vertrauens und zur Erhöhung der politischen Beteiligung wie der persönliche Kontakt mit Politikern. Neben der schulischen und außerschulischen politischen Bildung ist er vor allem für diejenigen bedeutsam, die nicht bereits im Elternhaus motiviert werden, sich mit Politik zu befassen.


DIE AUTORINNEN

Prof. Dr. Ursula Hoffmann-Lange ist Professorin der Politikwissenschaft an der Universität Bamberg i.R. Sie beschäftigt sich insbesondere mit politischer Kultur, Demokratieforschung und Eliten.
Prof. Dr. Franziska Wächter hat eine Professur für empirische Sozialforschung an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit in Dresden inne. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Jugend und Politik, Partizipation, Jugendhilfe und soziale Ungleichheit.
Kontakt: ursula.hoffmann-lange@uni-bamberg.de, franziska.waechter@ehs-dresden.de


LITERATUR

GAISER, WOLFGANG (2010): Partizipation im Wandel - Rückzug und neue Formen. Unveröffentlichtes Manuskript des Vortrags bei der wissenschaftlichen DJI-Fachtagung »Aufwachsen in Deutschland« am 17. und 18.11.2010 in Berlin. Weitere Informationen sind erhältlich bei gaiser@dji.de

GAISER, WOLFGANG / DE RIJKE, JOHANN (2006): Gesellschaftliche und politische Beteiligung. In: Gille, Martina u. a.: Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland. Wiesbaden, S. 213-275

GILLE, MARTINA (2010): Partizipation und Lebenslagen - Reproduktion sozialer Ungleichheit? AID:A-Befunde. Unveröffentlichtes Manuskript des Vortrags bei der wissenschaftlichen DJI-Fachtagung »Aufwachsen in Deutschland« am 17. und 18.11.2010 in Berlin. Weitere Informationen sind erhältlich bei gille@dji.de

GILLE, MARTINA (HRSG.; 2008): Jugend in Ost und West seit der Wiedervereinigung. Wiesbaden

GILLE, MARTINA U. A.(2006): Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland. Wiesbaden

GILLE, MARTINA / KRÜGER, WINFRIED (HRSG.; 2000): Unzufriedene Demokraten. Opladen

HOFFMANN-LANGE, URSULA (HRSG.; 1995): Jugend und Demokratie in Deutschland. Opladen

SHELL DEUTSCHLAND HOLDING (HRSG.; 2010): Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich. 16. Shell Jugendstudie. Frankfurt am Main

ZUKIN, CLIFF U. A.(2006): A New Engagement? Political Participation, Civic Life, and the Changing American Citizen. New York


DJI Impulse 1/2011 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse


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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2011 - Nr. 92/93, S. 23-24
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-0, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de

DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juni 2011