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JUGEND/074: Vom Wandel der Jugend (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2012 - Nr. 99

Vom Wandel der Jugend

Junge Menschen haben heute Entfaltungsmöglichkeiten wie noch nie.
Das ist eine große Chance, für viele aber auch ein großes Risiko.

von Martina Gille



Der Lebensabschnitt Jugend hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt. Jugendliche werden wegen der zunehmenden Alterung der deutschen Gesellschaft zu einem immer knapperen Gut. Sie werden als mögliche zukünftige Facharbeiterinnen und Facharbeiter, als freiwillige Engagierte (zum Beispiel im Bundesfreiwilligendienst) oder auch als potenzielle Familiengründerinnen und -gründer hofiert. Zugleich sehen sie sich mit wachsenden Anforderungen an ihre berufliche Qualifikation konfrontiert, zudem mit Zeitstress, Mobilitätsdruck, mit ungewissen Zukunftsperspektiven. Welche Herausforderungen stellen sich jungen Menschen heute angesichts gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse und des Strukturwandels der Erwerbsarbeit? Und wie geht es den Jugendlichen dabei?

Im Folgenden wird zunächst das Konzept der Entwicklungsaufgaben herangezogen und auf seine Tauglichkeit zur Beschreibung der heutigen Situation junger Frauen und Männer diskutiert. Der Beginn der Jugendphase wird in der Forschung übereinstimmend mit dem Einsetzen der Pubertät datiert, die in Deutschland bei Mädchen im Durchschnitt bei 12 Jahren, bei Jungen bei 13 Jahren liegt (Hurrelmann/Quenzel 2012). Mit dem Eintritt der Geschlechtsreife sind tiefgreifende Wandlungsprozesse in biologisch-körperlicher, kognitiv-emotionaler, sowie sozialer und gesellschaftlicher Hinsicht verknüpft. Das Konzept der Entwicklungsaufgaben ist interdisziplinär. Es beschreibt die für die verschiedenen Altersphasen bestimmenden gesellschaftlichen Erwartungen an Individuen. In Anlehnung an den amerikanischen Forscher Robert J. Havighurst (1953) gilt der Übergang vom Jugend- in das Erwachsenenalter als geglückt, wenn die folgenden Schritte gemeistert wurden: Die jungen Menschen haben ausreichend intellektuelle und soziale Kompetenzen sowie Bildungsqualifikationen erworben, um sich beruflich etablieren zu können und ökonomisch unabhängig zu werden. Die Ablösung von den Eltern ist erfolgt, die veränderte körperliche Erscheinung wurde akzeptiert, und es ist eine feste Bindung zu einem Partner oder einer Partnerin aufgebaut sowie eine Familie gegründet worden (beziehungsweise es besteht die Möglichkeit dazu). Es wurden enge Freundschaften und Kontakte zu Gleichaltrigen geknüpft und die Fertigkeiten entwickelt, bedürfnisorientiert und produktiv Freizeitangebote und Medien zu nutzen und einen eigenen Lebensstil zu praktizieren. Schließlich haben die Jugendlichen ein individuelles Werte- und Normensystem, sozial verantwortliches Handeln und die Fähigkeit zur politischen Partizipation entwickelt (Hurrelmann/Quenzel 2012).

Das Konzept der Entwicklungsaufgaben steht jedoch in der Kritik, weil die Erwartungen, die den Aufgaben, die Jugendliche bewältigen sollen, zugrunde liegen, normativ sind und letztlich bürgerliche Normalitätsvorstellungen widerspiegeln (Leuschner/Scheithauer 2011). Durch Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse sind Normalbiografien seltener geworden. Dies bedeutet insbesondere für die Jugendphase, dass eine feste zeitliche Abfolge der verschiedenen Statusetappen wie Ausbildungsabschluss, Berufseintritt und Familiengründung nicht mehr in einer festen zeitlichen Reihenfolge und auch nicht mehr innerhalb eines engen Zeitfensters erfolgen. Zudem berücksichtigt das Konzept zu wenig, dass junge Menschen in der Familie und der Gesellschaft auch mit Rahmenbedingungen konfrontiert sein können, die es für sie schwierig oder unmöglich machen, sich in diesem Sinne zu entwickeln. Dazu zählen zum Beispiel das Aufwachsen in bildungsfernen Elternhäusern oder in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit. Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt ist, dass Jugendliche eher als passiv Ausführende wahrgenommen werden. Junge Menschen können ihre Entwicklung aber nur dann bewältigen, wenn sie sich mit den Erwartungen, die die Gesellschaft an sie stellt und die sie selbst an sich richten, individuell identifizieren und sie sich zu ihren eigenen Zielen machen.


Voraussetzungen für eine gelungene Lebensführung

Aus diesem Grund sieht die Forschung jugendliche Entwicklung heute als einen aktiven Konstruktionsprozess: Jugendliche beschäftigen sich nicht nur mit den an sie herangetragenen Erwartungen, sondern sie setzen sich auch eigene Ziele. Diese versuchen sie unter den jeweiligen sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen zu realisieren. Junge Menschen sind also Produzenten ihrer eigenen Entwicklung (zum Beispiel Silbereisen 1996). Diese konstruktivistische Sichtweise hat den Vorteil, dass nicht nur der Abschluss bestimmter Aufgaben als Ziel angesehen wird. Auch die Entwicklung von Kompetenzen und bestimmter Persönlichkeitseigenschaften garantiert unter schwierigen und veränderten gesellschaftlichen Bedingungen eine positive psychosoziale Integration in die Erwachsenenwelt. Solche grundlegenden Kompetenzen werden beispielsweise mit den Konzepten der »Selbstwirksamkeit« und »Lebenskohärenz« beschrieben, die als Voraussetzung für eine gelungene Lebensführung gelten (13. Kinder- und Jugendbericht): Jugendliche können ihr eigenes Handeln als erfolgreich erleben und erfahren (Grundmann 2006).

Voraussetzung für eine positive Entwicklung im Jugendalter ist vor allem die Gelegenheit, an den Lebenswelten der Gesellschaft und der anderen Jugendlichen teilzuhaben. Die jungen Menschen müssen die Möglichkeit haben, sinnvolle Tätigkeiten auszuüben und dafür Anerkennung zu ernten. Ebenso wichtig ist ein gewisses Maß an sozialer und materieller Sicherheit.


Mehr Chancen - aber auch viele Modernisierungsverlierer

Gerade im Hinblick auf die Lebensbedingungen junger Menschen gibt es in den modernen Gesellschaften zunehmend problematische Entwicklungen: Dazu zählen beispielsweise die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse und die hohe Jugendarbeitslosigkeit in vielen europäischen Regionen. Für junge Frauen und Männer wird es zunehmend schwieriger, nach der Ausbildung einen attraktiven Arbeitsplatz zu bekommen, der unbefristet ist, eine gute ökonomische Absicherung und auch Aufstiegschancen bietet. Sie müssen häufig mit gering bezahlten Praktika oder befristeten Arbeitsverträgen vorlieb nehmen. Zugleich müssen sie sehr mobil sein. Das erschwert langfristige Zukunftsplanungen im Hinblick auf Familiengründung und Wohnortwahl.

Der Strukturwandel der Jugendphase wurde seit den 1980er-Jahren vor allem unter dem Blickwinkel des Individualisierungstheorems diskutiert (Heitmeyer/Mansel/Olk 2011). Diesem Erklärungsansatz zufolge wird der Einzelne zunehmend aus traditionellen Lebenswelten und Lebenszusammenhängen herausgelöst. Dies bedeutet besonders für junge Menschen, dass sie zum »Planungsbüro« ihrer eigenen Biografie und Lebensführung werden. Für diesen Zuwachs an Gestaltungsmöglichkeiten zahlen sie allerdings auch einen hohen Preis: Falls sie scheitern, sind sie selbst dafür verantwortlich. Das erhöht den Druck auf Jugendliche. Dies ist vor allem aus einem Grund problematisch: Trotz der zunehmenden Individualisierung von Lebenschancen und der größeren Vielfalt von Lebensstilen gibt es nach wie vor Auswahlprozesse nach sozialer Schicht, Geschlecht und Migrationshintergrund. In den vergangenen 20 Jahren scheint es eine Verfestigung von solchen Ausgrenzungsprozessen gegeben zu haben. Insbesondere bei jungen Menschen aus den neuen Bundesländern und aus Zuwandererfamilien besteht die Gefahr, dass sie sich nicht erfolgreich in das Bildungs- und Erwerbssystem integrieren können. Die Schere zwischen Gewinnern und Verlierern wird größer (Rauschenbach 2012). Der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann (2011) rechnet fast ein Fünftel der gegenwärtigen Jugendgeneration zu den Modernisierungsverlierern.


Gleichzeitig jugendlich und erwachsen

Der verzögerte Übergang in den Erwachsenenstatus führt zusammen mit dem immer früheren Eintritt in die Pubertät dazu, dass die Lebensphase Jugend zum Teil ihren Charakter als Übergangsphase verliert. Sie wird immer mehr zu einem eigenständigen Lebensabschnitt, der durchschnittlich 15 Jahre umspannt. Der Anstieg des Bildungsniveaus und die damit verknüpfte längere Schulzeit oder Berufsausbildung führen dazu, dass der Eintritt ins Berufsleben und eine Familiengründung häufig erst zwischen 30 und 40 Jahren oder noch später erfolgen. Andere Aspekte des Erwachsenseins übernehmen Jugendliche immer früher: etwa die eigenständige Gestaltung von Partnerschaften, Freizeit und Mediennutzung oder auch soziales und politisches Engagement. Es kommt immer mehr zu einer Auflösung der ehemals fixen Ordnung der vier Statusetappen Schule, Ausbildung, Eintritt ins Erwerbsleben und Familiengründung. Das führt dazu, dass Jugendliche gleichzeitig zwischen verschiedenen Statusübergängen stehen können, was zu widersprüchlicher Selbst- und Fremdwahrnehmung führt. In mancher Hinsicht nehmen sie sich schon als erwachsen wahr. Gleichzeitig verbleiben sie im Hinblick auf die häufig noch nicht eingelösten biografischen Etappen der beruflichen Etablierung, ökonomischen Unabhängigkeit und Familiengründung aus gesellschaftlicher Sicht noch im Jugendstatus. Auch durch altersbestimmte Rechtsvorschriften wie Geschäftsfähigkeit oder Wahlrecht wird ihnen das Erwachsensein noch nicht zugestanden.

Wie Befragungen im Rahmen des DJI-Jugendsurveys und des DJI-Surveys AID:A zeigen, erleben sich junge Menschen zunehmend als »unfertig« und »noch nicht erwachsen«, was mit ihrer verzögerten ökonomischen Unabhängigkeit und Familienplanung zu tun hat. Dieses Ergebnis spiegelt möglicherweise auch den »Jugendwahn« der Gesellschaft wider (siehe Abbildung »Ewige Jugend« in der PDF-Ausgabe unter www.dji.de/impulse).


Die Jugendphase in Gefahr

Keine Jugendgeneration zuvor hatte solche Chancen, sich privat und beruflich weltweit zu verwirklichen wie junge Menschen heute. Andererseits haben die Ungewissheiten in der Zukunftsplanung sowie der Leistungs- und Konkurrenzdruck zugenommen. Die Jugendphase kann heute immer weniger als ein »Bildungsmoratorium« begriffen werden, in dem die jungen Menschen relativ geschützt vor den Anforderungen der Erwachsenengesellschaft ihre schulischen und beruflichen Qualifikationen erwerben können (Heitmeyer/Mansel/Olk 2011). Es besteht die Gefahr, dass die Jugendphase immer mehr an den Bedingungen von Markt und Wettbewerb gemessen wird: Jugendliche sollen in möglichst kurzen Bildungsgängen wie etwa dem achtjährigen Gymnasium oder Bachelor-Studiengängen ihre Qualifikationen erwerben. Der Pädagoge Wilhelm Heitmeyer spricht von einer »Vernichtung der Jugendphase« (Heitmeyer unter anderem 2011). Jugendlichen fehlen zunehmend Gelegenheiten, ihre Identitätsentwürfe auszuprobieren, ohne dass ökonomische Nutzenkalküle dabei eine Rolle spielen. Die straffe und zunehmend ganztägige Bildung führt zu einer Verringerung ihrer Experimentierräume. Führt dies dazu, dass junge Menschen vor allem nach Anpassung streben? Der DJI-Jugendsurvey AID:A zeigt, dass sie sich die Anforderungen der Leistungsgesellschaft zu eigen machen (Gille 2012). Ihre Wertorientierungen haben sich gewandelt: Die Bedeutung von Pflicht und Leistung hat zugenommen. Aber ihr Streben nach Selbstverwirklichung ist unverändert hoch, ebenso wie ihre Bereitschaft, sich politisch und sozial zu engagieren. Das zeigt, dass junge Menschen auch heute ein großes Interesse daran haben, an gesellschaftspolitischen Entscheidungen mitzuwirken (Gaiser/Gille 2012).


DIE AUTORIN

Martina Gille ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung »Zentrum für Dauerbeobachtung und Methoden« am Deutschen Jugendinstitut. Sie koordiniert verantwortlich das Kompetenzteam Jugend. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Lebenslagen, Orientierungen und Partizipation Jugendlicher und junger Erwachsener im Wandel.
Kontakt: gille@dji.de


LITERATUR

BUNDESMINISTERIUM FÜR FAMILIE, SENIOREN, FRAUEN UND JUGEND (Hrsg.; 2009): 13. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin

GAISER, WOLFGANG / GILLE, MARTINA (2012): Soziale und politische Partizipation im Wandel. In: Rauschenbach, Thomas / Bien, Walter (Hrsg.): Aufwachsen in Deutschland. AID:A - der neue DJI-Survey. München: Weinheim/Basel, S. 136-159

GILLE, MARTINA (2012): Adolescents and young adults in Germany: Increasing willingness to perform and a growing sense of social responsibility. In: Panorama - Insights into Asian and European affairs on «Youth agents of change or guardians of establishment?», Heft 1/2012, S. 157-165

Grundmann, Matthias (2006): Sozialisation. Skizze einer allgemeinen Theorie. Stuttgart

HAVIGHURST, ROBERT J. (1953): Human Development and Education. New York

HEITMEYER, WILHELM / MANSEL, JÜRGEN / OLK, THOMAS (2011): Individualisierung heute: Verdichtung und Vernichtung? In: Heitmeyer, Wilhelm / Mansel, Jürgen / Olk, Thomas (Hrsg.): Individualisierung von Jugend. Zwischen kreativer Innovation, Gerechtigkeitssuche und gesellschaftlichen Reaktionen, S. 7-25

HURRELMANN, KLAUS (2011): Jung sein in Deutschland. In:
museumsmagazin: Mit 17..., S. 49-51

HURRELMANN, KLAUS / QUENZEL, GUDRUN (2012): Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. 11., vollständig überarbeitete Auflage. Weinheim/Basel

LEUSCHNER, VINCENZ / SCHEITHAUER, HERBERT (2011): Entwicklungsaufgaben und Entwicklungsherausforderungen im Jugendhalter. In: IzKK-Nachrichten, Heft 1, S. 5-9

RAUSCHENBACH, THOMAS (2012): Aufwachsen in Deutschland. In: Rauschenbach, Thomas / Bien, Walter (Hrsg.): Aufwachsen in Deutschland. AID:A - Der neue DJI-Survey. Weinheim/Basel, S. 7-27

SILBEREISEN, RAINER K. (1996): Jugendliche als Gestalter ihrer Entwicklung. In: Schumann-Hengsteler, Ruth / Trautner, Hanns M. (Hrsg.): Entwicklung im Jugendalter. Göttingen, S. 1-18

DJI Impulse 3/2012 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2012 - Nr. 99, S. 4-8
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Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-0, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Februar 2013