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JUGEND/079: Wenn Freundschaften neue Welten eröffnen (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2012 - Nr. 100

Wenn Freundschaften neue Welten eröffnen
Kinder und Jugendliche, die Freundinnen und Freunde mit einem anderen kulturellen Hintergrund haben, profitieren stark davon. Forschung dazu gibt es in Deutschland erst in Ansätzen.

Von Heinz Reinders



Westeuropäische Industrienationen sind in immer stärkerem Ausmaß multiethnisch (Larson 2002). Dennoch haben interethnische Freundschaften - also Beziehungen zwischen Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher ethnischer Herkunft - in der Freundschaftsforschung bisher nur einen geringen Stellenwert eingenommen. Die Fragen werden dringlicher, wie etwa Beziehungen zwischen Heranwachsenden deutscher und nicht-deutscher Herkunft entstehen, wie gut diese Freundschaften sind und welche Auswirkungen sie mit sich bringen (Reinders u.a. 2006).

Die Erforschung des informellen Lernens von Freunden im Rahmen sogenannter Peer-Groups (Grunert 2011) kann an die Theorien und Ergebnisse der Freundschaftsforschung anknüpfen. In den 1980er- und 1990er-Jahren sprach man von Sozialisation in der Gleichaltrigengruppe (z.B. Krappmann 1991). Als gesichertes Wissen gilt heute etwa, dass stabile und gegenseitige Freundschaften bei Kindern und Jugendlichen gut sind für das körperliche und seelische Befinden und das Selbstwertgefühl stärken. Freundschaften fördern bei jungen Menschen die soziale Kompetenz, gerade Jugendfreundschaften unterstützen die Ablösung der Jugendlichen vom Elternhaus und den Erwerb größerer Autonomie (zusammenfassend Reinders/Youniss 2005). Auch bei der Einstellung zum Lernen, der Lernmotivation und beim Erwerb von gesellschaftlichen Verhaltensmustern üben Freundinnen und Freunde einen Einfluss aus (Krüger u.a. 2012; Reindl 2012).


Bauen interethnische Freundschaften Vorurteile ab?

Die Vorurteilsforschung hält einige Hinweise dafür bereit, dass Kontakte zwischen Personen unterschiedlicher sozialer Gruppen unter gewissen Bedingungen wie etwa bei ähnlichen Interessen Stereotype reduzieren (Pettigrew/Tropp 2000). Aus diesem Grund stellt sich die Frage, ob interethnische Freundschaften in besonderem Maße zum Abbau von Vorurteilen führen (Pettigrew 1997, 1998). Umfangreiche Ergebnisse zu diesem Thema hat es im deutschsprachigen Raum bisher kaum gegeben (Ramachers 1996). Erste Antworten liefern zwei Längsschnittstudien, bei denen Jugendliche beziehungsweise Grundschulkinder über einen längeren Zeitraum hinweg begleitet und befragt wurden (Reinders u.a. 2006; Reindl u.a., in Druck). Sie wiesen nach, dass es Gemeinsamkeiten zwischen intraethnischen Freundschaften (innerhalb einer ethnischen Gruppe) und interethnischen Freundschaften gibt: Beide Freundschaftsvarianten entstehen vor allem durch die Schule und werden in der Freizeit vor allem in öffentlichen Sozialräumen weitergeführt, zum Beispiel auf öffentlichen Plätzen oder in Parks, in Jugendzentren oder Vereinen. Interethnische Freundschaften erwiesen sich als ebenso wechselseitig, vertrauensvoll und intim wie Freundschaften zwischen Jugendlichen mit demselben ethnischen Hintergrund.

Deutliche Unterschiede bestehen bei den Auswirkungen interethnischer Freundschaften, die mit der Idee des informellen Lernens in Zusammenhang gebracht werden können. Die wichtigste Erkenntnis ist vermutlich, dass die kulturelle Offenheit bei deutschen Heranwachsenden zunimmt, wenn sie interethnische Freundschaften haben. Stabile Freundschaftsbeziehungen zwischen deutschen und nicht-deutschen Jugendlichen führen zu einer Abnahme segregativer Vorstellungen. Die Ansicht, die verschiedenen Ethnien sollten sich nicht vermischen, sondern unter sich bleiben, wird zunehmend abgelehnt, wenn die eigene Freundin oder der eigene Freund einen Migrationshintergrund hat (Reinders u.a. 2006). Freunde scheinen sich darüber hinaus auch über ihren sozialen und kulturellen Hintergrund auszutauschen. Dabei teilen sie Wissen über umfassende makrosystemische Aspekte der anderen Kultur (zum Beispiel: »Was ist der Ramadan?«), vor allem aber über beiläufige mikrosystemische Formen der anderen Kultur (zum Beispiel: »Wodurch unterscheidet sich das Familienleben des Freundes?«; Mangold 2007).


Kinder eignen sich Wissen über die andere Kultur an

Diesen Einfluss von Freunden gibt es schon bei Kindern: Bei interethnischen Freundschaften von Erst- und Zweitklässlern findet zwischen den Kindern ein Wissensaustausch statt, durch den sie interkulturelle Kompetenzen erwerben (Reinders u.a. 2011): Kinder in interethnischen Freundschaftsbeziehungen sind im Durchschnitt offener für interethnische Kontakte, sie sind anderen Kulturen gegenüber offener und anpassungsfähiger und sie wissen mehr über die jeweils andere Kultur als Kinder ohne interethnische Freundinnen oder Freunde (ebd.).

Interethnische Freundschaften bleiben ein aufschlussreiches Forschungsfeld des informellen Lernens Heranwachsender. Spannend ist vor allem der Wissensaustausch als Teil eines umfangreicheren Transfers von sozialem Kapital (wie zum Beispiel bestimmter Normen und Werte, Vertrauen oder Kooperation). Besonders interessant daran ist, dass die Schule als Institution und Sozialraum nur die Kontaktmöglichkeiten zur Verfügung stellt, aber keinen pädagogischen Einfluss darauf zu haben scheint, ob sich die interkulturelle Kompetenz von Kindern und Jugendlichen erhöht (Reinders u.a., in Druck). Kindertageseinrichtungen oder Schulen können und sollten in Zukunft verstärkt soziale Räume zur Verfügung stellen, damit sich Kinder und Jugendliche in diesen »lernfreien« Nischen selbst interkulturelle Kompetenz aneignen können, indem sie dort interethnische Freundschaften bilden und vertiefen können. Denn eine bessere interkulturelle Kompetenz ist für multiethnische Gesellschaften wie die deutsche von zentraler Bedeutung.

Prof. Dr. Heinz Reinders ist Inhaber des Lehrstuhls Empirische Bildungsforschung an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozialisation in Kindheit und Jugend, Migrations- sowie Evaluationsforschung.
Kontakt: heinz.reinders@uni-wuerzburg.de


LITERATUR

GRUNERT, CATHLEEN (2011): Außerschulische Bildung. In: Reinders, Heinz / Ditton, Hartmut / Gräsel, Cornelia / Gniewosz, Burkhard (Hrsg.): Empirische Bildungsforschung. Band 2: Gegenstandsbereiche. Wiesbaden, S. 137-148

KRAPPMANN, LOTHAR (1991): Sozialisation in der Gruppe der Gleichaltrigen. In: Hurrelmann, Klaus / Ulich, Dieter (Hrsg.): Neues Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim, S. 355-375

KRÜGER, HEINZ-HERMANN / DEINERT, ALINE / ZSCHACH, MAREN (2012): Jugendliche und ihre Peers. Freundschaftsbeziehungen und Bildungsbiografien in einer Längsschnittperspektive. Opladen

LARSON, REED W. (2002): Globalization, societal change, and new technologies: What they mean for the future of adolescence. In: Journal for Research on Adolescence, 12, S. 1-30

MANGOLD, TANJA (2007): Interethnische Freundschaften bei Jugendlichen. Dissertation. Mannheim

PETTIGREW, THOMAS F. (1997): Generalized intergroup contact effects on prejudice. In: Personality and Social Psychology Bulletin, 23, S. 173-185

PETTIGREW, THOMAS F. (1998): Intergroup contact theory. Annual Review of Psychology, 49, S. 65-85

PETTIGREW, THOMAS F. / TROPP, LINDA R. (2000): Does intergroup contact reduce prejudice? Recent meta-analytic findings. In Oskamp, Stuart (Hrsg.): Reducing prejudice and discrimination. New Jersey, S. 93-114

RAMACHERS, GÜNTER (1996): Konflikte und Konfliktbewältigung in intra- und interkulturellen Freundschaften. Frankfurt am Main

REINDERS, HEINZ / YOUNISS, JAMES (2005): Die Entwicklung sozialer Orientierungen Jugendlicher im Kontext von Freundschaften und Eltern-Kind-Beziehungen. In: Schuster, Beate / Kuhn, Hans-Peter / Uhlendorff, Harald (Hrsg.): Entwicklung in sozialen Beziehungen. Heranwachsende in ihrer Auseinandersetzung mit Familie, Freunden und Gesellschaft. Stuttgart, S. 259-278

REINDERS, HEINZ / GNIEWOSZ, BURKHARD / GRESSER, ANNE / SCHNURR, SIMONE (2011): Erfassung interkultureller Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, Heft 4/2011, S. 429-452

REINDERS, HEINZ / GREB, KARINA / GRIMM, CORINNA (2006): Entstehung, Gestalt und Auswirkungen interethnischer Freundschaften im Jugendalter. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, Heft 1/2006, S. 39-58

REINDERS, HEINZ / GRESSER, ANNE / SCHNURR, SIMONE (in Druck): Veränderungen interkultureller Kompetenzen bei Grundschülern an Halbtags- und Ganztagschulen. Zusammenhänge zu schulischen Zielvorstellungen und Weiterbildungsmaßnahmen. Erscheint in: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung

REINDL, MARION (2012): What makes me feel better? Beitrag von Freunden zur Emotionsregulation Jugendlicher. Dissertation. Würzburg

REINDL, MARION / REINDERS, HEINZ / GNIEWOSZ, BURKHARD (in Druck): Die Veränderung jugendlichen Autonomiestrebens, wahrgenommener elterlicher Kontrolle und erlebter Konflikthäufigkeit in der Adoleszenz. Erscheint in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie


DJI Impulse 4/2012 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2012 - Nr. 100, S. 20-22
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juni 2013