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MELDUNG/1774: Der Heimvorteil könnte verhängnisvoll sein (SB)



Andy Lee trifft in Manchester auf Billy Joe Saunders

Andy Lee scheint die terminliche und räumliche Verlegung seines Kampfs gegen Billy Joe Saunders keine Sorgen zu machen. Die Titelverteidigung des WBO-Weltmeisters im Mittelgewicht sollte ursprünglich am 19. September in Limerick über die Bühne gehen, wo der Ire vor heimischem Publikum angetreten wäre. Eine Viruserkrankung machte ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung, worauf das irisch-britische Duell schließlich für den 10. Oktober in Manchester neu angesetzt wurde. Wenngleich der Herausforderer die Rangliste anführt und in 22 Profikämpfen ungeschlagen ist, gibt sich Lee, für den 34 Siege, zwei Niederlagen und ein Unentschieden zu Buche stehen, zuversichtlich, an jedem beliebigen Ort die Oberhand zu behalten.

Auf den ersten Blick verzichtet der Champion durch die Verlegung des Kampfs auf seinen Heimvorteil, da die Zuschauer in Manchester Saunders unablässig anfeuern werden. Wie Lee bestätigte, sei die Absage seines Auftritts in Limerick mit einer tiefen Enttäuschung verbunden gewesen. Er habe stets gehofft, eines Tages als Weltmeister vor seinen Landsleuten aufzutreten. Dennoch sei die Verschiebung eine richtige Entscheidung gewesen, da er gesund und im Vollbesitz seiner Kräfte sein müsse, um Saunders zu besiegen und sich auf die nächstfolgende Aufgabe konzentrieren zu können.

Wie der für gewöhnlich gut unterrichtete Dan Rafael von ESPN mitgeteilt hat, seien ihm Gerüchte zu Ohren gekommen, wonach der Kampf aufgrund eines allzu schleppenden Vorverkaufs von Limerick nach Manchester verlegt worden sei. Studiert man die letzten Auftritte des Briten, so kämpfte er immer dann offensiver, wenn ihn seine Fangemeinde euphorisch unterstützte. Genau das spielt jedoch dem Iren in die Hände, der den Schlagabtausch suchen wird und nur dann um den Sieg bangen müßte, wenn Saunders vor ihm wegläuft und aus der Distanz Punkte macht.

Lee hat bislang nur gegen Julio Cesar Chavez jun. und Brian Vera verloren, wobei er letzteren bei der Revanche besiegen konnte. Beide waren ihm zum Zeitpunkt seiner Niederlage körperlich derart überlegen, daß er mit seinen Schlägen nicht die gewünschte Wirkung erzielte. Das dürfte bei Saunders anders sein, der sich ihm stellen muß, wenn er den Titel gewinnen will. Beim Prestigekampf gegen seinen damals ebenfalls ungeschlagen Landsmann Chris Eubank jun. im letzten November, den Saunders knapp und umstritten nach Punkten gewann, ließ er gegen Ende enorme Konditionsprobleme erkennen.

Da der Brite auf der Pressekonferenz mit Lee einen recht fülligen Eindruck machte, ist nicht anzunehmen, daß er in den verbliebenen Tagen bis zum Kampf noch sehr viel Gewicht reduzieren und wie eine Gazelle durch den Ring springen kann. Auch das kommt dem Weltmeister entgegen, da Saunders Atempausen benötigen wird, je länger ihr Duell dauert, und häufiger vor ihm stehenbleiben dürfte. Der Brite boxt ohnehin sehr aufwendig und mit vielen nutzlosen Ausweichbewegungen, auch wenn ihn der Gegner gar nicht erreichen kann. Diese überflüssigen Manöver tragen dazu bei, daß er relativ schnell ermüdet, was gegen eine Kämpfernatur wie Lee, der nie aufsteckt und bis zum Ende gefährlich bleibt, verhängnisvoll sein dürfte.

Will er diesen Kampf gewinnen, muß sich Saunders dem Iren stellen. Runde für Runde wegzulaufen und aus der Distanz zu treffen, wie er es gegen Chris Eubank praktiziert hat, wird bei einem Titelkampf nicht reichen. Hatten ihm die Punktrichter damals einen knappen Vorsprung zuerkannt, den zahlreiche Kommentatoren im Anschluß kritisierten, so kann er diesmal als flüchtender Herausforderer nicht die Oberhand behalten. Sollte er dennoch das Weite suchen und von Lee den ganzen Abend lang gejagt werden, verliert er unweigerlich nach Punkten. Begibt er sich aber in Reichweite des Champions, läuft er Gefahr, von dessen gefährlichen Schlägen zur Strecke gebracht zu werden.

Wenn es hart auf hart geht, könnte ihm der Rückhalt des Publikums den nötigen Schub verleihen, um über sich hinauszuwachsen, hofft der Brite auf den Heimvorteil. Die Zuschauer in Manchester werden ihn zweifellos antreiben, beherzt auf den Iren loszugehen, der sich über eine solche Einladung nur freuen kann. Saunders ist schon von seinen körperlichen Voraussetzungen her ohnehin kein Boxer, der eine mobile Kampfesweise, mit der er den Gegner ausmanövriert, in die Falle lockt und sich ihm sofort wieder behende entzieht, dauerhaft etablieren könnte. Zu seinem letzten Kampf trat er mit der Statur eines Halbschwergewichtlers an, was bei einem erst 25 Jahre alten Boxer wie ihm darauf schließen läßt, daß er das Limit des Mittelgewichts nur mit größter Mühe einhalten kann und in absehbarer Zeit ins Supermittelgewicht aufsteigen muß. Dort würde er freilich um so mehr auf Gegner treffen, die ihm an Schlagwirkung klar überlegen sind und den Weg an die Spitze versperren. [1]

In Anbetracht der aktuellen Situation im Mittelgewicht wäre Saunders als neuer WBO-Weltmeister die schlechtere Option. Er hat wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß er kein Interesse an einem Kampf gegen Gennadi Golowkin habe. Das ist zwar insofern vernünftig, als er damit eine nicht abzuwendende Niederlage vermeidet, aber ein weiteres Armutszeugnis für eine Gewichtsklasse, deren führende Akteure sich fast durch die Bank weigern, gegen den besten Boxer in ihren Reihen anzutreten. Hingegen hat Lee die Absicht bekundet, sich mit dem Kasachen zu messen und die Titel zusammenzuführen, was einer weitaus erfrischenderen Aussicht gleichkommt.


Fußnote:

[1] http://www.boxingnews24.com/2015/08/andy-lee-saunders-is-going-to-have-to-punch-with-me/#more-197639

21. August 2015


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