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MELDUNG/2088: Ein Zugewinn für das Mittelgewicht (SB)



Jermall Charlo kündigt Aufstieg ins höhere Limit an

Im Mai 2016 schrieben Jermall und Jermell Charlo Boxgeschichte, denen es als ersten Zwillingsbrüdern gelang, gleichzeitig Weltmeister in derselben Gewichtsklasse zu werden. Zwei Tage vor ihrem Auftritt in Las Vegas hatten die Charlos ihren 26. Geburtstag gefeiert, worauf sie ihre außergewöhnliche Woche im Ring krönten. Der eine Minute ältere Jermall Charlo setzte sich bei der zweiten Verteidigung des IBF-Titels im Halbmittelgewicht einstimmig nach Punkten gegen den ehemaligen Champion Austin Trout durch. Zuvor hatte sich sein Bruder Jermell bereits durch einen vorzeitigen Sieg in der achten Runde über John Jackson den seit dem Rücktritt Floyd Mayweathers vakanten WBC-Gürtel gesichert. Die Brüder aus Houston sind beide ungeschlagen, wobei Jermall Charlo 25 Siege und Jermell 28 Erfolge vorzuweisen hat.

Wenngleich Jermall Charlo massiver und stärker als Austin Trout wirkte, stand er doch erstmals einem Rechtsausleger und zweifellos dem namhaftesten Gegner seiner Karriere gegenüber. Der Champion ergänzte seinen ausgezeichneten Jab um eine gefährliche Rechte, deren wuchtige Treffer letztendlich den Ausschlag gaben. Der Herausforderer konnte in den meisten Runden mithalten, doch wurden seine Angriffe umgehend von Attacken Charlos beantwortet, der auf diese Weise immer wieder die Oberhand gewann. Nachdem Charlo die ersten sechs Runden dominiert hatte, verlor er aus konditionellen Gründen später etwas den Schwung, so daß Trout mit einer höheren Schlagfrequenz aufwarten konnte.

Dem mit 1,83 m für einen Halbmittelgewichtler hochgewachsenen Charlo war es offenbar schwergefallen, in der Vorbereitung genügend Gewicht abzubauen. Er wirkte jedenfalls in den letzten Tagen vor dem Kampf wie ein Boxer, der durch exzessives Abkochen körperlich geschwächt war. Der Kontrast trat um so deutlicher zutage, als sich Charlo in der Vergangenheit stets durch eine robuste Physis ausgezeichnet hatte. Als er 2015 auf Cornelius Bundrage traf, dominierte er den Gegner von Beginn an mit seinen gewaltigen Schlägen und schickte ihn viermal zu Boden, bis die vorzeitige Entscheidung in der dritten Runde gefallen war. Am 10. Dezember 2015 erging es Julian Williams nicht viel besser, der in Los Angeles nach insgesamt drei Niederschlägen schließlich in der fünften Runde die Segel streichen mußte.

Wie Jermall Charlo nun angekündigt hat, sei er bereit für den Aufstieg ins Mittelgewicht, wo er sich mit herausragenden Rivalen wie Gennadi Golowkin und Saul "Canelo" Alvarez messen wolle. Nachdem er bislang stets in ein und demselben Limit angetreten sei, habe er körperlich zugelegt und könne ohne weiteres eine Etage höher mithalten. Möglicherweise bleibe er aber auch im Halbmittelgewicht und versuche, in beiden Limits die attraktivsten Kämpfe zu bekommen.

Im Grunde war dieser Wechsel jedoch längst überfällig, zumal Jermall Charlo zweifellos ein Gewinn für das Mittelgewicht ist. Da sich auch "Canelo" endlich entschlossen hat, dort dauerhaft mitzumischen, könnte es spannend werden. Bislang dominierte Golowkin als Weltmeister der Verbände WBA, WBC, IBF und IBO allein auf weiter Flur die Gewichtsklasse. Saul Alvarez und dessen Promoter Oscar de la Hoya haben dem Kasachen einen Kampf im September fest zugesagt, werden sich aber aller Wahrscheinlichkeit nach erneut drücken, indem sie beispielsweise ein viel zu niedriges finanzielles Angebot machen, das die Gegenseite unmöglich annehmen kann.

Jermall Charlo wird sich demgegenüber weder gezielt die schwächeren Gegner aussuchen noch auf eine eigens vereinbarte Gewichtsgrenze bestehen, wie dies "Canelo" bislang getan hat. Der Mexikaner legte den WBC-Titel im Mittelgewicht nieder, um nicht gegen Golowkin antreten zu müssen, kehrte ins Halbmittelgewicht zurück und nahm dort dem überforderten Briten Liam Smith den WBO-Gürtel ab. Solche Fluchtmanöver sind von Charlo nicht zu erwarten, der offenbar keine Probleme damit hätte, sich mit Golowkin zu messen. Im Grunde ist er über sein angestammtes Limit hinausgewachsen, wo er Michael Finney, Wilky Campfort, Cornelius Bundrage, Julian Williams und Austin Trout besiegt hat. Der einzig verbliebene anspruchsvolle Gegner wäre Demetrius Andrade, mit dem sich aber nicht allzu viel Geld verdienen ließe.

Im Mittelgewicht könnte er beispielsweise gegen Daniel Jacobs antreten, der in wenigen Wochen auf Gennadi Golowkin trifft. Charlo gegen Jacobs wäre sicher ein attraktiver Kampf, sofern das Management des New Yorkers dieses Risiko eingeht, der es an Schnelligkeit und Schlagwirkung kaum mit Jermall Charlo aufnehmen kann. Dieser muß sich wohl zunächst einmal in der höheren Gewichtsklasse einfinden und einige Akzente setzen, da er nicht erwarten kann, auf Anhieb von den prominentesten Akteuren berücksichtigt zu werden. Zwar plant auch Erislandy Lara nach zwei weiteren Kämpfen im Halbmittelgewicht einen Aufstieg ins höhere Limit, doch kann sich das noch geraume Zeit hinziehen. Zudem ist der Kubaner zwar ein hervorragender Boxer, aber für das Publikum nicht sonderlich attraktiv, das mehrheitlich den offenen Schlagabtausch jeglichen technischen Finessen vorzieht. [1]

Sollte es Gennadi Golowkin gelingen, in diesem Jahr mit Daniel Jacobs und Saul Alvarez die beiden namhaftesten Gegner zu bezwingen, bliebe im Mittelgewicht nur noch Billy Joe Saunders, da der Brite den WBO-Titel innehat, der dem Kasachen zur Komplettierung seiner Sammlung noch fehlt. Bei den letzten Verhandlungen über einen Kampf gegen Golowkin hat sich Saunders mit einer fadenscheinigen Ausflucht aus dem Staub gemacht. Daher ist ungewiß, ob er am Ende doch zu seinem Wort steht. In jedem Fall böte Jermall Charlo eine optimale Alternative, sollten Gennadi Golowkin die Kontrahenten ausgehen, mit denen sich ein hochklassiger und gutdotierter Kampf auf die Beine stellen ließe.


Fußnote:

[1] http://www.boxingnews24.com/2017/01/jermall-charlo-ready-move-160lb-division/#more-224400

6. Januar 2017


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