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KOMMENTAR/001: Kein Soldatensportler scherte in Peking aus der Reihe (SB)



Die Olympischen Spiele in China haben die alte Frage, inwieweit Sport politisch sei oder ob man Sport und Politik noch voneinander trennen könne, mit neuer Virulenz erfüllt. Vor dem Hintergrund geopolitischer Konkurrenzen hat die gesellschaftliche Instrumentalisierung des Leistungssports für die Zwecke von Wirtschaft, Politik und Krieg in der hiesigen massenmedialen Aufbereitung eine aggressive Zuspitzung erhalten, von der die antichinesische Olympiaberichterstattung mit oft einseitigen Schuldzuweisungen, Verdrehungen, Verfälschungen und Auslassungen aller Art nicht deutlicher hätte Zeugnis ablegen können. Der Blick auf die Winterspiele 2014 in Sotschi läßt Schlimmstes befürchten. Schon fordern Menschenrechtsorganisationen angesichts des Kaukasus-Konflikts, die Vergabe der Olympischen Spiele 2014 zu überdenken. Der Chef der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, Karl Hafen, sagte der "Thüringer Allgemeinen", der Kaukasus sei ein Unruhe-Herd, der auch bis 2014 nicht zur Ruhe kommen wird. Bei der Vergabe an Rußland sei das IOC wie im Falle Chinas dem Ruf des Geldes gefolgt. Auch Amnesty International sprach von einer beängstigenden Entwicklung in Rußland. Es sei fraglich, ob Olympia dort gut aufgehoben sei. Und der Chef der Menschenrechtsorganisation "Reporter ohne Grenzen", Robert Ménard, wetterte gegen das Internationale Olympische Komitee, den Peking-Fehler wiederholt zu haben, indem es diese Spiele den Russen ausgeliefert habe. Wohlgemerkt einer Menschenrechtsorganisation, welche neben zahlreichen Tibet-Initiativen, die für die Protest-, Stör- und Sabotageaktionen vor und während der Peking-Spiele verantwortlich zeichneten, zum Ensemble jener Aktionsgruppen gehört, die von der CIA bzw. ihres verlängerten Arms, der US-Organisation NED (National Endowment for Democracy), finanziell unterstützt werden.

Hält man dieser Stimmungsmache weit im Vorfeld des olympischen Großereignisses die gegenwärtigen Verlautbarungen der Mehrheitsmedien entgegen, die fast einhellig die "russische Aggression" im Kaukasus-Konflikt verurteilen, während sie den Überfall der georgischen Armee auf Südossetien, der etwa 1400 Menschen das Leben kostete, nahezu ausblenden, dann fühlt man sich umgehend an die antichinesische Berichterstattung zu Beginn der Spiele in Peking erinnert, als in den Gazetten die "Menschenrechtsverletzungen der Chinesen in Tibet" hochgejazzt wurden. Gleichzeitig unterließ man es tunlichst, über die Gewaltausbrüche, ausgehend von tibetischen Mönchen und Sezessionisten, in der tibetischen Hauptstadt Lhasa zu berichten, in deren Folge u.a. chinesisch-stämmige Bewohner Lhasas getötet und deren private Geschäfte in Flammen aufgingen. Erst in der Folge griffen chinesische Sicherheitskräfte ein und dämmten die teils blutig verlaufenden Auseinandersetzungen mit repressiven Maßnahmen ein. "Der Spiegel" sprach später vom Tibet als "Chinas Gaza-Streifen", was die Zuschreibung vollends als inhaltsleeren Etikettenschwindel entlarvte, denn es ist nicht bekannt, daß sich das Hamburger Nachrichtenmagazin jemals entschieden gegen die tatsächlich höllische Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung durch die israelischen Besatzer stark gemacht hätte.

Die aufstachelnden Ratschläge an die deutschen Olympiateilnehmer, beispielsweise des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, der die Sportler kurz vor der Abreise nach Peking zu "öffentlichen Meinungsäußerungen" über die "Schattenseiten in China" animierte, hingegen sind ebenso wie die enttäuschten Hoffnungen der Palästinenser, ihre Sache durch öffentliche Bemühungen vertreten zu sehen, gerechterweise ins Leere gelaufen. "Olympia ist keine Demonstrationsveranstaltung, aber ich will auch, dass die Athleten ohne gebrochenes Rückgrat zurückkommen. Immerhin haben sie eine Vorbildfunktion für viele Menschen", gab Koch sich besorgt, der durch westliche Medienpropaganda gebriefte Athlet könnte im Reich der Mitte nicht frank und frei das sagen, was politischerseits erwünscht und sportlicherseits doch verboten ist.

Indes, keiner der 10.500 Athleten in Peking hat auf spektakuläre Weise über die sportlich erlaubten Stränge geschlagen, niemand verrenkte sich das Rückgrat mit gegen den Wind gesprochenen Meinungsbekundungen. Einzig der iranische Schwimmer Mohammad Alirezaei sorgte für Irritation, als er bei den Vorläufen wegen "Krankheit" nicht antrat, weil im gleichen Rennen ein Israeli gemeldet war. Seit der islamischen Revolution 1979 wäre es der erste sportliche Vergleich zwischen Athleten beider Länder gewesen.

Keine Sportlerin und kein Sportler riskierte etwas - keine schwarzbehandschuhte Faust reckte sich auf dem Siegertreppchen gen Himmel, keiner hielt ein Palästinensertuch hoch, um auf das Apartheidsregime der israelischen Besatzer aufmerksam zu machen, niemand schockte das Milliarden-Publikum mit Protestzeichen gegen Guantanamo-Folter und geheime Gefangenenverschleppungen. Auch hielt kein deutscher Olympiateilnehmer demonstrativ einen Knobelbecher in die Kameras, etwa um gegen die deutsche Kriegsbeteiligung in Afghanistan zu protestieren.

Tatsächlich findet die politische Kanalisierung des Protestes nicht erst in den olympischen Kampfarenen statt, wo den Sportlern gemäß der Olympischen Charta bei Strafe "jede Art der politischen, religiösen oder rassistischen Demonstration und Propaganda" untersagt und nur in ausgewiesenen Zonen erlaubt ist. Sie beginnt bereits zu Hause, wenn die Athleten, die meistenteils ein kärgliches finanzielles Auskommen haben, in die Abhängigkeit von Sponsoren, Werbe- und Medienpartnern geraten, die sportwidriges Verhalten sofort mit Geld-, Vertrags- oder Gunstentzug bestrafen. Nicht auszudenken zudem, wie es wohl einem der 127 Soldaten der Bundeswehr, die in der chinesischen Hauptstadt ihren sportlichen Dienst für das Vaterland verrichteten, ergangen wäre, hätte er oder sie vor den Augen des deutschen Verteidigungsministers Jung laut und vernehmlich den sofortigen Abzug der Bundeswehr am Hindukusch gefordert. Wer seine staatlich alimentierte Förderexistenz - fast ein Drittel der deutschen Olympiastarter sind Angehörige von Sportfördergruppen der Bundeswehr, knapp die Hälfte aller deutschen Goldmedaillen wurden von ihnen errungen - nicht gefährden wollte, der hielt sich besser mit die Moral der Truppe zersetzenden Äußerungen zurück und spielte statt dessen den vermarktungsgerechten und nach westlicher Lesart politisch gefälligen Vorzeigesportler. Die fremdnützige Politisierung des Leistungssports findet indessen auf Ebenen statt, die nicht ferner von der Frage liegen könnten, die Sportler im urdemokratischen Sinne von den Zwängen ihrer Passion und Profession zu befreien. Im vorherrschenden Diskurs wird der vielbeschworene "mündige Athlet" ausschließlich zum Funktionspartikel nationaler Leistungsschauen und transnationalen Kapitals degradiert.

15. September 2008