Schattenblick →INFOPOOL →SPORT → MEINUNGEN

KOMMENTAR/011: Speedo-Streit - technologische und soziale Paßförmigkeit im Schwimmsport (SB)



Das berühmte Wort des Kulturkritikers Theodor W. Adorno, der moderne Sport "sucht dem Leib einen Teil der Funktionen zurückzugeben, welche ihm die Maschine entzogen hat. Aber er sucht es, um die Menschen zur Bedienung der Maschine um so unerbittlicher einzuschulen. Er ähnelt den Leib tendenziell selber der Maschine an. Darum gehört er ins Reich der Unfreiheit, wo immer man ihn auch organisiert" [1], hat an Aktualität nichts eingebüßt, auch wenn sich die Zeiger der Uhr mittlerweile um fast ein halbes Jahrhundert Sporttechnologieentwicklung weitergedreht haben. Das zeigt der Streit um die rekordträchtigen Hightech-Ganzkörperanzüge im Schwimmsport auf mustergültige Weise.

Die beiden deutschen Spitzenschwimmer Thomas Rupprath und Helge Meeuw hatten bei der kürzlichen Kurzbahn-EM in Rijeka für einen Eklat gesorgt, als sie aus Protest gegen angeblich nicht konkurrenzfähige Schwimmanzüge von Adidas, die zu tragen sie aufgrund des Ausrüstervertrages des Deutschen Schwimm-Verbandes (DSV) mit dem Sportartikelhersteller gezwungen waren, lediglich in Badehose ins Becken sprangen. Mit ihrer Aktion wollten die dann auch sportlich abgeschlagenen DSV-Schwimmer auf eine generelle Lösung der Anzug-Problematik im Schwimmsport drängen. Die Strafe folgte auf dem Fuße, und sie betraf gleich den gesamten Schwimmverband: Adidas, seit 2004 Hauptgeldgeber des DSV, beendete den lange schon schwelenden Streit mit der fristlosen Kündigung des Sponsorenvertrages, was jährlich ein Loch von knapp einer Million Euro in die klamme Verbandskasse reißen dürfte.

Die Abhängigkeit der Sportler und Funktionäre von der Sportartikelindustrie könnte indessen nicht größer sein. Davon zeugen nicht nur die zehn Welt- und 14 Einzel-Europarekorde in Rijeka durch die internationale Konkurrenz, der das DSV-Team ohne die entsprechenden Hightech-Anzüge meist hinterherschwamm, sondern auch die mehr als 100 Bestzeiten (!) im internationalen Schwimmsport allein in diesem Jahr, die zum allergrößten Teil mit dem "Wunderanzug" der australischen Firma Speedo ("LZR Racer") erzielt wurden. Eine solche Rekordflut hat es im Schwimmsport selbst während der Hochdopingzeiten in den 1980er Jahren nicht gegeben. Kein Wunder, daß man nun vom "textilen Doping" spricht. Der Internationale Schwimmverband (Fina), der von den Herstellern der Hightech-Anzüge Sponsorengelder kassiert, hatte ihren Einsatz kurz vor Olympia 2000 in Sydney erlaubt.

Längst hat sich indessen die frühere Skepsis gegenüber dieser Rekordtechnologie, es handele sich dabei um "Marken-Psychoterror", "PR-Mache" oder "Massenhysterie", in Schall und Rauch aufgelöst. Schon als bei den Olympischen Spielen in Peking reihenweise Weltrekorde in Speedo-Anzügen geschwommen wurden, war der in Sportlerkreisen weit verbreitete Glaubenssatz, nicht der Anzug schwimme schnell, sondern der Mensch, pulverisiert worden.

Adornos Wort, der moderne Sport ähnele "den Leib tendenziell selber der Maschine an", wäre insoweit zuzuspitzen, als der Athletenkörper durch und durch Produkt und Abbild gesellschaftlicher Arbeits- und Produktionsweisen, also auch der Wissenschafts- und Technologieentwicklung ist.

Die mechanische Zurichtung der Schwimmer fängt schon damit an, daß sie auf Bahnen gezwungen werden, welche den arbeitenden Körper dazu bringen, Richtung für den Akkordtakt zu halten. Geradezu klassisch spiegelt sich hier die eigentlich überwunden geglaubte Industrie- und Fließbandarbeit Taylorscher Prägung in der Monotonie des immer gleichen Bewegungsablaufs. Um überhaupt Leistung bemessen zu können, bedarf es entweder des sozialen Vergleichs im Wettkampf oder des Wettlaufs gegen einen mechanischen Taktgeber, auch Uhr genannt. Legale und illegale pharmakologische und medizinische Hilfen sowie spezielle Ernährung tun ein übriges, um die Körpermaschine unter Volldampf zu setzen. Zur Optimierung der Arbeit und Steigerung der Leistung hat die (Arbeits- und Sport-) Wissenschaft Wege, Mittel und Methoden ersonnen, dem Körper nicht nur letzte Kraftreserven abzupressen, sondern den Schwimmern nun auch noch prothetische Hüllen auf den Leib zu schneidern, die ihre Bewegungen auf eine Weise schienen, daß sich daraus meßbare Leistungszuwächse ergeben.

Der neue, rund 500 Euro teure Speedo-Anzug, der in Zusammenarbeit mit der Weltraumbehörde Nasa entwickelt wurde, ist komplett verschweißt, hat keine Nähte und eine wasserabweisende Oberfläche, was den Strömungswiderstand des Körpers um etliche Prozente gegenüber der Menschenhaut verringert. Der aus Polyester und Elasthan bestehende Anzug, der spezielle Einsätze aufweist und dessen Reißverschluß mit einem dünnen Streifen Neopren unterlegt wurde, bringt nicht nur mehr Luft zwischen Körper und Wasseroberfläche, was den Auftrieb erhöht, sondern erzeugt auch einen mechanischen Druck auf den gesamten Bewegungsapparat, dem der Schwimmer durch eine veränderte Gesamtkörperspannung entspricht. Man könnte auch sagen, daß durch die äußere Kompression die Schwung- und Bewegungsräume mechanisch so eingeengt werden, daß sie sich, quasi als Quetschprodukt, in eine bestimmte Verlaufsrichtung Bahn brechen müssen. Tests bei Doppelolympiasiegerin Britta Steffen - die übrigens Adidas trägt, mit Speedo aber wohl noch schneller schwimmen könnte - sollen ergeben haben, daß sie mit Anzug vier Zentimeter höher springen kann als ohne und zudem beim Absprung vom Startblock eine höhere Geschwindigkeit erreicht.

Außerdem werde durch die Kompression eine erhöhte Pumpleistung des Herzens erreicht, erklärte Schwimm-Bundestrainer Örjan Madsen. Das läßt sich bewegungsphysikalisch auch so deuten, daß die inneren Schwung- und Bewegungsräume des Körpers durch den sehr engen Anzug so zusammengestaucht werden, daß das Herz zu rasen anfängt - Platzprobleme also durch kürzere und schnellere Pumpbewegungen zu kompensieren sucht.

Der Ganzkörperanzug, den Schwimmer sich niemals freiwillig antun würden, bestünde nicht der von allen akzeptierte "Systemzwang" der Wettkampfkonkurrenz und Rekordjagd, verleiht dem Körper zudem mehr Stabilität und Formfestigkeit. An diesem Beispiel wird besonders deutlich, daß die maschinellen Vorgaben den Leib formen, ja regelrechte Schwimmertypen, die sich an Kraftmaschinen ein bestimmtes Bewegungsverhalten eingeschult haben, kreieren. So werden durch die Hightech-Anzüge "neuerdings Typen mit wuchtigen Oberkörpern begünstigt, die im Wasser trotz ihrer Muskelberge nun keine Stabilität mehr einbüßen. Plötzlich kraulen Sportler zu Rekorden, die vorher niemand kannte, Muskelprotze, wie sie dem Schwimmen bisher fremd waren", berichtete die Süddeutsche Zeitung (16.12.08) über das "Desaster in Neopren". Schlanke, geschmeidige Schwimmerkörper werde es bald nicht mehr geben.

In welche mechanische und technologische Paßform die Athleten auch immer gepreßt werden, die Konditionierung der Schwimmer geht weit über den physischen Ausdruck hinaus. Als Paradebeispiel kann hierfür das "System Steffen" (DOSB-Presse) genannt werden, deren zwei Goldmedaillen von Peking das Züchtungsprodukt sozialen und materiellen Hochtechnologieeinsatzes darstellt. Die 25jährige Super-Kraulerin, die jahrelang als psychisch wenig stabiles Sensibelchen galt, wurde durch ein Betreuungssystem aus Schwimmtrainern, Psycho- und Physiotherapeuten, Sportärzten, Laufbahnberatern und Leistungsdiagnostikern sowie ausgiebigen Tretmühleneinsätzen im biomechanischen Kraftlabor und Strömungskanal konsequent auf Gold getrimmt.

Wie sehr sporttechnologische Paßförmigkeit und sozialer Konformismus miteinander korrespondieren, mag die Bereitschaft von Britta Steffen unterstreichen, wie beim kürzlichen "Anti-Doping-Forum" in Berlin geäußert, sich um der Glaubwürdigkeit von Leistungen und Medaillen willen die Grenzen der persönlichen Freiheit vom Kontrollsystem so weit wie möglich einschränken zu lassen. Man müsse bereit sein, sich gläsern zu machen, so die über den DOSB-Pressedienst (2.12.08) verbreitete Botschaft der besten deutschen Schwimmerin an die Sportkolleginnen und -kollegen.

Um den kontrolltechnischen Zugriff der "Dopingpolizei" auf den Athletenkörper möglichst lücken- und problemlos zu gestalten, wartete sie zugleich mit einem Verbesserungsvorschlag auf. "Man könnte doch am Schlüsselbund oder anderswo einen Chip anbringen, um damit noch besser zu orten, wo sich eine Sportlerin und ein Sportler gerade aufhalten. Gut möglich, dass die 'elektronische Fußfessel' der Preis ist, den die modernen Helden der Arena im Ringen um einen sauberen Sport und zum Schutz der ehrlichen Leistung zu zahlen bereit sein müssen", zitierte der DOSB seine Vorzeigeschwimmerin und aktualisierte damit einmal mehr das Wort von Adorno, daß der moderne Sport ins Reich der Unfreiheit gehöre, wo immer man ihn auch organisiere. Gibt es noch Ohren, die diese Botschaft hören, oder hat die Anti-Doping-Propaganda, die auf dem aberwitzigen Konstrukt der "natürlichen" Leistungssteigerung fußt, schon sämtliche Sporttreibende indoktriniert?

[1] Theodor W. Adorno im 1963 erschienenen Band "Prismen" mit dem Titel "Veblens Angriff auf die Kultur", S. 80.

21. Dezember 2008