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KOMMENTAR/035: Dwain Chambers - gefangen im Pranger- und Schuldsystem des Profisports (SB)



Die Lanze, die Richard Pound, langjähriger IOC-Vizepräsident und Chef der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA), dem Scheine nach für den Weltklasse-Leichtathleten Dwain Chambers bricht, indem er sich für den Start des ehemaligen Dopingsünders bei den Olympischen Sommerspielen 2012 in London ausspricht, wirft ein Schlaglicht darauf, wie sehr im galoppierenden Anti-Doping-Kampf das Willkürprinzip herrscht. Wenn schon ein juristisch geschulter Sporttechnokrat wie Pound, der immer an vorderster Stelle agiert, wenn es darum geht, die offenkundigsten Widersprüche des organisierten Leistungs- und Spitzensports im Sinne seiner größten Nutznießer zu regulieren, sich für die "Persona non grata" Dwain Chambers einsetzt, von welch Geist müssen dann erst all die anderen Sportfunktionäre beseelt sein, die bislang die Klappe hielten oder an Chambers ein Exempel für einen "forcierten" Anti-Doping-Kampf statuieren wollen?

Man muß dem repressiven Leistungssport nicht einmal kritisch gegenüberstehen um zu erkennen, daß im Fall des britischen Leichtathleten mit zweierlei Maß gemessen wird.

Dwain Chambers war im Zusammenhang mit dem kalifornischen Balco-Labor mit der Designerdroge THG erwischt und im November 2003 für zwei Jahre gesperrt worden. Aufgrund einer vom Britischen Olympischen Komitee (BOA) vor einigen Jahren verbrochenen Regel, wonach einmal positiv getestete Athleten nie wieder an den Olympischen Spielen teilnehmen dürfen, wurde Chambers der Start bei den Sommerspielen in Peking verwehrt. Eine Klage gegen den Olympia-Bann wurde vom britischen High Court ungeachtet der Tatsache, daß kein anderes IOC-Mitgliedsland eine solch drakonische Regel verficht, die für Profisportler praktisch einem Berufsverbot auf Lebenszeit gleichkommt und sich nicht mit EU-Gesetzen der freien Arbeitsplatzwahl verträgt, abgeschmettert.

Normalerweise dürfen Athleten nach Verbüßung der zweijährigen Regelsperre wieder uneingeschränkt an allen Sportwettbewerben teilnehmen, da Prinzipien der Rachejustiz oder Mehrfach- und Endlosbestrafungen nach europäischen Rechtsstandards nicht zulässig sind.

Doch die Praxis sieht anders aus. Die Euromeetings, ein Kartell von rund 40 europäischen Veranstaltern mit über 50 Leichtathletik-Sportfesten, hatten den Briten, der sich einst durch ein offenherziges BBC-Interview um Kopf und Kragen geredet hatte, im Februar 2008 zur "Persona non grata" erklärt. Die größten europäischen Veranstalter nutzen ihre Monopolstellung aus und verweigern Chambers bis heute eine Einladung, so daß der finanziell völlig abgebrannte Athlet, der sich erfolglos auch im American Football und Rugby um einen Broterwerb versucht hatte, nur noch auf wenigen kleinen Leichtathletik-Meetings starten kann, und dies keineswegs problemlos und meist nur "für ein' Appel und ein Ei", wie Heinz Hüsselmann, Veranstalter des kleinen Sportfestes in Biberach, bestätigte. Dort konnte Chambers im vergangenen Jahr an den Start gehen, nachdem die Leichtathletik-Dachverbände ihn auch bei der Europameisterschaft 2006 und bei den Hallenweltmeisterschaften 2008 hatten starten lassen. Niemand dürfe sich anmaßen, einem jungen Menschen einen zweiten Anlauf zu verwehren. Das mache man auch nicht bei Wirtschaftskriminellen oder anderswo, sagte Hüsselmann damals, der sich für seine Haltung, die eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist, alle naslang gegenüber der Anti-Doping-Journaille rechtfertigen mußte.

Abseits des Sport-Medien-Mainstreams wird der dunkelhäutige Sprinter bereits als Gefangener eines modernen Pranger- und Sklavenhaltersystems im kommerziellen Sport angesehen: Als ehemaliger Doper wird er nicht nur dauerhaft sozial geächtet und beruflich geschnitten, sondern auch in einer Art Schuldknechtschaft gehalten. Zwar sei nach Angaben von IAAF-Präsident Lamine Diack "seine Strafe beendet", er sei wieder startberechtigt. Doch es habe noch eine zweite Bedingung gegeben, wie Diack in einem Interview mit Zeit-online (18.3.09) ausführte: "Er muss seine Preisgelder zurückzahlen. Weil er sagte, dass er kein Geld hatte, bekam er die Auflage, 30, 40 Prozent von seinen Prämien zurückzuzahlen."

Die Statuten des Weltverbands IAAF (Paragraph 40, Absatz 11) sehen für die während der gedopten Zeit erworbenen Titel und Rekorde nicht nur deren Aberkennung vor, auch alle Prämien, die ein Athlet dabei kassiert hat, sind zurückzugeben. Nach dpa-Angaben soll der Leichtathletik-Weltverband IAAF insgesamt 240.000 Dollar an Prämien von ihm zurückverlangt und rund die Hälfte erhalten haben. Erwägungen, Chambers bis zur Zahlung des Restgeldes zu suspendieren, seien jedoch verworfen worden. Der Grund ist klar: Verdient er nichts, dann kann er dem Weltverband auch nicht die Prämienschulden zurückzahlen.

Kurioserweise wird den Pfennigfuchsern des Weltverbandes aber durch die Krämerseelen des Euromeetings ein Strich durch die Rechnung gemacht, denn die hatten 2007 beschlossen, im Bestreben um einen forcierten Anti-Doping-Kampf "verstärkt" auf Einladungen von Athleten mit Dopingvergangenheit verzichten zu wollen. Chambers steht auf einer von Euromeetings veröffentlichten Liste mit 559 Leichtathleten, die zwischen 2003 und 2008 wegen Dopings gesperrt worden sind und die nun ganz nach Belieben der Veranstalter berücksichtigt oder übergangen werden können.

Während andere Athleten - übrigens auch in England (siehe u.a. Christine Ohuruogu, die nach einjähriger Sperre Weltmeisterin und Olympiasiegerin werden durfte) - durchaus "eine zweite Chance" bekommen, wird an Chambers, der nie ein Hehl aus seiner Dopingvergangenheit gemacht hatte, gnadenlos der moralische Rigorismus der Doping-Hexenjäger durchexerziert. Obwohl der 31jährige weiterhin das Nationaltrikot seines Heimatlandes trägt, im März in Turin den Hallen-Europarekord über 60 Meter einstellte, demnächst bei der Team-EM in Portugal im Einzelrennen an den Start gehen und wohl auch an den Weltmeisterschaften im August in Berlin teilnehmen wird, kniffen die örtlichen Veranstalter sowohl des kürzlichen Internationalen Stadionfestes (ISTAF) in Berlin als auch des kleineren Anhalt-Meetings in Dessau den Schwanz ein. Auf massiven Druck der Veranstaltungskartelle des Euromeetings wie des German Meetings wurde Chambers kurzfristig wieder ausgeladen. Und zwar entgegen den persönlichen Überzeugungen der örtlichen Veranstalter. So meinte etwa ISTAF-Direktor Gerhard Janetzky: "Ich halte es weiterhin prinzipiell für richtig, ihn starten zu lassen. Es ist dem Berliner Publikum nicht vermittelbar, warum Chambers beim DKB-ISTAF nicht laufen darf, dann aber bei der WM dabei sein kann." Trotz Zähneknirschens ließ er gegenüber dem Fachblatt "leichtathletik" aber keinen Zweifel daran, wem das finanziell auf dem Zahnfleisch kriechende ISTAF in der Geschäftswelt Gefolgschaft zu leisten hat: "Gleichzeitig erklären wir uns jedoch solidarisch mit der Mehrheit der Kollegen der anderen Meetings." Auch der Direktor des Dessau-Meetings, Ralph Hirsch, bestätigte gegenüber sid, daß die Ausladung Chambers' nicht freiwillig erfolgte: "Die Entscheidung haben wir wegen der Reaktionen aus unserem Umfeld getroffen." Womit maßgeblich die Intervention der German Meetings gemeint war.

Wenn sich nun auch der langjährige WADA-Chef und IOC-Vizepräsident Richard Pound mit mildem Tadel an das britische NOK (Pound: "Wenn das Urteil laut Welt-Anti-Doping-Code zwei Jahre waren und Großbritannien den WADA-Code konsequent umsetzt, ist dies die einzig zulässige Strafe.") für den reuigen Chambers einsetzt, soll das vor allem davon ablenken, mit welch neuartigen Schikanen auch das IOC den Athleten nach positiven Befunden (u.a. durch Haschischrauchen oder durch kontaminierte Nahrung) das Leben sauer machen will. So hatte das IOC-Exekutivkomitee am Rande der Leichtathletik-WM 2007 in Osaka eine Klausel ausgearbeitet, die nach den Spielen in Peking in Kraft trat und bei den Winterspielen 2010 in Vancouver erstmals praktiziert werden soll. Demnach sollen Doper für die folgende Olympiade ein Startverbot erhalten, wenn sie mindestens sechs Monate gesperrt waren. Auch diese Willkür-Regel, die eine schwächere Form des britischen Olympia-Banns darstellt, verträgt sich nicht mit EU-Recht, löst aber offensichtlich sowohl bei den Funktionsträgern des organisierten und gewerblichen Sports als auch in der vorgeblich kritischen Presse keinerlei Proteste aus. Und die aktiven Sportler, deren Vertreter in den Athleten-Kommissionen vor Systemkonformität strotzen, sind entweder viel zu brav oder zu eingeschüchtert, um ihre Stimme gegen den dopingpolitisch korrekten Meinungsstrom zu erheben. Wie so oft gibt es für die meisten erst dann ein böses Erwachen, wenn sie selbst einmal am Kanthaken der Doping-Inquisition hängen.

21. Juni 2009