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KOMMENTAR/081: Gefährliche Gratwanderung - "Diabetes-Runner" im Marathonfieber (SB)



Als kürzlich Hannovers Oberbürgermeister Stephan Weil (SPD) rund 200 Meter vor der Ziellinie des Halbmarathons mit Kreislaufproblemen zusammenbrach, so daß er sein ersehntes "Finish" auf der Trage der rasch herbeigeeilten Johanniter-Unfallhelfer bzw. auf dem Transport ins Krankenhaus erlebte, brauchte er für den Spott nicht zu sorgen. Er habe nicht genug Flüssigkeit zu sich genommen, lautete noch die mildeste Form des Tadels. "Dieses Jahr hat er halt ein bißchen Pech gehabt", konstatierte ein Stadtsprecher.

Der 51jährige passionierte Läufer habe in Sichtweite des Rathauses schlapp gemacht, berichtete dpa mit leicht spöttischem Unterton. Böse Zungen unkten gar, daß der Stadt-Chef seinen Kreislaufzusammenbruch öffentlichkeitswirksam inszeniert habe - um den Wählern zu zeigen, 'seht her, hier schwingt ein Politiker nicht nur volkstümliche Reden vom Rathausbalkon herunter, sondern teilt auch die sportliche Leidenschaft des einfachen Bürgers; er schwitzt und schuftet nicht nur für die Volksgesundheit, sondern kollabiert auch bürgernah'. "Ich habe vor und während des Laufes zu wenig getrunken. Die Ärzte legten mich an den Tropf, haben mich wieder aufgefüllt. Ich ärgere mich am meisten über mich selbst. So was passiert mir nicht noch mal!", zitierte die Bild-Zeitung (3.5.10) "unseren OB", der anderntags, nunmehr aufgefüllt mit Nährstoffen, wieder fit wie ein Turnschuh seinen Dienst versah.

Zuviel darf aber auch nicht getrunken werden, weiß die Läuferszene! Denn das kann auch einer der Gründe sein, warum Marathonläufer vorzeitig das Zeitliche segnen. Nebst anderen Gründen natürlich, die nicht immer so eindeutig sind, selbst nach Autopsien nicht. "Bei organisierten Marathon-Meetings stirbt von 50.000 Teilnehmern im Durchschnitt nicht mehr als einer", lautet hier die makabere Faustformel [1]. Da andererseits auch bekannt ist, daß in Deutschland etwa 900 Sportler pro Jahr den "plötzlichen Herztod" sterben, muß davon ausgegangen werden, daß die tatsächliche Zahl der Marathon-Toten noch viel höher liegt, da auch Trainings-Tote mit eingerechnet werden müßten.

Den letzten Toten gab es vor wenigen Wochen beim 30. Berliner Halbmarathon (20.000 Teilnehmer) zu beklagen. Ein 43jähriger Mann kollabierte nach offiziellen Angaben 500 Meter vor dem Ziel. Trotz einer versuchten Wiederbelebung war er nicht mehr zu retten. Aber "die Rettungskette lief hervorragend, unsere Reanimationsteams waren direkt vor Ort", klopfte sich Jürgen Lock, Geschäftsführer des Veranstalters, auf die Schulter.

Langlauftote werden in der Regel als Kollateralschäden einer ansonsten guten, weil gesunden Sache abgehakt. Man nimmt sie hin, weil insgesamt gesehen "körperliche Aktivität - insbesondere Ausdauersport - einen hohen Beitrag zur gesundheitlichen Prävention sowie zur Erhöhung der (alltäglichen) Leistungsfähigkeit und Lebensqualität darstellt", wie Dr. Lars Brechtel, Medical Direktor vom SCC-RUNNING in Berlin, mit Verweis auf internationale Studien ausdrücklich betont. [2]

Wer regelmäßig längere Strecken läuft, so das verbreitete Argument, kräftige u.a. seinen Herzmuskel und die darin verlaufenden Blutgefäße, was wiederum die Belastbarkeit erhöhen und vor gefährlichen Erkrankungen wie etwa dem Herzinfarkt schützen soll. Daß manche Läufer deshalb auch den Herztod sterben - mitunter wird durch Training sogar der umgekehrte Effekt erzielt, nämlich eine Herzmuskelschwäche -, ist eben Pech. Was vorher gesundmachende Belastung hieß, heißt dann im nachhinein "ungesunde Überlastung", "falsches Training" oder, wenn die Schuldfrage psychologisiert wird, "persönliche Selbstüberschätzung" respektive "Unvernunft". "Im Regelfall", so weiß Dr. Lars Brechtel, passiere ein nicht unfallbedingter Tod im Sport "auf der Grundlage von akuten oder chronischen bzw. angeborenen individuellen Vorerkrankungen sowie akuten oder chronischen Infekten. Bei den vorgenannten Erkrankungen ist die individuelle Belastbarkeit zum Zeitpunkt der körperlichen Aktivität herabgesetzt, so dass bei Überschreiten der Belastbarkeitsgrenze ein erhöhtes Risiko besteht". So kann man das natürlich auch ausdrücken.

Ein gesunder Finisher, der allen Belastungsschmerzen zum Trotz auch noch für das Erinnerungsfoto glücklich lächeln kann, stellt selbstverständlich die Krönung dar. Dabei gilt längst als offenes Geheimnis, daß ohne die regelmäßige Einnahme von Schmerzmitteln und anderen pharmazeutischen Hilfen intensives Training und Höchstleistungen kaum möglich sind. Das betrifft nicht nur Leistungs- und Profi-, sondern auch Hobby- und Freizeitsportler, speziell die Langläufer. Eine Studie der Universität Erlangen-Nürnberg [3] hatte ergeben, daß von 1024 befragten Teilnehmern des letztjährigen Bonn-Marathons mehr als 60 Prozent bekannten, vor dem Start Medikamente gegen Schmerzen in Gelenken und Muskeln eingenommen zu haben - zum Teil prophylaktisch, zum Teil wegen akuter Symptome. Bedenklich sei, sagte Prof. Kay Brune vom Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie der Uni Erlangen-Nürnberg, daß manche Teilnehmer nach Langstreckenläufen, Radrennen und Schwimmveranstaltungen unter akuten Störungen der Nierenfunktion und der Funktion des Magen-Darm-Traktes litten. "Manche der Läufer müssen sogar unmittelbar nach der sportlichen Höchstleistung operiert werden und verlieren Teile der inneren Organe." Auch anläßlich des Boston-Marathons 2002 gaben 50 Prozent der männlichen und 60 Prozent der weiblichen Teilnehmer an, vor dem Start Schmerzmittel geschluckt zu haben.

Dabei geben sich die Rennärzte, die oftmals selbst überzeugte Marathonläufer sind und eine entsprechende Philosophie vertreten, bei der medizinischen Versorgung doch so viel Mühe! "Das äußert sich zum Beispiel in so Konzepten, daß wir Ärzte an der Strecke nicht nur im Rahmen von Medical Points vorhalten, zu denen also Läufer gebracht werden, die bereits von der Strecke getragen worden sind, sondern unsere Versorgung setzt noch viel eher ein", erklärte Dr. Ralph Schomaker, Rennarzt des Volksbank-Münster-Marathons, Mit-Geschäftsführer des Zentrums für Sportmedizin in Münster und Leiter des Medizin-Kompetenzsystems von German-Road-Races, in einem Videoclip bei www.laufen-aus-leidenschaft.de. "Wir haben im Läuferfeld Ärzte, die die Läufer auf der Strecke begleiten. Das Ziel unserer gesamten medizinischen Mannschaft ist, den Läufern das Finishing zu ermöglichen und nicht, die Läufer aus dem Rennen zu nehmen."

Ärztliches Ethos und sportlicher Ehrgeiz schöpfen somit aus der gleichen Quelle, nämlich aus Leistung und Anerkennung. Je mehr Marathonläufer durch die ärztliche Heil- und Fürsorge über die Ziellinie gebracht werden, desto glücklicher die Teilnehmer, desto besser die Arbeit des medizinischen "Kompetenzteams", desto größer der (kommerzielle) Erfolg der Veranstaltung, desto mehr Neuanmelder. "Kaum ein Läufer, der bei uns behandelt worden ist, hat sein Ziel nicht erreicht. Darauf sind wir schon ein bißchen stolz", so Rennarzt Ralph Schomaker.

Ehrgeiz und Stolz der beteiligten Ärzte und Sportler dürften auch eine gewichtige Rolle beim 11. Mainzer Gutenberg-Marathon am 9. Mai gespielt haben. Der Titelsponsor Novo Nordisk hatte die Bekämpfung der Diabetes-Epidemie ins Zentrum seines Engagements gerückt, wie der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV), der zeitgleich die Deutschen Marathon-Meisterschaften in Mainz austrug, auf seiner Internetseite berichtete [4]. "In Mainz wurde dem Diabetes davongelaufen", lautete die plakative Heilsbotschaft, die auch in den überregionalen Medien kursierte. Die Frankfurter Rundschau (FR) [5] brachte einen Vorbericht über eine aus zehn Personen bestehende Trainingsgruppe, die mit Diabetes am Halbmarathon in Mainz teilnahm. Die "D-Runner" waren gründlich medizinisch durchgecheckt und nach einem von Ex-Weltklasse-Hürdenläufer Dr. Harald Schmid konzipierten Trainingsplan vorbereitet worden. Medizinische Betreuung vor, während und nach dem Halbmarathon war ebenfalls garantiert.

"Sport kann bei Diabetikern wie ein Medikament wirken", sagte eine der Teilnehmerinnen. "Im Idealfall können sogar die Diabetes-Medikamente reduziert - und das Selbstwertgefühl der Läuferinnen und Läufer erhöht werden", verkündete die FR. "Diabetesvorbeugung durch Bewegung" lautet indessen die Botschaft von Jörn Oldigs, Geschäftsführer von Novo Nordisk Deutschland, vor dem Hintergrund, daß die Zuckerkrankheit "immer bedrohlichere Ausmaße" annehme. In Deutschland, Spitzenreiter im europäischen Vergleich, sollen schätzungsweise 7,5 Millionen Menschen mit diagnostiziertem Diabetes leben, weitere Millionen seien noch nicht diagnostiziert. Vom "Medikament Bewegung" könnten Diabetiker enorm profitieren, so Dr. med. Franz-Jürgen Schell, Arzt und Pressesprecher von Novo Nordisk. "Wenn sie fachlich angeleitet werden, können viele Menschen mit Diabetes ihr Leben verändern und sogar sportliche Herausforderungen meistern."

Fassen wir also zusammen, was uns die Ärzte, die zusammen mit den Politikern über zu hohe Gesundheitskosten klagen, damit sagen wollen. Um Diabetes vorzubeugen (oder Bluthochdruck, Fettsucht, Blutverfettung, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Alzheimer, Krebs etc. pp.), sollen alle Menschen schon mal vorsorglich das Billig-Medikament "Bewegung" schlucken, etwa indem sie sich einem ein- bis zweijährigen Marathontraining (möglichst lebenslänglich) unterziehen, ehe sie sich vielleicht die volle Strecke zutrauen. Ausgenommen sind aber alle Angeschlagenen, Vorerkrankten, Schmerzgeplagten, Starkübergewichtigen, Erbkranken, familiär Vorbelasteten oder sonstwie Geschädigten! Die dürfen auf ärztliches Anraten nicht wegen des bedenklichen Risikoprofils - wer bleibt da eigentlich noch übrig? "Stoppen Sie das Training bei starken Schmerzen, suchen Sie einen Arzt auf und verzichten Sie lieber auf den Start bei Wettkämpfen", raten die Forscher der Uni Erlangen-Nürnberg. Und wenn die Marathonis, so wie sie es gelernt haben, auf die Zähne beißen, die Bewegungs- oder Belastungsschmerzen - mit oder ohne Schmerzmittel - überwinden und entgegen der Gefahrenprognose doch laufen, sind sie, die "Überehrgeizigen", selbst schuld an der Malaise!

Schuld sind sie aber auch, wenn sie nicht laufen und das Billig-Medikament verschmähen. Dann gelten die Sportmuffel nämlich als welche, die dem Sozialstaat auf der Tasche liegen und zu Lasten der Allgemeinheit gegen die eigene Gesundheit gehandelt haben.

Doch Ausdauersport sei nicht nur geeignet zur Vorbeugung von Diabetes Typ 2, der weitaus häufigsten Form dieser Erkrankung, berichtet der Leichtathletik-Verband, sondern er verbessere auch den Gesundheitszustand derjenigen, die schon erkrankt sind. Und hier kommt wieder das Pharmaunternehmen Novo Nordisk ins Spiel, das auf Laufevents für sein Konzept "Changing Diabetes - Diabetes verändern" wirbt. Das zum zweiten Mal ins Leben gerufene Modellprojekt "D-Run" kann überhaupt nur als Erfolg verkauft werden, weil die Diabetiker sich bei der Bewältigung der Bewegungstortur und des dadurch erhöhten gesundheitlichen Risikos strengster medizinischer Kontrolle unterwerfen müssen. Novo Nordisk macht also nicht nur Werbung für seine Medikamente, sondern verkauft auch ein engmaschiges Überwachungssystem. Nach der wissenschaftlichen Experimentierphase werden die halbmarathonlaufenden Typ-2-Diabetiker, deren Krankheit übrigens in Verbindung mit Übergewicht zunehmend häufiger als selbstverschuldetes "Wohlstandssyndrom" interpretiert wird, irgendwann auf sich allein gestellt sein. Wenn sie dann Fehler machen, wird es in den Medien nicht mehr heißen, "Mainzer laufen dem Diabetes davon", sondern "Unvernünftiger D-Runner beim Halbmarathon gestorben".

Anmerkungen:

[1] www.welt.de. Herztod beim Sport. Von Jörg Zittlau. 22.09.2007.

[2] www.scc-events.com. Fragen an den Sportarzt nach dem Tod eines Läufers beim Vattenfall Berliner Halbmarathon. 31.03.2010.

[3] Informationsdienst Wissenschaft. Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e.V. (DGSS). 10.10.2009.

[4] www.leichtathletik.de. Mainzer laufen dem Diabetes davon. 10.05.2010.

[5] FR-online.de. Medikament: Sport. Von Steffen Schneider. 05.05.2010.

17. Mai 2010