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KOMMENTAR/082: "Du bist Deutschland" - neoliberaler Party-Patriotismus erobert die Welt (SB)



Als die Bertelsmann Stiftung, einer der größten Think Tanks Europas, über die Medienmultiplikatoren begann, ihre neoliberale Sozial- und Wirtschaftspolitik unter das Volk zu bringen, fand sie im kommerziellen Spitzensport, der auf die Erzeugung konsensträchtiger Heldenerzählungen und emotionaler Feiergemeinschaften abonniert ist, nahezu ideale Bedingungen vor. Die Kampagne "Du bist Deutschland", die ein positives Nationalgefühl in der Bundesrepublik erwecken sollte, wurde im Rahmen der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 und über sie hinaus zu einem grandiosen Erfolg geführt. Während der Sozialstaat mit neoliberalen Konzepten wie der Agenda 2010 oder Hartz-IV-Regelungen fleißig demontiert wurde und deutsche Soldaten wieder ihre Stiefel in fremde Länder setzten, luden Politiker und Sportfunktionäre die Welt zu Gast bei Freunden ein und propagierten einen "gesunden" oder "positiven" Patriotismus, dem selbst linke Politiker auf den Leim gingen. Statt den sportiven Fahnenappell als Ausbund neoliberaler Verdummungspolitik zu entlarven, nahm der Fraktionschef der Linken im Bundestag, Gregor Gysi, gegenüber der taz die Sprachregelung des "positiven Patriotismus" auf und behauptete, hier entstünde "im Verhältnis zur eigenen Nation zum ersten Mal etwas Normales, Unverkrampftes, Souveränes". Anstatt den instrumentellen Charakter der patriotischen Phrase zur Beschwichtung sozialer Konflikte und zur Rechtfertigung imperialistischer Politik zu kritisieren, diagnostizierte Gysi bei der eigenen Generation ein "gestörtes Verhältnis zur nationalen Frage" und verordnete ihr, "einfach mal den Mund" zu halten. Unter dem salonfähig gewordenen Signum des "positiven Patriotismus" verteilt die Bundeswehr inzwischen "Ehrenkreuze für Tapferkeit" an deutsche Soldaten im Kriegseinsatz.

Anläßlich der Heim-WM 2006 riefen Politik und Wirtschaft auch die Standortinitiative "Deutschland - Land der Ideen" ins Leben, um ein positives Wirtschaftsbild im In- und Ausland zu vermitteln. Während blonde Mädels mit aufgemalten Nationalflaggen von Plakatwänden herunterlächelten, wurde das fußballnärrische Volk zum fröhlichen Mitmachen aufgefordert. "Wir sind dabei. Du auch?", hieß es da, oder "Jetzt offizieller Fan von Deutschland werden!" Schirmherr und Stichwortlieferant der Standort-Kampagne war Bundespräsident Horst Köhler. Der ehemalige Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) erklärte vor wenigen Tagen nach einem Blitzbesuch in einem deutschen Feldlager in Afghanistan gegenüber Deutschlandradio Kultur, es sei schon in Ordnung, wenn in Deutschland kritisch über den Einsatz der Bundeswehr diskutiert werde. Ein Land "unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit" müsse aber zur Wahrung seiner Interessen "im Zweifel" auch zu militärischen Mitteln greifen. Es gelte, "ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen" und sich somit negativ auf Handel, Arbeitsplätze und Einkommen auswirkten.

Mit anderen Worten: Nicht nur die "Sicherheit Deutschlands" wird angeblich am Hindukusch mit tödlichen Mitteln verteidigt, sondern auch unsere Wettbewerbschancen und Arbeitsplätze. Was für ein schönes "Land der Ideen" wir doch haben - überall nur friedliche Politiker, Bürger und Fans, die bei sportlichen Großereignissen ihre schwarz-rot-goldenen Fähnchen in den Wind halten, um der Welt glauben zu machen, wie freundlich und weltoffen die Wirtschaftsmacht Deutschland sei!

"Der Funke der Begeisterung und der Völkerverständigung" werde bei der Heim-WM "auf die ganze Welt überspringen", frohlockte damals Bundeskanzlerin Angela Merkel. Bei aller Fußball-Begeisterung dürfte bei den Rehhagel-Griechen, die von der deutschen Boulevardpresse inzwischen als "Pleite-Griechen" verspottet und mit übelsten Schmähungen bedacht werden, Ernüchterung eingekehrt sein. Die sich rhetorisch an der Euro-Stabilität festklammernden Standortinitiativen des ehemaligen Exportweltmeisters Deutschland haben das griechische Volk inzwischen zu einer Art Schuldknechtschaft unter der Gnadensonne von EU und IWF verdammt. Andere Länder werden folgen. Ob wenigstens die Helenen inzwischen begriffen haben, daß man von Brot-und-Spiele-Spektakeln, selbst wenn sie wie anläßlich der Olympiade 2004 im eigenen Land stattfinden, nicht satt wird?

Während in Deutschland "Sommermärchen" im Fußball und "Wintermärchen" im Handball abgefeiert wurden, setzte sich das neoliberale Austeritätsprogramm ungehindert fort. Mit einer harten Niedriglohnpolitik wurde die Berliner Republik Zug um Zug in ein Billiglohnland verwandelt, in dem immer mehr Menschen um ihre nackte Existenz kämpfen müssen. Aber treibt das die gebeutelte Bevölkerung zu politischen Massen-Demonstrationen auf die Straße? Mitnichten - die Masse gibt sich in den urbanen Partyzonen lieber kollektiven "Wir-sind-wieder-wer-Gefühlen" hin, gestiftet von Bertelsmann & Co. So war es bei der Leichtathletik-WM im vergangenen Jahr, und so war es auch bei der gerade beendeten Eishockey-WM in Deutschland.

"Wir sind wieder wer!", titelte die Süddeutsche Zeitung nach dem 2:1-Sieg der deutschen Eishockey-Nationalmannschaft über die Schweiz, der ihr bei der Heim-WM den Einzug in die Zwischenrunde erlaubte. Schon das siegreiche Auftaktspiel gegen Eishockey-Gigant USA diente der kommerzialisierten Legendenbildung. Mit nicht weniger als 77.802 Besuchern in der Fußball-Arena Auf Schalke stellten die Marketingexperten von Liga und Verband einen neuen Zuschauerweltrekord im Eishockey auf. Nach dem 2:1-Sieg über die Slowakei, der den Einzug ins Viertelfinale ebnete, war schon mehr erreicht, als man vor der WM zu hoffen gewagt hatte. "Das sind alles Krieger da draußen", sprach Bundestrainer Uwe Krupp, selbst in einen piekfeinen Anzug gehüllt, voller Stolz von seinen mit Protektoren gepanzerten Kufen-Cracks. Als sich dann die deutschen Sturmreihen erstmals seit Jahrzehnten wieder in das Halbfinale einer WM schossen, wurde erneut "Geschichte geschrieben", wie Spieler, Funktionäre und Medien begeistert jubelten. Daß sich neoliberales Polit- und emotionales Sport-Marketing bestens ergänzen, bezeugt der Umstand, daß den Sportfunktionären ein paar Jahre nach dem Anstoß der "Du-bist-Deutschland"-Kampagne der vaterländische Standort-Auftrag der Wirtschaft, nunmehr spaßgesellschaftlich geläutert und patriotisch entkrampft, wie selbstverständlich über die Lippen kommt. Erklärtes Ziel sei es auch gewesen, erklärte Franz Reindl, Generalsekretär des Deutschen Eishockey-Bundes in einem FAZ-Interview, "dass wir Deutschland gut präsentieren, sympathisch und herzlich".

In rund zwei Wochen startet in Südafrika die Fußball-WM. Dann soll auch in Deutschland wieder auf Hunderten von Party-Meilen und Fan-Plätzen Festtagsstimmung herrschen. Mehr als 1500 Veranstalter haben hierzulande eine Lizenz für Public Viewing beim Fußballweltverband FIFA beantragt. Die Technik des "soziokulturellen Gemeinschaftsglotzens", wie ein Sportsoziologe das gemeinsame Betrachten von Video- oder Großbildleinwänden einmal nannte, war erstmals bei der Fußball-WM 2006 in Deutschland im großen Maßstab zum Einsatz gekommen. Da dieses Konzept zur konsumtiven Befriedigung der Massen so billig wie erfolgreich war, haben es sowohl der südafrikanische Fußballverband als auch die FIFA übernommen. Neben den neun Spielorten im Gastgeberland sollen die 64 Spiele in sieben Metropolen auf vier Kontinenten öffentlich übertragen werden. Große Fan-Feste soll es in London, Mexiko-Stadt, Paris, Rio de Janeiro, Rom, Sydney und Berlin geben.

Die FIFA, die eine weltumspannende Party-Zone für das WM-Turnier in Südafrika ankündigte, hatte sich mit Berliner Antragstellern zunächst einen wochenlangen Streit um Lizenzen geliefert. Nachdem es erst hieß, der Weltverband müsse seine Sponsoren und die offizielle Fan-Meile in Berlin am Brandenburger Tor schützen, lenkte er schließlich ein und genehmigte auch Events mit kommerziellem Hintergrund. Von der Fanmeile in Berlin war bei der WM 2006 eine "Welle der Begeisterung durch ganz Deutschland geschwappt", berichtete dpa. "Fremde Menschen lagen sich in den Armen, teilten Freud und Leid - und das alles, weil sie gemeinsam vor einem Bildschirm dem Ereignis Fußball folgten", schrieb die Financial Times Deutschland.

Die Stiftung nationaler wie globaler Spaß- und Feiergemeinschaften wird um so mehr politisches Programm, je brüchiger die kapitalistische Wirtschaftsordnung und ihre neoliberalen Rezepturen werden. In Anbetracht dessen, daß die hiesige Regierung Hunderte von Milliarden Euro in die systemrelevanten Teile der Finanz- und Marktwirtschaft steckt, um zum Wohle der davon profitierenden Eliten weiter fleißig Arbeiterrechte abbauen, Lohnnebenkosten senken, das Gesundheitssystem demontieren, bürgerliche Eigenverantwortung stärken und staatliche oder kommunalverwaltete Betriebe und Versorgungsunternehmen privatisieren zu können, bedarf es schon ausgereifter Herrschaftstechnologien wie den party-patriotischen Sport, damit die Massen den Bertels- und Ackermännern nicht von der Fahne gehen.

24. Mai 2010