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KOMMENTAR/094: Caster Semenya - Spießrutenlauf bis ans Lebensende? (SB)



"Wir haben es satt, von Europäern angeglotzt zu werden", hatte sich der Präsident des südafrikanischen Athletikverbandes (ASA), Leonard Chuene, entrüstet, nachdem die 18jährige Caster Semenya bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Berlin im August 2009 zur öffentlichen Projektionsfläche für Betrugsvorwürfe wegen "falscher" Geschlechtszugehörigkeit und geschlechtlicher "Anormalitäten" geworden war. "Wir werden es nicht erlauben, daß unsere Kinder von Europäern ausgeforscht und begutachtet werden." Wenige Wochen später war der ASA-Chef seines Amtes enthoben worden, weil er u.a. zugeben mußte, Caster Semenya bereits vor der WM in Berlin ohne ihr Wissen einem Geschlechtstest unterzogen zu haben. Die Ausforschung und Begutachtung von Semenyas Geschlechtsmerkmalen, für die später der internationale Leichtathletik-Verband (IAAF) geschlagene elf Monate brauchte, hatte die ASA inoffiziell ebenfalls vorgenommen.

Das macht die offiziellen wissenschaftlichen Untersuchungen der IAAF aber keinesfalls sakrosankt. Im Gegenteil. Der Leichtathletik-Weltverband gab letzten Monat in einer knappen Pressemitteilung bekannt, daß der Prozeß, der 2009 im Fall Caster Semenya eingeleitet wurde, nun abgeschlossen worden sei. "Die IAAF akzeptiert den Beschluss eines Ausschusses von medizinischen Experten, dass sie mit sofortiger Wirkung startberechtigt ist", hieß es am 6. Juli. "Bitte beachten Sie, dass medizinische Details des Falles vertraulich bleiben und die IAAF keine weiteren Kommentare in dieser Angelegenheit abgeben wird." Damit darf die 800-Meter-Weltmeisterin, die unbestätigten Medienberichten vergangenen Jahres zufolge ein Zwitter sei, innenliegende Hoden statt Eierstöcke, keine Gebärmutter sowie einen mehrfach erhöhten Testosteron-Wert habe, als Frau starten.

Den pikierten Kommentaren, daß die IAAF das Ergebnis des angeordneten Geschlechtstests "wie ein Staatsgeheimnis hütet" (dpa), begegnete Semenyas Anwalt Greg Nott mit der Replik: "Warum sollte man das Resultat bekanntmachen? Würden sie wollen, dass man einen Bericht über ihr Geschlecht öffentlich macht?"

Die auch von besorgten Kritikern des gesamten Verfahrens geäußerte Frage, ob Caster Semenya womöglich von der IAAF dazu gezwungen wurde, sich "freiwillig" einer genitalen Operation oder einer Hormontherapie zu unterziehen, um sich passend für die medizinischen Raster der Zweigeschlechtlichkeit sowie die Vorgaben der Wettbewerbsideologen, die "Chancengleichheit" einfordern, zu machen, bleibt damit vorerst unbeantwortet. Noch hält hier der immer schwächer werdende Damm zur Wahrung der Persönlichkeitsrechte, die im Zusammenhang mit der Doping-Problematik bereits massiv zu Lasten der Athleten und zu Gunsten der Wettbewerbsfetischisten ausgehöhlt wurden. Der "gläserne Sportler", der sich jeder nur denkbaren Ausforschung und Begutachtung durch die Medizinalbürokratie zu überantworten hat, um seine Passion oder Profession auf den Schaubühnen des Weltsports warenförmig präsentieren, vermarkten und verkaufen zu können, strebt scheinbar unaufhaltsam seiner totalitären Vereinnahmung entgegen.

Dem entkommt auch Caster Semenya nicht, deren leidvolle Erfahrungen vor dem geschichtlichen Hintergrund von Kolonialismus, politischer Unterdrückung und "Zivilisierung" des afrikanischen Kontinents durch die Europäer - auch mit Hilfe der Herrschaftstechniken des Sports! - nicht von ungefähr mit dem Schicksal von Sarah Baartman verglichen wurden. Zwar wurde dieser Vergleich umgehend als spezifisch südafrikanischer "Angst-Komplex" zu entkräften versucht, doch die tragische Geschichte der in Europa wie ein wildes Tier begafften Sarah Baartman weist manche, gern tabuisierte oder verleugnete Parallele auf zur modernen Unterhaltungsindustrie mit ihren Sportanlagen und Arenen, in denen sich die Athleten den Blicken des Publikums, teilweise bis auf die Scham entblößt und bis zum körperlichen Ruin angetrieben, feilbieten, sowie ihren medizinisch-wissenschaftlichen Einrichtungen, in denen die Sportler physisch vermessen, präpariert, deformiert und wie Gefangene kontrolliert werden. Dies geschieht damals wie heute unter dem kulturellen Mantel vermeintlich ethisch vertretbarer Normen und in einem Geflecht aus freiwilliger Anpassung und offenem Zwang.

Das Khoikhoi-Mädchen Sarah Baartman war einst auf einer Sklavenplantage vom britischen Chirurgen William Dunlop "entdeckt" und mit dem Versprechen auf Ruhm und Reichtum nach London gelockt worden. Dort bediente die "Hottentotten-Venus" wegen ihrer physischen Besonderheiten - aus dem Blickwinkel der Europäer handelte es sich um "Abnormitäten" wie ein ausgeprägtes Gesäß, hängende Brüste und eine auffällige Vulva - nicht nur die Sensationslust und sexuellen Phantasien des Publikums, sondern befriedigte auch den naturkundlichen Forscherdrang der Anthropologen. Englische Wissenschaftler führten zahlreiche anatomische Untersuchungen an ihr durch, um ihre Theorien über schwarze Menschen zu verifizieren. Baartman, die sich meist nur mit einem Schurz bekleidet den voyeristischen Blicken ihrer Umwelt präsentierte, wurde die Hälfte der Einnahmen aus ihren Shows versprochen. Was sie in Wirklichkeit verdiente, ist umstritten. Später wurde sie auch nach Paris gebracht und dort dem zahlenden Publikum sowie Ärzten und Naturgeschichtlern vorgeführt. Der damals führende Anthropologe und vergleichende Anatom Georges Cuvier untersuchte und zeichnet sie. Besonders die Genitalien erregten sein wissenschaftliches Interesse. Als kranke Frau starb Sarah 1816 im Alter von 25 Jahren in Paris. Sofort sezierte Cuvier ihren Leichnam, entnahm ihm Gehirn und schnitt die Geschlechtsteile ab, um sie zu konservieren. Ein kolorierter Gipsabdruck des toten Körpers sowie Baartmans freipräpariertes Skelett wurden bis 1974 im Pariser Muse de l'Homme ausgestellt. Erst 2002, nach langem diplomatischen Tauziehen zwischen Frankreich und Südafrika, wurden ihre körperlichen Überreste in der Nähe von Kapstadt unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit in einem Staatsakt beigesetzt.

Wenn sich also manche Kommentatoren anläßlich der massenmedialen Vorführung von Caster Semenya als "geschlechtlicher Freak" an die wie ein Ausstellungsstück durch die Zuschauertheater und wissenschaftlichen Untersuchungskabinette gereichte Sarah Baartman erinnert fühlen, dann geschieht dies keinesfalls aus einer Laune oder Überempfindlichkeit heraus. Zumal auch im Fall Semenya mit den Interessen des kommerziellen Hochleistungssports in enger Verbindung stehende Wissenschaftler darüber befinden, was in Fragen von Trans- und Intersexualität von Sportlern künftig ethische, medizinische oder rechtliche Norm, die dann in wettkampfsportliche Richtlinien umgesetzt werden, zu sein hat. Die IAAF bemüht sich gerade darum, neue Regeln für Geschlechtstest auszuarbeiten. AFP-Meldungen ist zu entnehmen, daß eine IAAF-Arbeitsgruppe entsprechende Vorschläge ausarbeitet, die den IAAF-Verantwortlichen auf einer Vorstandssitzung im November zur Absegnung vorgelegt werden sollen.

Auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) arbeitet derzeit an neuen Richtlinien, um "weitere Intersex-Dramen" abzuwenden, wie die London Times (18.07.10) den IOC-Chefmediziner Dr. Arne Ljungqvist, der sich als Vizepräsident der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) bereits einen Namen als harter Hund der Doping-Inquisition gemacht hat, zitiert. Für Oktober sei eine Konferenz geplant. Zudem plädierte der Kontrollmediziner dafür, in Großbritannien ein "Globales Intersex Zentrum" aufzubauen. Menschenrechtsgruppen befürchten indessen, daß Ljungqvists Vorstellungen, wie die neuen Richtlinien auszusehen haben, sich an frühere Aussagen von Sebastian Coe anlehnen, den IAAF-Vizepräsidenten und Vorsitzenden des OK der Olympischen Spiele 2012 in London. Coe hatte in der Vergangenheit neue Befugnisse für die Sportverbände gefordert, damit sie künftig "verdächtige" Athletinnen aufgrund "vorläufiger Ergebnisse" präventiv ausschließen können.

Caster Semenya, die einen Start am 22. August beim Internationalen Stadionfest (ISTAF) in Berlin zugesagt hat, droht indessen ein erneutes Spießrutenlaufen. Zwar bemühen sich die Veranstalter, ihren Start nicht wegen der virulenten Geschlechtsfrage, sondern wegen ihrer sportlichen Leistung als "Attraktion" erscheinen zu lassen, Pressevertreter bezweifeln jedoch, ob sie "diese Geschichte" wirklich so leicht hinter sich lassen kann. So verlautete die Süddeutsche Zeitung (08.07.10, online): "Freunde, Verwandte und Berater des Mädchens feiern die IAAF-Entscheidung [von der Starterlaubnis als Frau - Anm. d. Red.] nun als Erfolg, aber das ist sie nicht. Die inzwischen 19-Jährige wird nur weiter bloßgestellt vor aller Welt. Caster Semenya wird Spekulationen über ihr Geschlecht hinter sich herziehen, wo immer sie antritt und solange sie läuft, womöglich über das Ende ihrer Karriere hinaus. Sie ist gezeichnet fürs Leben."

Die Frage drängt sich geradezu auf, ob eine Leistungssportindustrie, die ganz gezielt Unterschiede zwischen Menschen generiert und diese zum Vergnügen des Publikums zur Schau stellt (das englische Wort "Sport" bedeutet ursprünglich "Zeitvertreib, Spiel" und ist eine Kurzform von englisch "disport" "Vergnügen"), nicht jedem emanzipatorischen Anliegen, das sich nicht auf den rechtlichen Aspekt der Geschlechtergleichstellung beschränkt, diametral entgegensteht. Als noch nicht klar war, in welcher körperlichen Form sich Caster Semenya nach ihrer langen Pause befindet, erklärte der ISTAF-Direktor Gerhard Janetzky in einem Interview mit www.welt.de (15.07.10), daß man ihr zum jetzigen Zeitpunkt keinen Gefallen täte, "wenn wir sie verheizen in einem Rennen, wo die anderen sieben schneller sind als sie".

Mit anderen Worten: Um Caster Semenya dem Berliner Publikum als siegreiche Powerfrau zur Schau stellen zu können, müssen andere (weniger attraktive) Konkurrentinnen "verheizt" werden. Ist der Leistungsdarwinismus im Sport wirklich so erstrebens- und sehenswert?

16. August 2010