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KOMMENTAR/097: Europäisches Jahr gegen Armut verstärkt Angstreflexe (SB)



Was die Sportberichterstattung betrifft, so gibt es wohl keinen zweiten Radiosender in Deutschland, der so bienenfleißig wie der Deutschlandfunk Honig aus dem Leichnam der untergegangenen DDR saugt. Keine Woche vergeht, in der das einstige "Sport-Wunderland" nicht in seiner ganzen Niedertracht schwarzgemalt würde. Zwar weiß jeder um die politische Funktion des süßen Giftes, das die Bürgerinnen und Bürger davon ablenken soll, wie gallenbitter die kapitalistische Medizin schmeckt, die seit der politischen Wende dem Wir-sind-ein-Volk verabreicht wird. Doch diese Aufgekärtheit will nichts heißen, schließlich glaubt auch jeder, die sozialfeindlichen Botschaften der "Bild"-Zeitung zu durchschauen - und dennoch wird sie viel gelesen und hinterläßt ihre Spuren.

Vom "Wir sind das Volk" ist im vereinten Deutschland erst recht nicht mehr die Rede, auch im Deutschlandfunk nicht. Tiefer denn je ist "das Volk" in Arm und Reich gespalten, und die Schere klafft immer weiter auseinander - zu Gunsten der Vermögenden und einer steigenden Reichtumsquote. Laut aktuellen Zahlen des Sozialverbandes Deutschland (SoVD) sind in der Bundesrepublik 2,5 Millionen Kinder armutsgefährdet, d.h. jedes sechste Kind. Den geplanten Sozialkürzungen der Bundesregierung erteilte der SoSV eine klare Absage. Insbesondere die Streichung von 300 Euro Elterngeld für Hartz-IV-Empfänger mit Kindern werde deren Not erneut verschärfen.

Armut, das heißt für die rund 12 Millionen hierzulande davon betroffenen Menschen akuter Mangel an allem, was das Leben in der vermeintlichen Wohlstandsgesellschaft lebenswert macht. Tatsächlich nagen immer mehr am Hungertuch, abzulesen auch an der steigenden Zahl von sogenannten Lebensmitteltafeln in Deutschland. Der Vorsitzende des Landesverbandes der Tafeln von Mecklenburg-Vorpommern, Willi Grabow, teilte kürzlich mit, daß in seinem Bundesland inzwischen rund 25.000 Menschen, darunter 10.000 Kinder, derart versorgt werden. 2009 seien es noch 5.000 weniger gewesen, so Grabow. In Dresden versorgt die Tafel knapp 12.000 Bedürftige mit Lebensmitteln. Vor der Hartz-Reform waren es 6000 weniger. Bundesweit sind bereits mehr als eine Million Menschen auf die kostenlosen Essensangebote der Tafeln angewiesen.

Die alles andere als schicksalshaft über die Menschen hereingebrochenen sozialpolitischen Verheerungen im kapitalistischen Weltwirtschaftssystem hatten auch die Europäische Kommission bewogen, für das Jahr 2010 eine Öffentlichkeitskampagne mit dem Namen "Europäisches Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung", das in Deutschland unter dem Motto "Mit neuem Mut" steht, auszurufen. Die derzeit fast 84 Millionen Menschen, die in Europa laut offiziellen Angaben armutsgefährdet sind, lassen sich nicht mehr so ohne weiteres unter den Teppich kehren. Deshalb hat sich die EU, deren Klientelpolitik für die Interessen von Finanzkapital und Konzernen steht, entschlossen, im Jahr 2010 "das öffentliche Bewusstsein für die Situation der von Armut betroffenen Menschen" zu schärfen und "dem politischen Engagement der EU und der Mitgliedstaaten im Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung neuen Schwung" zu verleihen. Zu den wesentlichen Zielsetzungen des Europäischen Jahres (EJ) 2010 gehört, "den Anliegen von in Armut lebenden Menschen Gehör zu verschaffen und die europäischen Bürger sowie andere Akteure und Interessensträger für die Armutsproblematik zu sensibilisieren". Zu den prominenten Botschafterinnen und Botschaftern des EJ gehören aus dem Bereich des Sports Lira Bajramaj, Mitglied der deutschen Fußball-Nationalmannschaft der Damen, Imke Duplitzer, erfolgreiche Fechterin und Sportsoldatin, sowie Reinhold Beckmann, Fernsehmoderator und Fußballkommentator, in dessen ARD-Talkshow kürzlich der rechtspopulistische Ex-Beamte und -politiker Thilo Sarrazin eine Werbebühne für seine sozialrassistischen Thesen gegen "bildungsferne Migrantenfamilien" und Hartz-IV-Empfänger bekam. Letztere "Nichtsnutze" sind für Sarrazin seit jeher die reinsten Energieverschwender, weil sie erstens mehr zu Hause seien, zweitens es gern warm hätten und drittens viele von ihnen die Temperatur mit dem Fenster regulierten. Als Sparmöglichkeit nannte Sarrazin kalt Duschen: "Ist doch eh viel gesünder. Ein Warmduscher ist noch nie weit gekommen im Leben." Selbstverständlich könnten sich die Hartz-IV-Empfänger noch unter dem Regelsatz mit 3,76 Euro pro Tag "völlig gesund, wertstoffreich und vollständig" ernähren.

Nicht nur aufgrund der Sarrazin-Reden verstärkt sich unterdessen immer mehr der Eindruck, daß die Bewußtseinsschärfung oder Sensibilisierung für die Armutsproblematik, die das EJ 2010 bewirken möchte, bei einem hohen Prozentsatz der gesellschaftlichen Mittel- und Oberschicht nicht etwa Solidarität mit den sozial Schwachen, sondern das genaue Gegenteil auslöst. Aus Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg werden die Schwächsten der Gesellschaft noch entschiedener mit Gleichgültigkeit oder Verachtung gestraft, mitunter werden die "parasitären", "unwilligen" oder "leistungsbetrügerischen" Existenzen sogar zum eigentlichen Übel erklärt. Die umstrittenen Thesen Sarrazins, dessen politische Heimat nicht von ungefähr in der SPD liegt, die zusammen mit den Grünen die Verhartzung der Bundesrepublik im Zuge des neoliberalen Strukturwandels eingeleitet hat, sorgen derzeit für eine weitere Polarisierung in der Gesellschaft. Der aktuelle Medienhype um den ehemaligen Berliner Finanzsenator, der keineswegs nur auf Ablehnung stößt, sondern sich prominenter Fürsprecher (Enttabuisierer) aus dem linksliberalen bis rechten bürgerlichen Lager sicher weiß, scheint darauf angelegt, das rassistische Ressentiment mit Hilfe des Feindbildes "dummer Migrant muslimischen Glaubens" wieder salonfähig zu machen und der Bildung einer neuen Rechtspartei den Weg zu ebnen, die keineswegs nur Migranten oder Ausländer, sondern die Hatz auf alle gesellschaftlich Randständigen oder Ausgegrenzten zum Ziel hat.

Auch die Botschafterin des Europäischen Jahres, Imke Duplitzer, weiß um Armut und soziale Ausgrenzung. Beides seien ihr aus der Arbeit mit den Kindern von Arbeitslosen sowie aus Selbsterfahrung nicht fremd, sagte die sich offen zu ihrer Homosexualität bekennende Spitzensportlerin in einem Interview mit dem Deutschlandfunk (05.09.2010). Um so bedauerlicher, daß die 35jährige Sportsoldatin eine Gelegenheit verstreichen ließ, an prominenter Stelle mit Nachdruck auf die Nöte und Probleme der Armen und Ausgegrenzten aufmerksam zu machen. Statt dessen setzte es im Deutschlandfunk Seichtheiten wie der, daß man die Bürger nicht per gesetzlicher Regelungen "mitnehmen" könne, "sondern man muß jeden einzelnen Bürger auch im Herzen mitnehmen. Man muß da mit gutem Beispiel vorangehen, daß man einfach sagt, die Gesellschaft bewegt sich im Kopf und nicht per Gesetz".

In Anbetracht der Fülle gesetzlicher und arbeitsmarktpolitischer Regelungen zu Lasten vor allem der sozial Schwachen wie Steuersenkungen für Millionäre, Abbau sozialstaatlicher Leistungen, Liberalisierung der Arbeitsmärkte, Ausbau des Niedriglohnsektors, Privatisierung von Rente und Gesundheit und vieles mehr ist es mit frommen Herzenswünschen und Hoffnung spendender Diplomatensprache nicht mehr getan. Denn diese Verständnis und Verständigung heischenden Lockmittel hat die Gegenseite, die sich auch Gemeinwohl versprechender Wendungen bedient, längst zu eigenen Gunsten okkupiert. Vielleicht sollte sich Imke Duplitzer einmal im Erwerbslosen Forum Deutschland kundig machen, wo den unmittelbar von Armut Betroffenen schon seit langem jeder Sinn für herzensgute Worte abhanden gekommen ist. "In fast allen Euro-Ländern werden Schock- und Verarmungsprogramme beschlossen. Denn zumindest die Herrschenden sind sich einig: Wir zahlen nicht für unsere Krise, solange diejenigen stillhalten, die für uns immer bluten müssen", heißt es beispielsweise in einem bundesweiten Aufruf der Erwerbslosen-Initiative [1].

Dabei sind Armut und soziale Ausgrenzung nicht etwa als Folge verfehlter Politik zu beklagen, sondern werden zielsicher als Mittel der Herrschaftssicherung eingesetzt. Übrigens auch im Sport. Armut hält viele Menschen nicht nur deshalb vom Sporttreiben und -konsumieren ab, weil sie gar kein Geld für Vereinsbeiträge, Fitneßstudios, Wellnessoasen oder Eventtempel haben oder mehreren Billiglohnjobs am Tag nachgehen müssen, sondern weil sie ihnen als soziales Stigma auf der Stirn geschrieben steht. Was Duplitzer vielleicht meint, wenn sie davon spricht, daß man in Sportvereinen "auch so ein bißchen gebrandmarkt ist, wenn man seinen Job verloren hat, man paßt da nicht rein, man ist nicht en vogue", läßt sich auch deutlicher sagen: Die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich zieht sich längst durch alle Sozial- und Kulturträger. Wer nichts hat, der kann seine Kinder auch nicht in Sportvereine schicken, weil bald auffallen würde, daß die Eltern ihren Sprößlingen nicht einmal Turnschuhe kaufen können. Ein Sportverein kann keinen effektiven "Zusammenhalt", von dem Duplitzer träumt, stiften, wenn die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür fehlen. Die Stimulierung von "Selbstwertgefühlen", "Motivation" oder "Perspektiven" in Sportvereinen mag hilfreich sein, einige Menschen vor dem totalen sozialen Absturz zu bewahren, ändert aber nichts an den entwürdigenden Bedingungen von Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Ein-Euro-Jobs oder Untertariflöhnen. Kurzum: Der "soziale Kitt" des Sports, von dem die politischen Eliten immer zu sprechen pflegen, ist so porös und rissig geworden wie das im Grundgesetz verankerte Sozialstaatsprinzip, von dem sich die Herrschenden auch immer mehr verabschieden. Inzwischen wird der Sport immer ungenierter als sozialverträgliches Auffanglager und Beschäftigungsprogramm für die "Überflüssigen" ins Gespräch gebracht. Bereits im März hatte sich SPD-Vize Hannelore Kraft für die Schaffung von gemeinnützigen Jobs für Langzeitarbeitslose ausgesprochen. "Diese Menschen könnten zum Beispiel in Altersheimen Senioren Bücher vorlesen, in Sportvereinen helfen oder Straßen sauber halten", sagte sie dem Spiegel. "Wir müssen endlich ehrlich sein. Rund ein Viertel unserer Langzeitarbeitslosen wird nie mehr einen regulären Job finden."

Mit dieser deterministischen Einschätzung liegt die SPD-Dame gar nicht so weit weg von "Klartext-Politiker" (Bild-Zeitung) Thilo Sarrazin, der in seinem neuen Buch ebenfalls von einer "weitgehend funktions- und arbeitslosen Unterklasse" spricht. Wohin also mit dem Heer der Verdammten, denen nach neofeudaler Herrschaftslogik nur noch gemeinnützige Arbeit abzupressen ist, damit die Gesellschaft sie mitträgt? Etwa ehrenamtlich "mit den Kindern Fußball spielen", wie es kürzlich Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, für Hartz-IV-Empfänger anregte?

Untersuchungen im deutschen Sport hätten festgestellt, so der im Deutschlandfunk für Sportpolitik und DDR-Verteufelung zuständige Herbert Fischer-Solms, "daß die, die ihre Arbeitsstelle verloren haben, eben nicht die freie Zeit nutzen, um dann im Sport, im Verein tätig zu werden bzw. dort Sport zu treiben, sondern die ducken sich weg". Die Frage, ob das auch ihre Erfahrung sei, hatte Duplitzer zum Glück nicht im Sinne des Interviewers beantwortet. Denn der, so könnte man heraushören, wollte eigentlich bestätigt bekommen, daß die "Wegducker" sich weigerten, ihre Zeit mit Sport zu verbringen, um sich - ja, was wohl - körperlich und geistig fit für ihr langzeitverwaltetes Armutsdasein zu halten. Indes, solange Sport nur diszipliniert und nicht Möglichkeiten eröffnet, politisch gegen den Strom zu schwimmen, hat er ganz im Sinne der Ausgrenzer und Elendsverwalter lediglich Betäubungsfunktion.

Anmerkung:

[1] http://www.erwerbslosenforum.de./nachrichten/20_202010200620_ 395_1.htm "Aufstand. Jetzt.". 20. Juni 2010. Bundesweiter Aufruf: "Die Verursacher und Profiteure der Krise blockieren"

13. September 2010