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KOMMENTAR/183: Treibjagd im Hühnerstall (SB)


Claudia Pechstein - erst Versuchskaninchen für den indirekten Dopingnachweis, dann für ein Anti-Doping-Gesetz



Kann man der Spitzensportlerin Claudia Pechstein auch anders gerecht werden als mit Polemik, Bezichtigung und Verteufelung auf der einen und Ergebenheit, Fananbetung und Glorifizierung auf der anderen Seite? Bei vielen Journalisten, die die Eisschnelläuferin für eine nervensägende Betrügerin und zickende Egomanin halten, scheint das Pendel immer mehr in Richtung Hackmesser-Polemik auszuschlagen. Das könnte man durchaus auch als Bankrotterklärung vor den Fragwürdigkeiten und Irrtümern der Dopingbekämpfung begreifen, die sich nicht nur vor dem Hintergrund der "Causa Pechstein" himmelhoch auftürmen.

Daß die FAZ einen offenen Brief von Claudia Pechstein, in dem sie mit unmißverständlichen Worten begründet, warum sie die "überraschende Einladung" der SPD zu ihrem Festakt "150 Jahre Sozialdemokratie" am 23. Mai in Leipzig ablehnt, mit einer Glosse quittierte, die in Anspielung an nordkoreanische Finsterlinge den Titel "Kim Il Claudia" [1] trägt, ist verständlich, gehört diese Zeitung doch zu den treibenden publizistischen Kräften, die das Antidopingregime und seine sportforensischen Hexenjagden und juristischen Schlachtbänke zu rechtfertigen pflegen. Um von den Teufeleien der vorherrschenden Dopingbekämpfung abzulenken, malt man halt einen noch schwärzeren Teufel an die Wand, ungeachtet des frappanten Widerspruchs, daß die mehrfache Olympiasiegerin inzwischen mit ähnlich erhöhten Blutwerten, wie sie zu einem zweijährigen Berufsverbot geführt haben, wieder über das Eis flitzt. Daß sich Claudia Pechstein nicht nur aus diesem, sondern auch aus einer Fülle anderer valider Gründe als Opfer eines Wissenschafts- und Justizirrtums begreift und mit Vehemenz um ihre Rehabilitierung sowie materielle Entschädigung kämpft (zur Zeit ist eine millionenschwere Schadensersatzklage beim Landgericht München gegen den Eisschnellauf-Weltverband ISU und die Deutsche Eisschnellauf-Gemeinschaft DESG anhängig), sollte nicht verwundern. Ebenso nicht, daß sie aufgrund ihres wehrhaften Verhaltens nahezu sämtlichen Sittenwächtern des Sports auf die Füße tritt, die die Instrumente der Dopingbekämpfung schärfen und sich auf diesem Felde gesellschaftlicher Widerspruchsregulation als kompromißlose Streiter für herrschaftsförmige Wahrheiten profilieren möchten.

Auch ist nachvollziehbar, daß der Deutschlandfunk in Anbetracht all der "Dauerkrachschläger und ewigen Trommelrührer und narzißtischen Nudeln" Claudia Pechstein als "Gerechtigkeitsfanatikerin und Sport-Jeanne d'Arc" glossiert [2], hat dieser Sender doch auch keine Mühen gescheut, den fanatisierten Antidopingkämpfern eine Plattform zu bieten, den Kalten Krieg gegen den bösen Osten mit den Mitteln heuchlerischer Dopingmoral weiterzufechten. Als die Delegitimierung der DDR angesagt war, nutzten viele Journalisten und Historiker diesen politischen Freifahrtschein, um die Verwerfungen und Dilemmata des Leistungs- und Wettkampfsports, wie sie unabhängig von der Gesellschaftsordnung überall auf der Welt vorherrschen, einseitig gegen die "SED-Diktatur" zu kehren. Zwar zeigen neuerliche Untersuchungen, "dass auch in der BRD in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren in einigen Sportarten nahezu flächendeckend gedopt wurde" (Prof. Helmut Digel, Ehrenpräsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes) [3], doch die Dopinghatz ist berufsständisch und institutionell inzwischen so gut etabliert, daß die bislang noch nicht vollständig transparenten Berichte über Dopingstrukturen in Westdeutschland, vor allem aber die Namen der Beteiligten, irgendwann sogar enthüllt werden könnten, ohne daß das deutsche Spitzensportsystem in toto Schaden nähme. Daß die junge Welt, die zu den wenigen Tageszeitungen gehörte, die auch einmal eine Lanze für Claudia Pechstein brachen, im eigenen Blatt die giftige Glosse von Jürgen Roth im Deutschlandfunk nachdruckte, ist allerdings ein Armutszeugnis, das den Notstand linker Sportkritik nicht besser dokumentieren könnte.

Daß die gebürtige Ostberlinerin Claudia Pechstein in die Mühlen einer politischen (Sport)Justiz und den Interessen des Hochleistungssports zuarbeitenden Doping-Analytik geriet, gilt heute, fast vier Jahre nach der Sperre durch die ISU und dem Schuldspruch des Internationalen Sportgerichtshofes CAS, als nahezu unbestritten und läßt sich auch anhand der Aussagen zahlreicher Beteiligter und Beobachter ihres vermeintlichen Dopingfalls nachvollziehen.

Erinnern wir uns: Um den indirekten Dopingnachweis auf Indizienbasis und das damit verbundene individuelle Blutpaß-Programm der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) wissenschaftlich und sportrechtlich durchzusetzen, kam die "Causa Pechstein" den Antidopingjägern wie gerufen. Niemals zuvor in der Geschichte des Sports war ein Athlet aufgrund auffälliger Blutwerte mit einer zweijährigen Sperre belegt worden. Bereits im Vorfeld hatte der damalige Vorstand der Nationalen Anti-Doping-Agentur Armin Baumert auf der NADA-Jahrespressekonferenz Stimmung gemacht: "Wir müssten mal einen richtigen Volltreffer landen. Dann würde sich zeigen, dass das, was wir tun, auch wirksam ist." [4] Der neue WADA-Code 2009 bot den Sportverbänden die Möglichkeit, Athleten auf der Grundlage bloßer Indizien und ohne das Auffinden eines konkreten Stoffes zu sanktionieren. Auch Göttrik Wewer, damaliger Geschäftsführer der NADA, die schon frühzeitig in den Pechstein-Fall involviert war, erklärte: "Wir bereiten das vor. Der erste Indizienprozess darf nicht in die Hose gehen." [4]

Gut drei Monate, bevor der CAS im November 2009 das Urteil der Eisschnellauf-Union bestätigte, bezeichnete IOC-Präsident Jacques Rogge den Fall Pechstein als "Lackmustest, ob das Langzeitprofil von der internationalen wissenschaftlichen Gemeinde bestätigt wird". [5] Zu den Hauptgutachtern, auf die sich die ISU zeitweilig stützte, gehörten der Schweizer Professor Pierre-Edouard Sottas, Leiter des WADA-Labors in Lausanne, und der italienische Wissenschaftler Giuseppe Banfi - beides ausgesprochene Propagandisten des neuen Indiziennachweises bzw. Blutpasses.

Auch DOSB-Präsident Dr. Thomas Bach, der aufgrund verschiedenster juristischer Ämter bei CAS und IOC zu den maßgeblichen Strippenziehern der internationalen Sportrechtspolitik gehört, erklärte vor der CAS-Entscheidung, daß er sich nicht vorstellen könne, daß das Urteil den indirekten Beweis grundsätzlich verwerfen könne. Andernfalls wäre dies "ein herber Rückschlag in unserem Kampf gegen Doping und deshalb für die olympische Bewegung schwer hinnehmbar". [6]

Wohlgemerkt, der CAS ist eine zu großen Teilen vom IOC finanzierte Konstruktion. Viele Richter tragen den Stallgeruch der Sportverbände, zum Teil sind sie sogar als Sportfunktionäre aktiv. Als dann die drei CAS-Richter Massimo Coccia, Stephan Netzle und Michele Bernasconi gegen Pechstein entschieden, war die Erleichterung in Sport und Politik förmlich mit den Händen zu greifen. "Das Urteil des internationalen Sportgerichts CAS im Fall Pechstein ist ein Durchbruch im Kampf gegen Doping im Sport. Blutprofile werden nun auch als Belege für die Manipulation durch Doping akzeptiert. Das war überfällig. Damit stärkt das CAS den Kampf gegen Doping erheblich. Schwer erträglich ist die Reaktion von Claudia Pechstein, die sich mal zum Pechvogel, mal zum Opfer und zuletzt als Hüterin von Rechtsstaatsprinzipien hochstilisiert", erklärten die Sportpolitiker Winfried Hermann und Viola von Cramon von den Grünen [7]. Auch die neue Bundestagsportausschuß-Vorsitzende der SPD, Dagmar Freitag, zugleich Vizepräsidentin des Leichtathletikverbandes, begrüßte ungeachtet der ganzen Fragwürdigkeiten das Urteil: "Für mich persönlich bedeutet das, daß dieses Urteil schon ein Schritt nach vorne ist auf dem Weg zu einer Anerkennung von indirekten Nachweisverfahren. Das wird den Anti-Doping-Kampf weiterbringen." [8]

Der Multifunktionär Thomas Bach sah nach der CAS-Entscheidung "den Weg frei für weitere Verfahren" nach dem Blutpaßprogramm der WADA und forderte die Sportverbände auf, bei entsprechenden Testwerten von Athleten "nunmehr umgehend Sanktionen zu verhängen". Zugleich verlangte er von Claudia Pechstein, ihre "Hintermänner" preiszugeben. Denn "Doping mit dieser wissenschaftlichen Expertise", rückte der Wirtschaftsanwalt das Umfeld von Claudia Pechstein ins quasikriminelle Licht, "kann von einer Sportlerin nicht ohne Hilfe von Fachleuten bewerkstelligt worden sein". [7]

Für Claudia Pechstein, die stets ihre Unschuld beteuerte, brach eine Welt zusammen. Selbst die späteren Gutachten von anerkannten Blutexperten, die ihre erhöhten Retikulozytenwerte auf vom Vater vererbte Defekte der roten Blutzellen zurückführten, was in Deutschland auch für etwa 320.000 andere Menschen der Fall sein soll, konnte sie nicht vor dem Schuldstempel retten. Knapp eine Woche nach dem umstrittenen CAS-Urteil veränderte die WADA kurzerhand die Richtlinien der "Athlete Biological Passports". Das Programm sieht jetzt neun statt wie im Pechstein-Fall einen Blutparameter vor, die zu einem indirekten Nachweis von Manipulationen herangezogen werden. Nach der neuen Regelung wäre Pechstein höchstwahrscheinlich freigesprochen worden.

Die Eisschnelläuferin, die sich stets als Versuchskaninchen des indirekten Dopingnachweises bezeichnet hatte, ist allerdings in einem viel weitreichenderen Sinne zum Spielball fremder Interessen geworden, als sie es vermutlich selbst wahrhaben will. Selbst ihr hämatologisches Unterstützerteam hatte im Sinn, den indirekten Dopingnachweis zu stärken. "Ich fände es sehr schade, wenn die Bestrebung der WADA, den Blutpaß einzuführen für den indirekten Dopingnachweis, durch dieses unselige Verfahren Pechstein a priori in Mißkredit geriete", erklärte Prof. Wolfgang Jelkmann, Direktor des Instituts für Physiologie der Uni Lübeck, auf einer Aufsehen erregenden Pressekonferenz am 15. März 2010, die zugunsten Pechsteins anberaumt worden war. Jelkmann, der im Fall Pechstein von einer Hexenverfolgung sprach, steht der WADA, für die er auch als Gutachter tätig war, keineswegs ablehnend gegenüber. Auch Gerhard Ehninger nicht, Professor für Innere Medizin an der Technischen Universität Dresden und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO), die sich für Pechstein einsetzte. In der FAZ schrieb Ehninger: "Die Hämatologen sind auf der Seite der Doping-Jäger. Wir helfen mit, die Methoden zu verbessern und eine faire Behandlung von Merkmalsträgern zu gewährleisten. Unsere Kritik möge aber auch helfen, von unschuldigen Opfern dieser Jagd abzulassen und ihnen Gerechtigkeit zukommen zu lassen." [9]

Selbst die Rechtsbeistände von Claudia Pechstein sind in das Antidopingregime involviert. So wies der Anwalt Siegfried Fröhlich auf seinem Sportrechtsblog darauf hin, daß die beiden anwaltlichen Vertreter von Claudia Pechstein als Schiedsrichter dem Deutschen Sportschiedsgericht (DIS) zur Verfügung stehen - eine privatrechtliche Schiedsstelle, wohin die NADA die Durchführung von Doping-Strafverfahren verweist. Mehr noch: "Einer der beiden Rechtsanwälte, die Pechstein vor dem CAS vertreten haben, ist dort sogar selbst Richter und Mitverfasser des WADA-Codes von 2009." [10]

Der WADA-Code, der das keinem Wirklichkeitstest standhaltende Sportideal vom fairen Wettbewerb mit den Mitteln forcierter Kontrolle, Überwachung und Sanktion schützen soll, hat sich längst als Chiffre überwachungsstaatlicher Ermächtigung erwiesen. Aktuell strebt die WADA die Ausweitung von Berufsverboten auf vier Jahre an, eine schärfere Ahndung von Meldepflichtversäumnissen sowie die Beseitigung von Datenschutzbestimmungen und rechtlichen Hürden beim Informationsaustausch zwischen staatlichen Behörden und Anti-Doping-Organisationen, etc. p.p. Die internationale Dopingpolizei versucht zwecks Ausweitung ihrer Ermittlungskompetenzen sämtliche Trennungsgebote zu überwinden und so viele Institutionen und Behörden wie möglich als "Partner im Antidopingkampf" in das globale Kontroll- und Verfolgungsnetz einzubinden. Nur wer sich als Organisation oder Person an die Spitze der null-toleranten Antidopingpolitik setzt und nach immer schärferen Maßnahmen verlangt, erhält zum Lohn gesellschaftliche Glaubwürdigkeit.

Zu den ohnmächtig Getriebenen, die ihr Heil in der Anpassung an die Ratio des Antidopingkampfes suchen, gehört auch Claudia Pechstein. Die Polizeihauptmeisterin ist keine Anwältin der Schwachen und Ohnmächtigen und mit Sicherheit keine Freiheitskämpferin, die die Funktionssklaven des Sports von den Ketten ihrer Fremdverfügung befreien wollte. Im Gegenteil, als ehrgeizige Vollblutsportlerin, die den Leistungsdarwinismus mit der Muttermilch eingesogen hat, schlägt sie mit ähnlich gnadenloser Härte und Selbstverständlichkeit ihre Konkurrentinnen aus dem Feld, wie es die Trophäensammler der Dopinghatz mit ihr gemacht haben. Allerdings hätte sie als Spitzensportlerin auch keine Chance, sich in grundsätzliche Opposition zum Antidopingkampf zu begeben. Hätte Pechstein dies getan, wäre sie gar nicht erst an den öffentlichen Schandpfahl gebunden, sondern von den meinungsmachenden Medien gleich zum Frühstück verspeist worden.

Stets hat sie den gerechten, die Unschuldigen schützenden Antidopingkampf gefordert. Sie hat die Strafanzeige gegen Unbekannt, die von der DESG und der NADA gestellt wurde, um die "Hintermänner" in ihrem Fall zu ermitteln, begrüßt und damit letztlich der Bezichtigungsschiene von Bach, Vesper und Co. Vorschub geleistet. Die Polizei hat ihr Haus durchsucht und ihr Konto gecheckt, ihre Telefone wurden abgehört, die E-Mails mitgelesen und Privatunterlagen durchleuchtet. Wie keine zweite Sportlerin in Deutschland hat sie ihre biologischen Daten öffentlich gemacht und sich zu nahezu jeder Form der Kontrolle bereiterklärt. Selbst einer Quarantäne zu Testzwecken stimmte sie zu. Fast jedes Detail ihrer Privat- und Intimsphäre geriet in die Öffentlichkeit, mitunter nicht zu ihrem Vorteil. Als sie dann nach ihrer Sperre wieder aufs Eis zurückkehrte, wurde sie von Dopingkontrolleuren regelrecht belagert, die ihr in dichter Folge Urinproben entnahmen und Blut abzapften. "Fünf Kontrollen innerhalb von acht Tagen sind weltweit sicherlich einmalig", berichtete Pechstein im März diesen Jahres. Mehr als 460 Kontrollen ließ sie in ihrer Karriere über sich ergehen, davon über hundert seit Februar 2009. Hunderte von Spritzen in ihren Venen, Hunderte Mal urinieren vor den Augen fremder Frauen, schrieb sie. "Und das alles, während andere Spitzenathleten gerade mal zwei oder dreimal im Jahr kontrolliert werden." All das wäre sie bereit zu ertragen, wenn ähnlich häufig auch bei anderen Athleten getestet würde, pochte sie auf das verfassungsmäßige Grundrecht auf Gleichbehandlung. [11]

Auch mit diesem Argument rennt sie offene Türen bei den Dopingjägern ein, die noch viel höhere Schlagzahlen bei Kontrollen für alle Athleten gleichermaßen fordern. Daß die flächendeckende Einführung von verdachtsunabhängigen Blutentnahmen, wie sie das Blutpaß-Programm der WADA voraussetzt, nach deutschem Recht Körperverletzungen darstellen, scheint die Dopinganalytiker genausowenig zu scheren wie die wundgestochene Vene auf Pechsteins Unterarm.

Die auf Fairneß, Gerechtigkeit und Grundrechten beharrende Eisschnelläuferin hält ihren Anklägern so direkt den Spiegel ihrer eigenen Ethik vor, daß ihre Peiniger immer häufiger auf nackte Polemik und private Vorkommnisse in ihrem Umfeld ausweichen müssen, um sich nicht mit den asozialen und jedwede Verhältnismäßigkeit übersteigenden Zwangsläufigkeiten der Antidopingjagd konfrontieren zu müssen. Um so mehr, als Claudia Pechstein sich jetzt auch noch zu einer glühenden Fürsprecherin eines Anti-Doping-Gesetzes aufgeschwungen hat, wie es die rot-grüne Landesregierung in Baden-Württemberg fordert, die Doping zur Straftat machen möchte. "Die Abschreckung im Sport wäre sicherlich ungleich größer, wenn dem dopenden Betrüger Gefängnis drohen würde. Zugleich wäre dann ein solches Fehlurteil, wie es gegen mich vor drei Jahren gesprochen wurde, nicht mehr möglich. Denn im Gegensatz zum Sportrecht wird im Strafrecht "in dubio pro reo" - also im Zweifel für den Angeklagten - entschieden", schreibt Pechstein auf ihrer Homepage [12]. Im Duktus ihrer heftigsten KritikerInnen aus dem rot-grünen Milieu, die die Athletin frühzeitig als Betrügerin abgestempelt und als lästiges PR-Übel desavouiert hatten, zieht Pechstein gegen Dopingsünder blank, als ob sie nicht selbst auf dem Scheiterhaufen einer inkriminierten Sportlerexistenz stehen würde.

Das Versuchskaninchen, das geopfert wurde, um den so zweifelhaften Indiziennachweis wasserdicht zu machen, will oder kann sich offenbar nicht vorstellen, daß auch unter den Rechtssätzen von Strafgerichten (z.B. in dubio pro reo) Fehlurteile gesprochen werden. Vielleicht nicht bei ihr, dann aber bei anderen. Oder daß Sport- und Strafrecht komplementär wirken, was bedeutet, daß die systemimmanenten Widersprüche des Spitzensports, dessen konstitutive Bedingungen, Leistungszwänge und finanzielle Anreizsysteme geradezu zum Doping auffordern, durch spektakuläre, womöglich sogar widerläufige oder schuldvermehrende Sport- und Strafrechtsverfahren noch mehr verschleiert werden. Auch ist zu fragen, ob der Staat, wenn er sich auf den kulturell akzeptierten Narrenwiesen des Sports mit allen Mitteln der Kriminalitätsbekämpfung Geltung verschaffen will, nicht permanent seine Grundrechte einschränkenden Überwachungs- und Zugriffsbefugnisse ausweiten muß, um bessere Ermittlungserfolge zu erzielen. Wo bleiben dann die Grundrechte, die demokratietheoretisch als Abwehrrechte der Bürger gegen die Allmacht des Staates und seiner Institutionen konzipiert wurden, wenn sich dieser Staat doch vollständig handgemein gemacht hat mit den Irrungen und Wirrungen der Sportunterhaltung und ihrer Lobbyisten in Politik und Wirtschaft? Das wäre doch erst einmal fundamental aufzuklären, bevor man zur Strafrechtsaxt greift!

Glaubt Claudia Pechstein denn ernstlich, daß die SPD, der sie in ihrem offenen Brief kollektive Ignoranz und die Mißachtung von Grund- und Menschenrechten in ihrem Fall vorwirft, nicht aus ähnlich gelagerten Gründen des politischen Opportunismus, wie sie sich zu Lasten der Sportlerin auswirkten, ein Anti-Doping-Gesetz anstrebt? Warum sollte die SPD in Sachen Sportlerkriminalisierung plötzlich den Klarblick haben, während sie ansonsten ins populistische Horn der Dopingjäger stößt und über Menschen wie Pechstein den Stab bricht?

Käme das Anti-Doping-Gesetz, würde das, was Pechstein im Zuge der Ermittlungen gegen Unbekannt widerfahren ist, für alle positiv getesteten Sportler zur Standardprozedur werden. Und wer sagt denn, daß nach positiven Befunden nicht irgendwann auch schwankende Blutwerte, Versäumnisse bei der täglich einstündigen Kontrollhaft, Meldepflichtverstöße oder andere mit Dopingbetrug gleichgesetzte Abweichungen von Athleten zu Polizeimaßnahmen führen - wo doch schon jetzt entgegen sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen die Dopingproblematik auf den unzureichenden Einsatz kriminalistischer Methoden und Praktiken verkürzt wird?

Laut rot-grünem Gesetzentwurf, der Doping mit Wirtschaftskriminalität gleichsetzt, bräuchte es künftig keinen Schadensnachweis mehr zu geben. "Die Verzerrung des Wettbewerbs würde reichen", sagte Baden-Württembergs Justizminister Rainer Stickelberger (SPD). [13]

Die Problematik der Wettbewerbsverzerrung im Sportgewerbe wird in der Regel irreführend aufgezäumt. Die Frage der Rechtsexperten sollte nicht lauten, was, sondern was alles nicht Wettbewerbsverzerrung im Profisport darstellt. Dann kämen sie dem Wesen des "fairen" Sports schon viel näher und würden die Hände von seiner Verstrafrechtlichung lassen.

Jüngsten Meldungen zufolge fordern Dagmar Freitag und Martin Gerster, die "beiden wortführenden Sportausschussmitglieder" der SPD, die sich laut Pechstein bis heute weigerten, eine offene, ehrliche und sachgerechte Diskussion in ihrer Causa zu führen, die Kriminalisierung von organisierten Wettkämpfern, die sich im Besitz geringer Mengen bestimmter Dopingmittel befinden. Der neue SPD-Vorstoß geht noch über die Gesetzesinitiative aus Baden-Württemberg hinaus. Nach dem Arzneimittelgesetz ist der Besitz geringer Mengen nicht strafbar. Durch die volle Besitzstrafbarkeit wäre die Schwelle zum Anfangsverdacht so tief gelegt, daß der gesamte organisierte Sport (inklusive des sozialen Umfeldes von Athleten) zum Exerzierfeld polizeilicher Lausch-, Observierungs- und Durchsuchungsmaßnahmen verwandelt würde. Dieser Schritt gäbe Verdächtigung und Willkür vollends die Sporen.

Fußnoten:

[1] http://www.faz.net/aktuell/sport/mehr-sport/glosse-kim-il-claudia-12171286.html. 03.05.2013.

[2] Glosse: 'Ihr Kampf'. Von Jürgen Roth. 04.05.2013.
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/sport/2096847/

[3] http://www.faz.net/aktuell/sport/sportpolitik/helmut-digel-im-gespraech-alle-wussten-vom-betrug-im-westen-11966659.html. 21.11.2012.

[4] http://www.spiegel.de/sport/wintersport/dopingsperre-gegen-pechstein-streit-bis-aufs-blut-a-634337.html. 04.07.2009.

[5] http://www.focus.de/sport/wintersport/eisschnelllauf-doping-experte-entspannt-vor-pechsteins-verfahren_aid_447058.html. 22.10.2009.

[6] http://www.welt.de/sport/article5317622/Bach-sieht-indirekten-Dopingbeweis-nicht-in-Gefahr.html. 24.11.2009.

[7] http://www.welt.de/sport/article5326341/Joachim-Franke-Ein-absolutes-Fehlurteil.html. 25.11.2009.

[8] Deutschlandfunk, Sport am Samstag, 28.11.2009.

[9] http://www.faz.net/aktuell/sport/wintersport/der-fall-pechstein-falsches-beuteschema-1595020.html. 24.03.2010.

[10] http://sportrechtsblog.de/2012/04/02/wer-scharia-kann-kann-auch-sport/. 02.04.2012.

[11] http://www.claudia-pechstein.de/News/news.php?news_ID=72. 05.03.2013.

[12] "Neue Gesetzesinitiative ist der richtige Weg: Denn Betrug ist Betrug - auch im Sport!" 15.04.2013
http://www.claudia-pechstein.de/News/news.php?news_ID=76

[13] http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/1438985. 09.04.2013.

17. Mai 2013