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KOMMENTAR/184: Kanalverwandtschaft (SB)




Keine Nazivergleiche vor dem Champions League-Finale zwischen Bayern München und BVB Dortmund in London

Nein, die britische Presse befürchtet keinen "German Blitzkrieg" im Mutterland des Fußballs. Auch die "Kavallerie" wird nicht anrücken, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel am 25. Mai das Londoner Wembley-Stadion besuchen und anläßlich des Champions League-Finales zwischen Bayern München und BVB Dortmund zusammen mit den Fußballpräsidenten Joseph S. Blatter (Fifa) und Michel Platini (Uefa) auf der VIP-Tribüne Platz nehmen wird. "Keine Anspielung auf Hitler, Krieg und Einmarsch, kein Schlagabtausch, nirgends. Wie enttäuschend, wie kurios!", frotzelt der Bonner Generalanzeiger [1]. Statt dessen spricht die britische Presse voller Anerkennung vom deutschen Fußball. "Leidenschaft statt Geld: Was wir vom deutschen Fußball lernen können", titelt das Boulevardblatt The Sun. "Warum können wir nicht auch so sein wie Deutschland?", fragt The New Statesman. Nach Meinung des linksliberalen Wochenblattes verkörpert die Bundesliga mit ihrer 50+1-Regel, die verhindert, daß anders als in UK ausländische Investoren die Fußballvereine komplett übernehmen können, den "Mikrokosmos deutscher Wirtschaftsprinzipien" - ein System von Institutionen, das die "Partnerschaft zwischen Kapital und Arbeit, passende Berufsausbildung und zielgerichtete regionale Investitionen" fördere [2].

Daß die britische Presse mit Engelszungen vom deutschen Fußballwunder spricht, liegt keineswegs nur daran, daß in der englischen Premier League Oligarchen wie der Russe Roman Abramowitsch (FC Chelsea), Milliardäre wie der US-Amerikaner Malcom Glazer (Manchester United) oder Scheichs aus Abu Dhabi (Manchester City) die Geschicke auch "Vereine" genannter Fußballunternehmen bestimmen. Wer sich das Firmenkonglomerat des FC Bayern vor Augen hält (Telekom, Lufthansa, Adidas, Paulaner, Audi, Imtech, Hypo Vereinsbank, Coca-Cola, Samsung, Siemens, Burger King, Continental etc.) oder das des BVB Dortmund (Puma, Opel, Sparda-Bank, Signal Iduna, Evonik Industries, Coca-Cola, Rewe, McDonalds, Turkish Airlines, MAN etc.) wird wohl kaum annehmen, daß in Deutschland "nur" Fußball gespielt wird; mögen die Millionensummen, die die Bundesliga-Sponsoren in die Gehälter ihrer Fußballsöldner und -legionäre investieren, auch weit unter denen der Premier League liegen. Um überhaupt Wahrnehmungsunterschiede zu generieren und die Fans zu polarisieren, entblödete sich BVB-Trainer Jürgen Klopp nicht, seinen börsennotierten Klub in einem "Guardian"-Interview zum "Arbeiterverein" zu stilisieren.

Zu kurz gegriffen scheint ebenso die These, daß man auf der Insel deshalb neidvoll auf die Bundesliga blickt, weil es dort noch Stehplätze gibt und die Fans auf den Rängen voller Leidenschaft "echte" Emotionen ausleben können. Auch daß die Ticketpreise in deutschen Stadien moderater sind und dort sogar Bier getrunken werden kann, wie bewundernd hervorgehoben wird, trifft den Kern nicht. Daß der Deutsche Fußballbund (DFB), der mit knapp 7 Millionen Mitgliedern den größten Sportfachverband der Welt repräsentiert, im Zusammenspiel mit der Liga kräftig in seine Talenteförderung und Selektionssysteme investieren kann, ist ebenfalls nicht überraschend.

Nein, der eigentliche Grund, warum Angela Merkel nicht damit rechnen muß, auf der Fahrt vom Flughafen zum Wembley-Stadion auf Protestplakate zu stoßen, die sie mit Hitlerbärtchen zeigen, wie dies noch während ihrer Stippvisiten nach Athen oder Nikosia der Fall war, liegt in der Bewunderung der neoliberalen englischen Presse, daß die Deutschen das Schröder-Blair-Papier viel konsequenter umgesetzt haben als die Briten selbst.

Das visionäre Modernisierungskonzept, das die europäische Sozialdemokratie den neoliberalen Paradigmen in Wirtschaft, Wissenschaft und Medien unterwerfen sollte, bildete 1999 den Auftakt für die "Agenda 2010", wie sie die rot-grüne Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder vier Jahre später ausrief. Sie hatte zur Folge, daß es in Deutschland zu Lasten breiter Bevölkerungsschichten zu Lohnkürzungen, unsicheren Arbeitsplätzen, Arbeitsarmut, zu einer schlechteren Gesundheitsversorgung, Rentenkürzungen, längerer Lebensarbeitszeit, kürzeren Arbeitslosengeldbezügen sowie Hartz-Gesetzen kam, die die davon Betroffenen in fast aussichtslose Armutsfallen unter schikanösen Verhältnissen zwang. Daß Deutschland die Finanz- und Eurokrise "besser" als viele andere Länder insbesondere in Süd- und Osteuropa weggesteckt hat, liegt unter anderem daran, daß die Agenda 2010 einen riesigen Niedriglohnsektor geschaffen und das Lohnniveau, auch zu Lasten der Mittelschicht, massiv gesenkt hat. Geringere Arbeitskosten und Steuervorteile für die Unternehmen sorgten dafür, daß das neoliberale Establisment immer reicher und die Armen immer ärmer wurden.

Der neoliberale Strukturwandel, durch den sich Deutschland im Zuge der Agenda 2010 einige Standort- und Wettbewerbsvorteile innerhalb Europas verschaffen konnte, steht auch Großbritannien bevor. Wenn The New Statesman die "Partnerschaft zwischen Arbeit und Kapital" in Deutschland lobt und The Sun, die zusammen mit der rechtspopulistischen Presse Arbeitslose gern auch als faule Schmarotzer niedermacht, von "Leidenschaft statt Geld" spricht, dann ist das wörtlich zu nehmen.

In England hatte es keine solch drastische Kürzungspolitik gegeben wie unter Schröder mit der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen. Warum also die königlichen Untertanen mit unangebrachten Nazivergleichen kopfscheu machen, wo doch die britische Regierung aus Konservativen und Liberaldemokraten nach dem Vorbild Deutschlands den Staat verschlanken und die Sozialleistungen privatisieren will? Die Sozialhilfereformen, die schon unter der Labour-Regierung von Tony Blair ihren Anfang nahmen, sollen unter den Tories um David Cameron weiter vorangetrieben werden. Ähnlich wie in Deutschland sollen Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt werden, um "Arbeitswillige" zu fördern. Zudem versucht die Regierung, Rentenkürzungen durchzubringen, indem höhere Beiträge gezahlt werden und zwei oder drei Jahre länger gearbeitet wird. Auch Unterstützungsleistungen für Behinderte und Kranke, denen man pauschal Sozialmißbrauch unterstellt, werden rücksichtslos zusammengestrichen. Selbst die Olympischen und Paralympischen Spiele in London hatte Premier David Cameron genutzt, um dem freudetrunkenen Volk das neoliberale Wiegenlied von der Selbstertüchtigung und Eigenverantwortung der Menschen vorzusingen.

Um die euroskeptischen bis -feindlichen Stimmen in Großbritannien im Zaum zu halten, darf Deutschland nicht als Einpeitscher eines erbarmungslosen Austeritätsregimes in Europa in Erscheinung treten, sondern allenfalls als klug investierende Wirtschaftsmacht, die ihren Prinzipien, auch auf'm Platz, treu bleibt. Den Rest besorgt Bayern-Präsident Franz Beckenbauer, Partner und Botschafter der "Russian Gas Society". Der hochbezahlte Lobbyist nutzt das Champions League-Finale in London, um das "Sozialprojekt" seines Geldgebers Gazprom, "Football for Friendship", vorzustellen. Hunderte von Kindern und Jugendlichen sollen für diese emotional und normativ belegte Social Washing-Kampagne zum Einsatz kommen. "Mir gefällt die Idee. Dass ein großer Konzern wie Gazprom nicht nur wirtschaftlich denkt und Vereine sponsert, sondern auch für soziale Ideen Geld einsetzt", sprach der Kaiser [3], und Fußball und Wirtschaft sind wieder einmal rund.

Fußnoten:

[1] http://www.general-anzeiger-bonn.de/finale-der-champions-league/Die-Briten-blicken-mit-Bewunderung-auf-Deutschland-article1053264.html. 21.05.2013.

[2] http://www.newstatesman.com/2013/05/leader-german-model. 02.05.2013.

[3] http://www.general-anzeiger-bonn.de/finale-der-champions-league/BVB-gewinnt-nur-wenn-der-FC-Bayern-einen-schlechten-Tag-hat-article1053623.html. 21.05.2013.

24. Mai 2013